Öffne mir das Tor zur Welt. Helen Waite

Öffne mir das Tor zur Welt - Helen Waite


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Geschöpf gewesen, das Perkins je aufgenommen hatte. Die einzige Kleidung, die sie besaß, waren zwei groben Hemden und zwei Baumwollkleider.

      «Annie!» Ungeduldig riefen die Mädchen nach ihr. «Annie!» Annie tat so, als ob sie nichts hörte. Diesen Augenblick konnte sie mit niemandem teilen.

      Sie ließ ihre Erinnerungen weiterwandern. Wie bitter war ihr erster Tag in der Schule gewesen! Die Lehrerin, der sie zuerst begegnete, fragte sie nach ihrem Namen und Alter. Das konnte sie gerade noch beantworten, aber als die Lehrerin sie aufforderte, ein Wort zu buchstabieren, vermochte sie nur zu murmeln: «Ich kann nicht, ich kann überhaupt nicht buchstabieren!»

      «Vierzehn Jahre alt – und kann nicht buchstabieren!» So etwas war der Lehrerin noch nie vorgekommen. Das sprach sie auch aus, und Annie spürte ihre Verachtung. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Die blinden Mädchen scharten sich um die Neue, tasteten nach ihren Habseligkeiten und fragten erstaunt:

      «Wo sind denn deine Kleider und deine übrigen Sachen?»

      Annie musste den Kopf schütteln und voller Scham zugeben, dass sie sonst nichts besaß. Die Mädchen der Gruppe, in die sie eingewiesen war, waren noch nie jemandem begegnet, der keinen Mantel hatte, keinen Hut, kein zweites Paar Schuhe, nicht einmal eine Zahnbürste. Das sagten sie auch und lachten sie aus. Und Annie hatte sie alle gehasst.

      «Warum hat dir denn deine Mutter nicht ein paar Sachen genäht?»

      «Meine Mutter ist tot», hatte Annie kurz geantwortet, «mein kleiner Bruder auch. Und das ist alles.»

      Ja, das war alles, was sie über ihre Familie zu sagen bereit war. Sie hatte natürlich einen Vater. Sie hatte auch eine Schwester. Aber nichts und niemand würde sie je dazu bringen zuzugeben, dass ihr unzuverlässiger, hilfloser Vater seine Familie im Stich gelassen hatte, als die Mutter vor vier Jahren gestorben war. Eine Tante hatte das liebenswerte kleine Schwesterchen zu sich genommen, aber keiner der Verwandten war gewillt, sich mit einem fast blinden Mädchen zu belasten und einem kleinen Jungen mit einer durch Knochentuberkulose geschädigten Hüfte. So waren sie in das Armenhaus von Tewksbury abgeschoben worden, eine der schlimmsten Anstalten dieser Art im ganzen Land. Durch die Zustände dort war Jimmie innerhalb von zwei Monaten gestorben; sie selbst, Annie, hatte vier elende Jahre dort verbracht, bis das staatliche Wohlfahrtsamt Frank B. Sanborn beauftragte, das Heim zu inspizieren.

      Annie erinnerte sich, wie sie an dem Tag seiner Besichtigung weinend durch die Säle gelaufen war: «Mr. Sanborn! Mr. Sanborn!», und als eine Männerstimme ihr antwortete, verzweifelt ausgerufen hatte: «Ich kann nicht gut sehen, und ich möchte in eine Schule gehen!»

      Auf diese Weise war sie Tewksbury entkommen. Eine alte Frau, die immer freundlich zu ihr gewesen war, warnte sie beim Abschied: «Sag’ nie nich’ keinem, dass du aus dem Armenhaus kommst», und leidenschaftlich rief Annie aus: «Nie!»

      Die Lehrer und das Verwaltungspersonal wussten natürlich Bescheid, aber Annie wäre lieber gestorben, als dass sie das den Schülerinnen gegenüber zugegeben hätte.

      Ihre Ausstattung war so kümmerlich, dass die Hausmutter ihrer Gruppe an jenem ersten Abend ein Nachthemd für sie ausborgen musste, und die arme Annie, so verbissen stolz und dennoch ausgehungert nach freundschaftlicher Zuwendung, hatte sich an jenem Abend in den Schlaf geweint – ja, und nicht nur an jenem Abend.

      Als sie das Perkins-Institut betrat, war es fast, als wäre sie auf einen anderen Planeten versetzt worden. Sie musste nicht nur ihren Schulunterricht in der ersten Klasse beginnen, sie musste auch eine vollkommen andere Art des Lebens lernen, von der sie bisher nichts geahnt hatte. Die Sullivans waren immer bitter arm gewesen, ihre Mutter war ständig krank und das Leben in Tewksbury hart und grausam. Ihre Schulkameradinnen hier im Perkins-Institut waren trotz ihrer Blindheit glückliche Kinder – Kinder von Ärzten, Kaufleuten, Rechtsanwälten und wohlhabenden Gutsbesitzern. Die Mädchen in Annies Gruppe waren zufrieden und behütet, während Annie aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen nicht wusste, wie man ein glückliches Leben führt.

      Kein Wunder, dass sie verwirrt, schwierig und trotzig war. Wäre sie weniger zäh gewesen, so hätte sie das erste Jahr im Perkins-Institut nicht durchgestanden – aber Annie war ein Mensch, der nie klein beigeben würde. Sie war zu Perkins gekommen, um zu lernen, und das tat sie. Sie setzte alles daran, schnell voranzukommen, um endlich an der Seite ihrer Altersgenossen auf der Schulbank sitzen zu können. Darüber hinaus aber lernte sie hier, Schönheit zu empfinden und nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu streben.

      Man war gut zu ihr gewesen. Die meisten ihrer Lehrerinnen waren freundlich. Sie versorgten sie mit Kleidung, gaben ihr zusätzlichen Unterricht und stellten sich schützend vor sie, wenn eine Rückkehr nach Tewksbury drohte, wenn ihre Widerspenstigkeit die Geduld der Behörden allzu sehr strapazierte. Sie versorgten sie mit freien Eintrittskarten für Vorträge und Konzerte. Aber wofür sie ihr Leben lang zutiefst dankbar sein würde, war die Tatsache, dass jemand, der der Meinung war, für ihre Augen bestehe vielleicht noch Hoffnung, dafür gesorgt hatte, dass man sie zur Augenklinik brachte, in der an gewissen Tagen die Patienten unentgeltlich behandelt wurden. Daraufhin erfolgten zwei Operationen, die erste, als sie fünfzehn war, die zweite genau ein Jahr später, und danach konnte Annie sehen! Oh, keineswegs vollkommen – Dr. Bradford hatte sie darauf aufmerksam gemacht, dass das niemals der Fall sein würde und sie ihre Augen nie überanstrengen dürfte, aber – sie konnte sehen! Sie konnte Gedrucktes lesen lernen, die einzelnen Ziegel in einem Gebäude jenseits des Flusses erkennen! Und als sie eines Tages entdeckte, dass sie eine Nadel ohne Hilfsmittel einfädeln konnte, war sie ganz überwältigt vor Freude.

      Auch nachdem ihr Augenlicht wiederhergestellt war, blieb sie im Institut, weil sie sonst nirgendwo hin konnte. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich dadurch, dass sie beim Unterricht und der Betreuung der kleineren Kinder half – aber jetzt, was sollte sie nun tun? Sie wusste nur zu gut, dass diese Überlegung ihre Freunde seit Wochen beunruhigte. Würde sie – würde sie schließlich doch noch nach Tewksbury zurückkehren müssen? Bei diesem Gedanken stockte ihr vor Angst der Atem.

      Entschlossen erhob sie sich und begann ihre Kostbarkeiten wegzupacken. Die Glocke zum Abendessen läutete. Annie nahm all ihren Mut zusammen. Sie wollte jetzt hinuntergehen und ebenso fröhlich und lebhaft sein wie die anderen Mädchen; heute abend sollte niemand auf den Gedanken kommen, dass sie nicht das glücklichste Mädchen in ganz Boston war.

      Einen Menschen jedoch gab es, der Bescheid wusste. Niemand hätte vermutet, dass die so nüchtern und spröde erscheinende Witwe Mrs. Hopkins, eine typische Neu-Engländerin, gleichen Geistes Kind war wie die unruhige, temperamentvolle Annie Sullivan – aber Zeit ihres Lebens sollte eine geheimnisvolle Verbindung tiefen gegenseitigen Verständnisses zwischen ihnen bestehen. Als nun das Mädchen die Treppe herunterkam, hielt die Hausmutter in ihrer Geschäftigkeit inne und schenkte Annie ein stolzes Lächeln.

      «Du hast dich wunderbar gehalten, Liebes», sagte sie, «genau wie ich es von dir erwartet hatte.»

      «Ich brauchte den Mut von tausend irischen Häuptlingen», bekannte Annie kläglich. «Ich schämte mich so, dass der Gouverneur meinen Namen ein zweites Mal aufrufen musste.»

      Vom anderen Ende der langen Tafel, wo sie ihre kleinen Schützlinge geschickt hinsetzte, lächelte Miss Moore ihr zu. «Wir waren alle sehr stolz auf dich, Annie.» Von Miss Moore ausgesprochen, hatten diese Worte eine besondere Bedeutung, und Annie war zutiefst dankbar. Miss Moore war diejenige Lehrerin, die außergewöhnlich viel Zeit und Geduld aufgebracht hatte, das eigenwillige, unwissende, launenhafte Kind, das Annie gewesen war, zu zähmen und zu erziehen. Manchmal vermutete Annie, Miss Moore habe es besser als jeder andere verstanden, sie «unter ihre Fuchtel» zu bringen, aber vielleicht gerade deswegen verehrte sie sie tief.

      «Setz dich neben mich, Annie!» – «Nein, heute Abend bei mir!» – «O Annie, komm und setz dich zu uns!», riefen die kleineren Mädchen im Chor, und begierige kleine Hände streckten sich flehentlich aus, aber Annie entzog sich ihnen sachte.

      «Heute Abend werde ich bei Laura sitzen», erklärte sie und trat zu einer steif aufrecht sitzenden, schweigsamen Frau, deren seltsam starrer Gesichtsausdruck einen etwas unheimlichen Eindruck inmitten dieser


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