Öffne mir das Tor zur Welt. Helen Waite
auf. Ihre Hände flatterten leicht und schnell wie Schmetterlinge in der Luft, und Annie erwiderte, in Lauras Hand buchstabierend, mit der gleichen Fingersprache, denn für die taubstumme und blinde Laura Bridgman war die einzige Verständigungsmöglichkeit mit anderen Menschen das von den Taubstummen benützte Fingeralphabet. Alle Lehrer, Hausmütter und Schülerinnen beherrschten es, denn Laura lebte seit ihrem siebten Jahr im Perkins-Institut, es war ihr Zuhause. Irgendwie hatte Annie besondere Geschicklichkeit darin erworben, und sie gehörte zu Lauras Lieblingen.
Als sie jetzt beim Abendessen neben ihr saß, begann Laura schnelle, kurze Fragen zu buchstabieren, und Annie antwortete mit fliegenden Fingern, beschrieb, was am Tisch um sie herum vor sich ging, und versprach, später in Lauras Zimmer zu kommen, um ihr von der Schlussfeier zu berichten.
Die Examensfeier war wirklich ein Erfolg gewesen. Selbst die Bostoner Zeitungen schrieben schmeichelhafte Berichte über die Festrednerin – Berichte, die zwar sehr erfreulich zu lesen waren, aber nicht die Frage beantworten konnten, die das Gemüt eben dieser Festrednerin ständig beunruhigte: Was sollte sie jetzt tun; was konnte denn überhaupt ein Mädchen tun, dem es vom Schicksal bestimmt war, mit mangelhaftem Sehvermögen und einer schmerzhaften Augenkrankheit durchs Leben zu gehen?
Als Perkins seine Tore für die Sommerferien schloss, hatte noch niemand eine befriedigende Lösung gefunden, und obwohl Annie lächelte und mit irischer Unbekümmertheit ihren Kopf hochhielt, war ihre Besorgnis zu einer Furcht angewachsen, die ständig im Hintergrund ihres Bewusstseins lauerte und manchmal in unerwarteter Weise hervorbrach, um sich Luft zu machen.
«Du kommst natürlich mit mir nach Brewster, wie immer», hatte Mrs. Hopkins mit Entschiedenheit gesagt, «und wenn irgendetwas Aussichtsreiches auftauchen sollte, kann man dir nach Brewster genauso leicht Bescheid geben, wie wenn du in Boston bliebest.» Mr. Anagnos war einverstanden. «Sie hat recht, liebe Annie, ganz recht. Alle Lehrer, ebenso wie ich, haben dein Problem im Bewusstsein. Wir benachrichtigen dich sofort, keine Sorge.» Beruhigend tätschelte er ihre Hand. «Nun geh und genieß deinen Sommer, meine Liebe.»
Annies Lippen fühlten sich steif an, als sie ihm dankte, und nur mit Mühe brachte sie ein Lächeln zustande.
Sie nahm Mrs. Hopkins’ Einladung dankbar an, war sich aber klar darüber, dass das nur ein Notbehelf war, was sie durchaus nüchtern ins Auge fasste. Als die Tür des Hauses, dem Sophia Hopkins als Hausmutter vorstand (es gab mehrere Häuser auf dem Perkinsschen Gelände), hinter ihnen zufiel, dröhnte das in Annies Ohren wie ein Weltuntergang. Das Perkins-Institut, die Blindenschule von Massachusetts, war der einzige Ort, den sie ihr «Zuhause» nennen konnte. Schloss sich diese Tür für immer hinter ihr?
Ein Ruf aus Alabama
Die Atmosphäre des Dörfchens Brewster am Cape Cod hatte etwas, das Annies natürliche Spannkraft bald wiederherstellte, genau wie Mrs. Hopkins es erhofft hatte. Sie kannte und verstand das Mädchen besser, als Annie ahnte, und wahrscheinlich kam ihr nie wirklich zum Bewusstsein, wie tiefgehend ihre Hausmutter sie beeinflusst hatte.
Sophia Hopkins war in das Perkins-Institut gekommen, weil es ihr größter Wunsch gewesen war, sich ganz und gar für einen Menschen oder eine Sache einzusetzen, etwas zu tun, wozu sie wirklich gebraucht wurde. Ihr Mann, ein Schiffskapitän, war vor Jahren auf einer seiner Fahrten ums Leben gekommen, und ihre geliebte einzige Tochter war vor Kurzem gestorben. Ihre sehr selbstständige und unabhängige Mutter lebte lieber für sich allein, und Sophia war nicht der Mensch, der ein inhaltloses Leben führen konnte. Eines Tages, als sie einige blinde Knaben beobachtete, die am Strand spielten, durchfuhr sie der Gedanke: Hier ist die Aufgabe für mich! Auf ihre Bewerbung hin wurde sie sofort als Gruppenmutter für das Haus engagiert, in dem Annie bereits seit drei Jahren lebte.
In der Schule hatte Annie inzwischen gute Fortschritte gemacht, aber in Bezug auf ihr Gefühlsleben lag noch alles im Argen, sie liebte niemanden und niemand liebte sie. Mrs. Hopkins behandelte alle ihre Mädchen mit gleicher Güte, was ein Grund dafür gewesen sein mochte, dass einige von ihnen sich zu außergewöhnlichen Persönlichkeiten entwickelten. Die kleine Lydia Hayes zum Beispiel wurde Vorsitzende der New Jersey-Kommission für die Blinden. Mrs. Hopkins erkannte sofort, dass sie in Annie Sullivan jemanden gefunden hatte, der sie wirklich brauchte, und so nahm sie das Mädchen unter ihre Fittiche, umsorgte sie liebevoll und wirkte besänftigend auf sie ein, ohne Annies Widerstreben und Eigensinn zu sehr zu beachten. Instinktiv begriff die ältere Frau, dass Annies Ungebärdigkeit und all ihre finsteren Stimmungen nur der Schutzwall waren, den eine verwirrte, verstörte und verschreckte Kinderseele um sich herum errichtete, um keine weiteren Verletzungen zu erleiden; und dass unter all diesen Schichten ein charaktervolles, feinfühliges Wesen darauf wartete, erlöst zu werden. Gerade zu jenem Zeitpunkt war es fraglich, welche Richtung Annies Entwicklung nehmen würde: Würde sie durch ihre Erlebnisse in Tewksbury und die erste schwere Zeit im Perkins-Institut verbittert werden und dauerhaft seelisch geschädigt sein, oder könnte sie gerade aufgrund dieser Erfahrungen ein vertieftes Verständnis für all jene erlangen, die behindert oder krank waren?
«Sie hat die Möglichkeit in sich, eines Tages Großartiges zu leisten», hatte Mrs. Hopkins erklärt, als sie Annie einmal einer Lehrerin gegenüber in Schutz nahm, die über deren unverschämtes Benehmen an einem «Tag der offenen Tür» äußerst aufgebracht war. «Tage der offenen Tür» gehörten zu den Gepflogenheiten des Instituts, Tage, an denen die Schule für Besucher geöffnet war, die nach Belieben von Klassenraum zu Klassenraum wandern und den Unterrichtsbetrieb miterleben konnten. Annie pflegte bei solchen Gelegenheiten häufig aufgerufen zu werden, da ihre raschen, intelligenten Antworten die Wirksamkeit der Perkinsschen Unterrichtsmethode unter Beweis stellten. Aber als an jenem Tag die Lehrerin fragte: «Was war das Beste, das König Johann getan hat?», war Annies lausbübische Antwort: «Das habe ich bisher noch nicht entscheiden können!», und sie weigerte sich hartnäckig, auch nur ein weiteres Wort hinzuzufügen! Kein Wunder, dass die Lehrerin skeptisch war, doch Mrs. Hopkins ließ sich in ihrer Überzeugung nicht beirren.
«Sie hat die Möglichkeit in sich, etwas Großartiges zu leisten», wiederholte sie, «und starke Liebeskräfte – wenn es uns gelingt, an ihr Herz zu rühren.»
So aufsässig und eigenwillig Annie auch war, niemals, ihr ganzes Leben hindurch nicht, war sie unzugänglich gegenüber echter Güte und Zuneigung, und die besaß Mrs. Hopkins in reichem Maße. Noch nie zuvor war Annie geliebt worden, es war eine eigenartige, neue Erfahrung für sie, aber sie freute sich darüber und begann bald selbst, Versuche in dieser Rich-tung zu machen. Sie führte die kleineren blinden Mädchen spazieren, geleitete sie sonntags zur Kirche, half ihnen bei ihren Hausaufgaben und tröstete die Heimwehkranken und Einsamen. Einsamkeit war ja für Annie nichts Unbekanntes! Vielleicht war es in jener Zeit, dass ihre Freundschaft mit Laura Bridgman begann.
Als die Schule im Sommer 1884 ihre Tore schloss, lud Mrs. Hopkins Annie zum ersten Mal ein, die Ferien bei ihr und ihrer Mutter in deren Haus in Brewster zu verbringen. Nie vergaß Annie die jähe, überwältigende Freude, von der sie ergriffen wurde. Bisher hatte man sie im Sommer irgendwo hingeschickt, wo sie für ihren Unterhalt arbeiten musste; und nun eine richtige Einladung – jemand, der sie wirklich bei sich haben wollte!
Und dann Brewster! Bereits in den ersten zwei Wochen verliebte sie sich in den Ort. Der weit geschwungene Horizont; die heimeligen hübschen Häuser, so anders als die massigen, düster aussehenden Gebäude in Boston; die schmalen, gewundenen, sandbedeckten Wege; die duftenden, weiten Felder; die langen, goldenen Sandstrände, auf denen hie und da kleine Büschel steifen Strandhafers wuchsen – alles das ließ Brewster zu einem Ort werden, der Annies leidenschaftliches Sehnen nach Schönheit befriedigte.
Und die Menschen – auch sie stillten eine Sehnsucht in ihr, diese Menschen mit ihrem ruhigen Selbstvertrauen, ihrer tatkräftigen Einstellung zum Leben und ihrem oft unerwarteten, verborgenen Humor. Nie zuvor hatte sie unter völlig normalen Menschen gelebt, die sie ganz selbstverständlich in ihrer Mitte aufnahmen, und so wurde jeder Tag, den sie in Brewster verbrachte, zu einer Quelle reinster Freude für sie.
Auch das Haus Crocker trug zu ihrem Entzücken bei. Mrs. Hopkins’ Vater war, wie schon ihr Mann, Schiffskapitän gewesen, und das ganze kleine Haus, vor allem aber das Wohnzimmer, waren zum