Öffne mir das Tor zur Welt. Helen Waite
das altvertraute Haus von Mrs. Hopkins zurück. Alle waren über diese Neuigkeit begeistert. Die Lehrer freuten sich mit ihr und waren sehr entgegenkommend. Ergreifend und schmerzlich zugleich war es, Laura Bridgman zu sehen, die vor Freude geradezu bebte und Annie immer wieder umarmte und küsste.
«Du musst dem lieben kleinen Mädchen vieles beibringen», buchstabierte sie eifrig, «vor allem aber, gut und gehorsam zu sein!»
Die Mädchen ihrer Gruppe waren begeistert. Ein echtes Abenteuer war das, und ihre Annie die Heldin darin – nach Alabama zu reisen, so weit weg! Und so eine hervorragende Stellung!
Annie selbst widmete sich ausschließlich dem Studium der Berichte und Aufzeichnungen von Dr. Howe und der anderen Lehrer, die Laura unterrichtet hatten. Sie versuchte, sich ein Bild zu machen von der Laura, die man 1837 in das Perkins-Institut gebracht hatte, «ein schlankes, zartes, bewegliches Kind», das in Verwirrung geraten war durch den raschen Wechsel seiner Umgebung: Aus einem kleinen, gemütlichen Farmhaus in New Hampshire in das weitläufige, große Gebäude, in dem die Schule zunächst untergebracht war. Sie versuchte, sich den eifrigen und schmächtigen jungen Dr. Howe, den ersten Direktor, vorzustellen, wie er geduldig mit dem Kind gearbeitet hatte: Zunächst klebte er Schildchen mit erhaben geprägten Buchstaben (Laura hatte nie die Brailleschrift gelernt – d.h. die Blindenschrift, bestehend aus einem Zeichensystem von Punkten, die in dickes Papier geprägt werden und durch Abtasten gelesen werden können) auf einzelne Gegenstände, z.B. einen Schlüssel, einen Löffel, ein Buch. Dann tat er die verschiedenen Schildchen in eine Schachtel und gab ihr einen Schlüssel, einen Löffel, ein Buch in die Hand. Sie musste nun die verschiedenen Gegenstände und die entsprechenden Schildchen befühlen. Das dauerte viele Wochen, aber schließlich blitzte der Gedanke in ihr auf, dass die Buchstaben «k–e–y» «key» (Schlüssel) und «b–o–o–k» «book» (Buch) bedeuteten und dass dies auch für alles andere zutraf. Jedes Ding hatte seinen Namen. Endlich veranlasste Dr. Howe eine der Lehrerinnen, das Taubstummen-Alphabet zu lernen, das sie dann Laura beibrachte, indem sie dem Kind die Buchstaben in die Hand buchstabierte.
Das war nicht leicht – keiner dieser Lernschritte war leicht oder einfach –, aber unmöglich war es nicht. Es bedeutete schwere, harte Arbeit, aber Annie Sullivan scheute keine harte Arbeit.
Allein das Lesen der Berichte war für Annie Sullivan mit großer Mühe verbunden. Ein anderer hätte dieses Pensum vielleicht in einem Drittel der Zeit bewältigt. Annies Augen aber rächten sich, wenn sie ohne Pause so viel wie jemand mit normalen Augen las. Nach einem Tag konzentrierten Lesens schmerzten Augen und Kopf, und sie war erschöpft. Sie brauchte sechs Monate, um den Berichten alles das zu entnehmen, was sie zu benötigen glaubte. Während der Lesepausen, die sie einlegen musste, um ihre Augen zu schonen, versuchte sie, einen ungefähren Lehrplan für Helen zu entwerfen, und sammelte einiges Unterrichtsmaterial: drei Lesebücher mit erhabenen Buchstaben, eine Tafel in Brailleschrift, ein paar durchstochene Karten zum Sticken und einige Schachteln mit Holz- und Glasperlen.
Auch die kleineren Kinder der Gruppe wollten teilhaben an dem Abenteuer. «Wir könnten eine Puppe für Miss Annie kaufen, die sie Helen mitbringen kann!», schlug eines von ihnen vor.
«Und wir wollen Miss Laura bitten, Kleider für sie zu nähen!», fügte Lydia begeistert hinzu. Annie war fast zu Tränen gerührt, als die kleinen Mädchen – und Laura – sich um sie scharten und ihr voller Freude ihr Geschenk überreichten. Es war eine wirklich wunderschöne Puppe, erworben mit vielen einzelnen Pennies aus vielen kleinen Sparbüchsen, und sicher gab es keine Puppe mit einer großartigeren Garderobe! Denn Laura Bridgmans Handarbeiten waren Kunstwerke, und diese Puppenkleider hatte sie mit besonderer Liebe und Sorgfalt angefertigt.
«‹Puppe› ist bestimmt das erste Wort, das ich Helen vorbuchstabieren werde», hatte Annie ihnen versprochen.
Sie waren alle so gut zu ihr gewesen. Mr. Anagnos hatte ihr Geld für die Fahrkarte geliehen und ihr einen Granatring geschenkt, und die liebe Mrs. Hopkins hatte angeboten, ihre Kleider für sie zu richten und zu packen.
«Du brauchst dir wegen deiner Garderobe keine Sorgen zu machen, Liebes», hatte sie dem Mädchen versichert. «Ich habe das lavendelblaue Kleid, das ich selbst in deinem Alter trug, für dich geändert, du hast dein Festkleid von der Abschlussfeier – die genügen als Sonntagskleider im Sommer –, und ich habe dafür gesorgt, dass alles andere aus gutem, warmem, solidem Wollzeug ist!»
Welch eine Garderobe für ein Mädchen, das sich im Frühling auf die Reise in den warmen Süden begibt!
Schließlich hatte man, nach schier endlosen letzten Erledigungen, die Kellers von ihrer Ankunft benachrichtigt, und nun saß eine von Panik geschüttelte Annie Sullivan in dem Zug, der sie an diesem Montagmorgen, am 1. März 1887, unerbittlich von Boston forttrug.
Das grelle Licht der Sonne auf dem weiß gleißenden Schnee sowie die rasch wechselnde Szenerie blendeten Annie derart, dass ihre Augen heftig zu schmerzen begannen und sie sie schließen musste. Das Kinn in die Hand gestützt, gab sie sich den Anschein, zum Fenster hinauszublicken – eine Dame konnte nicht gut am frühen Morgen den Eindruck erwecken zu schlafen! Wahrscheinlich rührten die Schmerzen daher, dass ihre Augen seit der letzten Operation noch nicht ganz verheilt waren. Sie hatte in der letzten Zeit solche Beschwerden mit den Augen gehabt, dass Mr. Anagnos darauf bestanden hatte, sie müsse vor ihrer Abreise in den Süden noch Dr. Bradford konsultieren, und so war sie erst vor wenigen Tagen noch einmal operiert worden. Vielleicht hätte sie die Abreise noch verschieben sollen, aber es hatte sich nur um eine kleinere Operation gehandelt, und die Kellers hatten nun schon so lange und geduldig auf sie gewartet.
Wie gut sie alle zu ihr gewesen waren – die Lehrer, Mr. Anagnos, die liebe Mrs. Hopkins, Dr. Bradford, die Kellers; und sie saß doch auch endlich in dem Zug, der sie ihrem ersehnten Ziel – einer gesicherten Stellung – entgegentrug: Warum nur schwanden ihr mit jeder Umdrehung der Räder mehr ihr Selbstvertrauen, ihr Mut, ihr Ehrgeiz?
Der Montag war ein entsetzlicher Tag, und in der Nacht fiel auch noch so viel Schnee, dass der Zug am nächsten Morgen mit zwei Stunden Verspätung in Philadelphia ankam. Steif und müde von der langen Fahrt, konnte sie an nichts Gefallen finden. «Philadelphia sieht wie ein riesiger Friedhof aus», schrieb sie an Mrs. Hopkins. Sie musste dort umsteigen, und als sie schließlich in Baltimore ankam, schien die Sonne, und das Wetter war so mild, dass ihre warme Kleidung eine einzige Qual bedeutete.
Auch am Dienstag und Mittwoch war sie in einer jämmerlichen Verfassung.
«Der Mann, der uns diese Fahrkarte verkauft hat, sollte gehängt werden», beklagte sie sich in einem Brief an Mrs. Hopkins, «und ich wäre bereit, den Henker zu spielen. Ich musste viele Male umsteigen, in Lynchburg, Roanoke, Chattanooga und Knoxville.
Unsere erste Station war Lynchburg, ein schäbiger, schmutziger und abscheulicher Ort.»
Und was würde sie in Tuscumbia erwarten? Ob Helen Keller wohl ein hässliches Kind war? Annie verabscheute Hässlichkeit. Ob die Krankheit, durch die sie blind und taub geworden war, auch ihr Gehirn geschädigt hatte? Wie lange würde es dauern, bis das Kind überhaupt reagierte? Wie viel man ihm wohl beibringen konnte? Es waren keine freudigen Gedanken, die Annie Sullivan auf ihrer Reise bewegten. Schließlich verließ sie ihr Mut gänzlich, und sie weinte so verzweifelt, dass ein gutmütiger Schaffner sie besorgt fragte, ob «ihre Leute» gestorben seien, und sie mit Butterbrot und Pfefferminztee zu trösten suchte.
Es war am Mittwochabend um achtzehn Uhr dreißig, als diese trostlose Reise ein Ende fand und Annie mit steifen, verkrampften Gliedern und vor Müdigkeit zitternd auf dem kleinen ländlichen Bahnhof ausstieg. Das also war Tuscumbia, Alabama. Noch ehe ihre übermüdeten Augen irgendetwas erkennen konnten, trat ein junger Mann auf sie zu und nahm höflich den Hut ab.
«Miss Sullivan?» Die gedehnte Sprechweise des Südstaatlers klang fremd in ihren Ohren. «Ich bin James Keller. Geben Sie mir bitte Ihren Koffer. Meine Stiefmutter wartet im Wagen. Wenn Sie so gut sein wollen, hier entlangzukommen …»
Plötzlich schien sie keine Luft mehr zu bekommen, und mechanisch ging sie neben ihm her. Aber als sie der erstaunlich jungen Frau ansichtig wurde, die sich ihr gespannt entgegenneigte, «fiel ein großer Stein von meinem Herzen», bekannte