Öffne mir das Tor zur Welt. Helen Waite
gewesen sein beim Anblick des hilflos aussehenden, verschwitzten jungen Mädchens mit den verschwollenen Augen, so ließ sie es sich nicht anmerken und erwähnte es nie. Mit herzgewinnendem Lächeln und echter Wärme hieß sie Annie willkommen.
«Wir sind so glücklich, dass Sie endlich bei uns sind, Miss Sullivan! Während der letzten beiden Tage sind wir zu jedem Zug gekommen.»
Als Annie sich in die weichen Kissen zurücklehnte, ließ ihre Anspannung allmählich nach. Die Landstraße, die sie entlangfuhren, war mit blühenden Obstbäumen gesäumt, und über den Feldern lag der kräftige Geruch frisch gepflügter Erde. Nach der langen Reise in dem stickigen, schmutzigen Zug erschien Tuscumbia ihr wie der Himmel auf Erden – ein guter, ein wohltuender Ort, an dem sie ihre Lebensaufgabe beginnen konnte. Die Fahrt durch die Dämmerung des Frühlingsabends besänfigte ihre Nerven, aber als Mrs. Keller auf ein Gebäude zeigte, das am Ende einer langen, schmalen, von Hecken gesäumten Zufahrt nur undeutlich zu erkennen war und dabei sagte: «Miss Sullivan, das ist unser Haus», wurde sie von einer derartigen Aufregung ergriffen, dass ihr Körper sich wie eine zu straff angezogene Saite spannte. Am liebsten wäre sie aus dem Wagen gesprungen, um das gemächlich dahintrottende Pferd anzutreiben. Wie konnte Mrs. Keller nur ein solch langsames Tier aushalten?
Captain Arthur Keller stand bereits wartend im Hof, half ihr aus dem Wagen und drückte ihr herzlich die Hand. «Willkommen – willkommen!»
Es war sicher recht unhöflich, aber Annies Gedanken waren nur auf einen einzigen Menschen konzentriert. «Wo ist Helen?», fragte sie atemlos.
Captain Keller deutete auf die in der Abenddämmerung liegende Veranda. «Dort. Sie weiß schon den ganzen Tag, dass wir jemanden erwarten.»
Annie schritt auf die Veranda zu. Sie konnte ihr Zittern kaum noch beherrschen. Ihr Atem kam in kurzen Stößen. Am Fuß der Treppe hielt sie inne und wagte nicht aufzuschauen. Bitte, lass sie nicht hässlich sein!, betete sie leidenschaftlich. Oh, bitte, lass sie nicht hässlich oder schwachsinnig sein! Und dann blickte sie auf.
Das Kind, das in der erleuchteten Tür stand, hatte ein schmutziges Hängerkleidchen an und wirres braunes Haar. Man sah sofort, dass es blind war. Hässlich war die kleine Helen keineswegs, und obwohl ihrem Gesicht etwas fehlte – Beweglichkeit, Seele –, merkte Annie doch sofort, dass sie intelligent war. Annie atmete tief aus und setzte ihren Fuß auf die unterste Treppenstufe. Als das Kind die Vibration wahrnahm, stürzte es sofort auf sie zu und hätte Annie umgerissen, wenn Captain Keller sie nicht aufgefangen hätte. Eifrig forschende Hände befühlten Annies Gesicht und Kleid und fanden schließlich ihre Handtasche. Annie überließ sie ihr, gespannt, ob sie wohl begriff, was sie da hatte. Das war offensichtlich der Fall, denn sie versuchte, die Tasche zu öffnen. Als sie merkte, dass sie verschlossen war, untersuchte sie sie sorgfältig, um herauszufinden, ob es ein Schlüsselloch gab, und nachdem sie dieses entdeckt hatte, zupfte sie an Annies Ärmel und deutete mit der Hand das Umdrehen eines Schlüssels an. Vor Freude und Erleichterung lachte Annie laut auf. Nein, Helen Keller war gewiss nicht schwachsinnig.
«Sie muss sehr intelligent sein! Das war sehr schlau von ihr.»
«Glauben Sie das wirklich?» Mrs. Kellers Stimme klang wehmütig. Sie griff nach der Tasche und versuchte, sie dem kleinen Mädchen zu entwinden. Sofort lief das Gesicht des Kindes dunkelrot an, es stampfte zornig mit den Füßen und wand und krümmte sich. Annie griff vermittelnd ein, hielt Helen ihre Uhr hin und lenkte dadurch ihre Aufmerksamkeit ab. Der Sturm legte sich. Annie hatte ihre erste Eroberung gemacht.
Zusammen betraten sie das Haus, und Mrs. Keller führte Annie die Treppen hinauf in ihr Zimmer, in dem die Lampen schon brannten. Es erschien dem übermüdeten Mädchen, als habe sie endlich einen sicheren Zufluchtsort gefunden, der Geborgenheit verhieß. Kate Keller, die am Fenster stand und die Vorhänge zuzog, hielt plötzlich inne und warf Annie einen ergreifenden Blick zu.
«Ich hoffe, Sie werden bei uns glücklich sein, Miss Sullivan, viele Jahre lang.»
Helen zerrte an ihrem Rock und bedeutete ihr mit ungeduldigen, herrischen Gebärden, dass sie die Tasche geöffnet haben wollte. Annie schloss die Tasche auf, ließ das Kind darin herumwühlen, beobachtete es dabei genau und begriff, dass es hoffte, etwas zu essen zu finden, wahrscheinlich Süßigkeiten. Ihr Koffer in der Halle fiel ihr ein. Sie ging mit Helen nach unten, legte die eine Hand des Kindes auf den Koffer, die andere auf ihr eigenes Gesicht und machte mit dem Mund die Bewegung des Kauens. Ob das Kind das wohl verstehen würde? Ihrem entzückten Gesichtsausdruck nach tat Helen das sehr wohl. Sie rannte zu ihrer Mutter und machte einige rasche Zeichen. Annie beobachtete sie mit wachsender Erregung.
«Sie glaubt», übersetzte Mrs. Keller, gleichsam um Entschuldigung bittend, «dass Sie in Ihrem Koffer Süßigkeiten für sie haben.»
«Aber ja, das habe ich», rief Annie triumphierend aus. «Genau das versuchte ich ihr mitzuteilen! Und sie hat es verstanden! Sie hat es verstanden!»
Nun wusste sie plötzlich, dass sie an den rechten Ort gekommen war; dass sie und dieses Kind einander verstehen würden.
Annie Sullivan war bereit, der Welt entgegenzutreten.
Phantom in einer Nicht-Welt
Doch als Annie einige Tage später niedergeschlagen eine kalte Kompresse auf ihren blutenden Mund legte, begann sie einzusehen, dass es wahrscheinlich leichter sei, der ganzen Welt gegenüberzutreten als einer einzigen kleinen Wilden, die eigen-willig und unbeherrscht war, die unberechenbare Wutanfälle bekam und gerade bewiesen hatte, dass sie jeden, der sich ihr widersetzte, ernsthaft zu verletzen vermochte. Annie hatte zwei Vorderzähne eingebüßt.
«Sie kann ein richtiger kleiner Teufel sein, wenn sie will!», sagte mitleidig das junge schwarze Mädchen, das ihr weiche Tücher und kaltes Wasser gebracht hatte, und schüttelte den Kopf.
Annie seufzte. Sie konnte das nicht bestreiten. Die ganze Situation in ihrer Widersprüchlichkeit war ihr ein Rätsel. Das Haus der Kellers gefiel ihr. Zwar war es nicht das, was sie sich erträumt hatte: die malerische Südstaatenplantage mit prächtigen Treppen und Säulen und Ballsälen. Es war ein einfaches, solides Haus, gemütlich und bequem, umgeben von Scheunen, Gärten und Feldern, die die Familie reichlich mit Lebensmitteln von ausgezeichneter Qualität versorgten. Auch die Familie mochte sie gern. Captain Keller, ehemaliger Offizier der konföderierten Armee, verhielt sich ihr gegenüber äußerst liebenswürdig und gastfreundlich. Und für Mrs. Keller, eine junge Frau, die nicht viel älter war als Annie selbst, hatte sie von Anfang an eine tiefe Zuneigung empfunden, die sich mit der Zeit immer mehr festigen und ihr Leben lang halten sollte. Die beiden Söhne aus Captain Kellers erster Ehe, James, Anfang zwanzig, und der um einige Jahre jüngere Simpson, hatten sie wenig beeindruckt. Aber das rosige Baby in seiner Wiege, die kleine Mildred, liebte sie bereits innig. Es war eindeutig eine angenehme, kultivierte Häuslichkeit, in die sie gekommen war; umso entsetzter war Annie, als sie bei ihrem ersten Frühstück mit den Kellers entdecken musste, dass man Helen erlaubte, die Teller, die herumgereicht wurden, an sich zu reißen, mit den Fingern darauf herumzusuchen und sich das zu nehmen, worauf sie gerade Lust hatte!
Darüber hinaus erfuhr Annie sowohl von Mrs. Keller wie von Viney, Helens schwarzer Kinderfrau mit dem weißen Turban auf dem Kopf, dass man bei Helen immer häufiger Gewalt anwenden musste, um ihr selbst bei den einfachsten Dingen, wie Haare kämmen oder Schuhe zuschnüren, helfen zu können. Auf Gewaltanwendung jedoch reagierte Helen mit Wutanfällen und tobte so lange, bis sie völlig erschöpft war. Nicht gerade eine vielversprechende Aussicht!
Und dennoch, wenn es gelang, ihr Interesse zu erregen und ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, war sie ein durchaus aufgeschlossenes und ansprechbares kleines Geschöpf. Während Annie ihren großen Koffer auspackte, half sie ihr dabei und ging sorgsam und geschickt mit den Sachen um. Und als sie die Puppe entdeckte, die die blinden Kinder ihr geschickt hatten, ging ein Strahlen über ihr Gesichtchen, das erste Lächeln, das Annie erblickte. Mit flinken, eifrigen Fingern befühlte sie die Puppe und drückte sie an sich. An ihr Versprechen denkend, legte Annie eine Hand auf die Puppe, die Helen im Arm hielt, und buchstabierte langsam «d–o–l–l» (Puppe) in ihre rechte Hand. Ob sie den Zusammenhang erfasste? Um ganz sicher zu gehen, benützte sie das