Öffne mir das Tor zur Welt. Helen Waite
ganz und gar Helen widmen konnte.
So paradiesisch das kleine Haus sein mochte, seine beiden Bewohner befanden sich keineswegs in einem himmlischen Gemütszustand, jedenfalls nicht während der ersten Tage. Von ihrer Familie getrennt und ohne die vertraute Umgebung wurde Helen, angsterfüllt und wütend, von einem wahren Tobsuchtsanfall gepackt; sie schrie und schlug um sich, die einzige Art, auf die sie sich zu äußern vermochte. Hilflos und schweren Herzens stand Annie daneben. Als das Abendessen gebracht wurde, beruhigte sich Helen, ihr Gesicht hellte sich auf, sie langte herzhaft zu und spielte danach mit ihren Puppen. Als Annie ihr klarmachte, dass es an der Zeit war, ins Bett zu gehen, ließ sie sich bereitwillig ausziehen und zudecken. Kaum aber fühlte Helen, dass Annie sich neben sie legte, war es mit der Ruhe schon wieder vorbei. Helen sprang auf der anderen Seite aus dem Bett. Annie hob sie auf und legte sie zurück. Helen ließ sich sofort wieder herausfallen – und so ging es fort, zwei lange Stunden hindurch.
«Ich habe noch nie ein Kind von solcher Kraft und Ausdauer gesehen», schrieb Annie an Mrs. Hopkins, «aber zum Glück für uns beide bin ich doch ein bisschen stärker.»
Schließlich gab Helen klein bei, und ein schluchzendes kleines Mädchen rollte sich am äußersten Rand des Bettes zusammen, während Annie auf ihrer Seite des Bettes, erschöpft an Leib und Seele, von quälenden Zweifeln gepeinigt wurde.
Armes kleines Mädchen, es lag ja nicht an ihr, dass sie ausgeschlossen war von jeglicher Verbindung und Verständigung mit anderen Menschen! Plötzlich fiel Annie ein, was Dr. Howe über Laura Bridgman gesagt hatte: «Sie war wie ein Mensch, der sich allein und hilflos in einem tiefen, dunklen Schacht befindet, und ich ließ ein Seil herab und ließ es über ihr baumeln, in der Hoffnung, dass sie es vielleicht findet, ergreift und daran heraufgezogen werden kann in das Licht des Tages und der menschlichen Gemeinschaft.»
Wann würde wohl Helen das Seil finden, das Annie versuchte, zu ihr herabzulassen?
Am nächsten Morgen, auf dem Weg zu seinem Büro, schaute Captain Keller durch das Fenster, und Annie begriff nur allzu gut, dass kein Vater das, was er da zu sehen bekam, ermutigend finden konnte. Es war bereits Vormittag, und Helen saß auf dem Fußboden, ein Häufchen Elend, inmitten ihrer um sie herum verstreuten Kleider, da sie jeden Versuch Annies, sie anzuziehen, abgewehrt hatte. Was immer der Vater denken mochte, er verbarg es vor Annie und begrüßte sie nur mit der Höflichkeit des Südstaatlers; Annie krampfte sich das Herz zusammen beim Anblick des abgehärmten Ausdrucks auf seinem Gesicht, als er sich abwandte.
Diesmal schwebte Annie wirklich in Gefahr, als Versager entlassen zu werden, denn Captain Keller unterbrach seinen Weg in Ivy Green und erklärte seiner Cousine: «Leila, am liebsten möchte ich dieses Yankee-Mädchen nach Boston zurückschicken.» Leila Lassiter jedoch hatte die Situation klarer erfasst. «Gib ihr erst einmal die Chance, das, was sie tut, auch unter Beweis zu stellen, Arthur», drang sie in ihn. «Meiner Meinung nach ist sie Helens einzige Hoffnung.»
Helens Stimmung an jenem Tag war gedämpft, alles schien ihr rätselhaft. Sie spielte mit ihren Puppen, ging des öfteren zur Tür, als ob sie jemanden erwartete, berührte ihre Wange – ihr Zeichen, dass sie nach ihrer Mutter verlangte – und schüttelte dann traurig den Kopf. Mit Annie wollte sie so wenig wie möglich zu tun haben.
Wie verlassen muss sie sich fühlen, wie verwirrend muss alles für sie sein, dachte Annie, die sie beobachtete. An ihr lag es nicht, dass diese Trennung notwendig geworden war – ihre Familie hatte sie zu sehr verwöhnt und nie gestraft, und vielleicht konnte man auch den Kellers keine Schuld geben! Denn es ist schwierig, Strafen für ein Kind zu ersinnen, mit dem man sich nicht verständigen kann. Dank der völligen Freiheit, die sie genossen hatte, zeigte Helen – wie Annie an Mrs. Hopkins schrieb – keine der nervösen Schwächen, die bei blinden Kindern so bedrückend sind. Ihr Drang nach Unabhängigkeit, ihre Furchtlosigkeit würden ihr eines Tages sehr zustatten kommen, wenn sie einmal wirklich bewusst am Leben ihrer Umwelt würde teilnehmen können. Aber wie stelle ich es an, ihr Gehorsam und Selbstbeherrschung beizubringen, ohne ihren Geist zu brechen?
Ja, wie? Hier stand sie vor einem Problem, das zu lösen auch einem älteren und erfahreneren Lehrer Rätsel aufgegeben und Kopfzerbrechen bereitet hätte. Und Annie war jung und unerfahren. Knapp einundzwanzig Jahre alt.
Wie und wann es geschah, ist keinem der Beteiligten jemals klar geworden, aber plötzlich dämmerte es in Helens dunklem kleinem Gemüt auf, dass diese Person da bei ihr kein Ungeheuer war, das sie aus irgendeinem grausamen Grund ihrer Familie entrissen hatte, sondern jemand, dessen Hände sanft und freundlich waren, der mehr Dinge wusste als sogar ihre Mutter und der ihr zeigen wollte, wie man sie macht. Da war jemand, dem man vertrauen, nach dem man sich richten und, mehr noch, dem man gehorchen konnte.
Unter Annies Anleitung brachte sie eine Schürze für ihre Puppe zustande, und es war eine gute Schürze. Sie lernte häkeln, und als sie eine Schnur hergestellt hatte, so lang, dass sie durch das ganze Zimmer reichte, lachte sie in sich hinein und drückte sie liebevoll an die Wange. Und Annie konnte Mrs. Hopkins glückstrahlend berichten:
«Mein Herz jubelt heute vor Freude! Das Licht des Verständnisses ist im Geiste meiner kleinen Schülerin aufgegangen, und siehe da, alle Dinge haben ein verändertes Aussehen bekommen. Das wilde kleine Geschöpf von vor vierzehn Tagen hat sich in ein artiges Kind verwandelt. Helen sitzt, während ich schreibe, heiter und fröhlich neben mir und häkelt an einer langen Schnur aus roter Schafwolle … Sie lässt sich jetzt von mir küssen, und wenn sie in besonders zärtlicher Stimmung ist, sitzt sie sogar auf meinem Schoß … Der große Schritt – der Schritt, auf den es ankommt – ist getan. Die kleine Wilde hat ihre erste Lektion ‹Gehorsam› gelernt. Auch die anderen Menschen bemerken schon die Veränderung, die mit Helen vorgegangen ist. Ihr Vater besucht uns jeden Morgen und Abend, sieht sie zufrieden ihre Perlen aufreihen und nähen, und ruft aus: ‹Wie ruhig sie ist!› Als ich ankam, waren ihre Bewegungen derart heftig und ungezielt, dass man stets das Gefühl hatte, sie habe etwas Unnatürliches und geradezu Unheimliches an sich.»
Helen lernte auch weitere Wörter buchstabieren. Wenn Annie ihr Gegenstände gab, die sie zuvor schon in der Hand gehabt hatte, benannte sie sie rasch, aber offensichtlich konnte sie die Wörter noch nicht mit ihren Wünschen verbinden, denn wenn sie Milch oder Kuchen haben wollte, buchstabierte sie nicht die ihr bekannten Wörter, sondern zog es vor, ihre alten Gesten zu benützen. Aber sie liebte das Fingerspiel und gewann eine große Geschicklichkeit darin.
Eines Tages brachte Captain Keller die Setterhündin Belle mit und war gespannt, ob Helen sie erkennen würde. Der Hund verkroch sich in eine Ecke des Zimmers, sodass Annie vermutete, er habe keine allzu glücklichen Erinnerungen an seine kleine Herrin. Helen war gerade dabei, eine ihrer Puppen zu baden; plötzlich hielt sie inne, schnupperte, ließ die Puppe in die Waschschüssel fallen und tastete sich durch das Zimmer. Ganz offensichtlich erkannte sie Belle, denn sie stieß einen kleinen Freudenschrei aus, ließ sich auf die Knie fallen und umarmte sie heftig. Dann beugte sie sich nieder und fing an, mit einer ihrer Pfoten herumzuarbeiten. Weder Captain Keller noch Annie vermochten zu erraten, was in ihrem Kopf vor sich ging, bis sie sahen, dass die kleinen, flinken Finger die Bewegungen der Buchstaben «d–o–l–l» ausführten.
Helen versuchte, ihrem Hund das Buchstabieren beizubringen!
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