Öffne mir das Tor zur Welt. Helen Waite

Öffne mir das Tor zur Welt - Helen Waite


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zu lassen, wie das jedes gesunde Kind tut; eine Mutter, die es nicht zurückhielt aus Angst, es könne sich verletzen.

      Das sprach sie auch Mrs. Keller gegenüber aus, als die beiden zusammensaßen, nachdem Helen ins Bett gebracht worden war. Mrs. Keller schüttelte den Kopf, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte bisher, ehe Annie kam, niemals irgendjemandem gegenüber einzugestehen vermocht, wie schwer Helens Jahre als Kleinkind gewesen waren.

      «Sie war so ein schönes Kind, Miss Annie, und hatte solch scharfe Augen! Sie konnte eine Nadel entdecken, die niemand sonst sehen konnte. Und an dem Tag, als sie ein Jahr alt wurde, glitt sie von meinem Schoß herunter und rannte auf einen Sonnenstrahl zu. Sie fing auch an zu sprechen. Und dann, mit neunzehn Monaten, wurde sie krank. Noch heute wissen wir nicht, was es war. Die Ärzte nannten es eine ‹akute Unterleibsund Gehirnentzündung›. Einmal, als ich sie badete, entdeckte ich, dass sie blind war, und später wandte sie nicht einmal den Kopf, auch wenn wir laut schrien. Aber niemals konnte ich glauben, dass auch ihr Gehirn geschädigt wurde – glauben Sie das?»

      Annie schüttelte rasch und nachdrücklich den Kopf. «Nein, Mrs. Keller, bestimmt nicht. Ich hatte mit Schwachsinnigen zu tun. Ich weiß es gewiss!»

      «Einige unserer Verwandten sagten, sie sei geistig zurückgeblieben, und wir sollten sie in ein Heim geben. Aber eine Cousine von Captain Keller behauptete immer, sie habe mehr Verstand als jeder andere von den Kellers. Wenn es nur einen Weg gäbe, zu ihrem Geist vorzudringen!»

      Annie schluckte. «Den gibt es, liebe Mrs. Keller. Das hat man schon einmal erreicht. Ich habe mit Laura Bridgman zusammen gelebt, und sie hat vielerlei Dinge studiert, sogar Geometrie und Naturwissenschaften. Sie ist ein ganz wunderbarer Mensch.»

      «Ich habe über sie in Dickens’ Amerikanischen Skizzen gelesen, und da schöpfte ich zum ersten Mal Hoffnung. Aber dann fiel mir ein, dass Dr. Howe gestorben ist und mit ihm vielleicht auch seine Unterrichtsmethode! Etwas später wurde mein Mann von Präsident Cleveland zum Bundespolizeichef von Alabama ernannt, und sein erstes Gehalt benützte er dazu, Helen zu einem Augenarzt in Baltimore zu bringen, von dem wir gehört hatten.» Sie biss sich auf die Lippen. «Es war hoffnungslos, aber er war der Meinung, dass sie bildungsfähig sei, und riet uns, Dr. Alexander Graham Bell in Washington zu konsultieren.»

      «Dr. Alexander Graham Bell?», unterbrach Annie, «ich dachte – das Telefon – ich dachte, er sei ein Erfinder!»

      Mrs. Keller nickte. «Das stimmt, aber zunächst hatte er Taube unterrichtet. Seine eigene Frau ist taub. Nun, wir fuhren nach Washington, und Dr. Bell – das ist der wunderbarste und gütigste Mann, den ich je getroffen habe.» Bei den letzten Worten versagte ihr die Stimme, und sie schaute weg. «Er setzte Helen auf seine Knie, und sie verstanden einander sofort. Er sagte, sie sei ein sehr aufgewecktes Kind, dass man sie selbstverständlich unterrichten könne, und riet meinem Mann, sich an das Perkins-Institut zu wenden. Und, oh, Miss Annie, es war der glücklichste Tag unseres Lebens, als Mr. Anagnos schrieb, dass Sie zu uns kommen würden.»

      Annie spürte, wie ihr die Kehle eng wurde. Die ganze Verzweiflung all dieser Monate und Jahre hilflosen Wartens und Hoffens sprach aus Kate Kellers Augen.

      «Ich will mein Bestes für Sie und Helen tun», versprach sie nüchtern. «Ich habe sie jetzt schon ins Herz geschlossen, und sie lernt rasch.» Sie lachte leise. «Erinnern Sie sich an die Geschichte mit ‹cake› und ‹card› und wie geschickt sie mit den Nähkarten und Perlen umgeht?»

      Helens Mutter erkundigte sich nun, wie Annie mit dem Unterricht vorgehen wolle. Und das war eine gute Frage, denn vorläufig waren Annies Pläne noch recht verschwommen und anfänglich. Sie setzte Mrs. Keller auseinander, dass es zunächst am wichtigsten sei, Helen begreiflich zu machen, dass jedes Ding einen Namen habe. Sie beabsichtigte, ihr Gegenstände wie den Kuchen zu geben, vertraute Dinge wie Karte, Puppe, Tasse, Löffel und ihr so lange die dazugehörigen Wörter in die Hand zu buchstabieren, bis Helen das Wort mit dem Gegenstand verbinden und selbst richtig benützen konnte. Sie erklärte, dass die Tauben jeden Buchstaben des Alphabets durch Fingerbewegungen bezeichnen konnten, und demonstrierte das, indem sie den Namen Helen Keller buchstabierte.

      Dieses Alphabet könne jeder leicht erlernen, sagte Annie. Später solle Helen die Brailleschrift lesen und schreiben lernen, und auch mit Bleistift müsse sie schreiben lernen. In Braille könne sie rechnen und überhaupt alles lernen.

      Kate Keller ließ das winzige Jäckchen für Mildred in ihren Schoß sinken. Hoffnung leuchtete in ihrem Gesicht auf, Hoffnung, die sie fünf Jahre lang begraben hatte.

      «Und das alles können Sie wirklich erreichen, Miss Annie? Ich werde wirklich mit meinem kleinen Mädchen sprechen und erfahren können, was sie denkt? Was denkt sie denn?»

      Was wohl waren in jener Zeit die Gedanken der kleinen Helen Keller? Sie selbst kann es nicht sagen. Gedanken ohne Worte zu bilden ist schwer. Und Worte hat Helen Keller nicht. Erfahrungen sind es, die in ihrem Gedächtnis leben. Sie erinnert sich, wie sie durch eine Unmenge Papier watet und auf ihren Vater – er ist der Herausgeber einer Zeitung – trifft, der etwas vor sein Gesicht hält, was ihr rätselhaft ist. Sie versuchte, das Ding vor ihr eigenes Gesicht zu halten, und setzte sich sogar seine Brille auf, aber das Rätsel löste sich dadurch nicht. Sie erinnert sich, wie sie und Martha Washington einen frisch mit Zuckerguss überzogenen Kuchen stahlen und ihn, bei den Holzstapeln versteckt, aufaßen. Sie erinnert sich, dass sie wütend wurde, als sie ihr kleines Schwesterchen schlafend in der Wiege fand, die sie für ihre Puppe benützte, und dass sie versuchte, die Wiege umzustürzen. Sie erinnert sich, ihre Mutter in der Speisekammer eingeschlossen zu haben, und wie sie ihre Schürze in Flammen setzte, indem sie sie über ein offenes Feuer hielt. Und sehr lebhaft erinnert sie sich an die Reise nach Baltimore zu dem Augenarzt und dann weiter nach Washington.

      Die Leute in den Zügen waren alle sehr freundlich zu ihr. Eine der Mitreisenden gab ihr zum Spielen eine Schachtel voller Muscheln, die ihr Vater durchbohrte, sodass sie sie zu einer Kette auffädeln konnte. Sie durfte sich an den Rockschößen des Schaffners festhalten, wenn er durch den Wagen ging, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Danach gab er ihr sogar seine Lochzange zum Spielen. Das Erstaunlichste auf dieser Reise aber ereignete sich, als ihre Tante ihr eine Stoffpuppe aus Taschentüchern machte – ein ulkiges, schlaffes, formloses Ding. Seltsamerweise waren es nun die nicht vorhandenen Augen, die Helens Aufmerksamkeit erregten. Immer wieder deutete sie auf das Gesicht der Puppe und dann auf ihre eigenen Augen, aber niemandem fiel ein, wie man die Puppe mit Augen versehen könnte. Schließlich leuchtete Helens Gesichtchen auf, sie kletterte von ihrem Platz herunter und tastete sich zu ihrer Tante, unter deren Sitz sie herumsuchte, bis sie den Mantel fand, den die Tante während der Reise getragen hatte. Dieser Mantel hatte einen Besatz aus großen Perlen. Helens kräftige kleine Finger rissen zwei Perlen ab und zeigten dann auf das Gesicht der Puppe. Und als man sie aufgenäht hatte, hüpfte sie vor Freude auf und ab.

      Sie konnte von Dr. Chisholms Urteil nichts wissen, auch ahnte sie nicht, welch schweren Herzens ihre Eltern mit ihr nach Washington fuhren. Aber als sie auf Dr. Bells Knien saß, wusste sie, dass da jemand war, der sie verstand. Und abgesehen von ihrer Familie war dies der erste Mensch, mit dem sie sich verbunden fühlte. Später bezeichnete sie ihn als «meinen ältesten Freund».

      Welcher Art waren ihre Gedanken während dieser fünf Jahre vollständiger Isolation? Jahre später sagte sie, dass sie «wie ein Schiff in dichtem Nebel war, das seinen Weg ohne Kompass, ohne Lot suchen musste». Und dass sie sich «ihrer selbst innerhalb eines Nichts bewusst war. Ich wusste nicht, dass ich nichts wusste, dass ich lebte, handelte. Ich hatte weder Willen noch Verstand … Ich hatte kein Denkvermögen.» Sie bezeichnete sich auch als «ein Phantom in einer Nicht-Welt».

      Was für Gedanken auch immer sie gehabt haben mochte, sie waren schattenhaft und ohne Kontur. Doch sie war sich vieler Dinge bewusst, vor allem wusste sie ganz genau, dass sie anders war als die übrigen Menschen, die keine Zeichen und Gebärden benützten wie sie. Oft stellte sie sich zwischen zwei Personen, die sich miteinander unterhielten, berührte mit den Fingern deren Lippen und bewegte dann ihre eigenen, in dem vergeblichen Versuch, ebenso zu sein wie jene.

      Dieses dringende Bedürfnis, andere Menschen zu verstehen, sich mit ihnen zu verständigen,


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