Öffne mir das Tor zur Welt. Helen Waite

Öffne mir das Tor zur Welt - Helen Waite


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handelte es sich gar nicht um die Zornausbrüche eines ungezogenen Kindes; vielmehr packten sie Anfälle von Schmerz und Verzweiflung über die unüberwindlichen Schranken, die ihren wachsenden Geist gefangen hielten. War sie dann erschöpft, so tastete sie sich an der Buchsbaumhecke entlang in den Garten, wo sie sich in das Gras und die Blumen warf, deren Kühle und Duft ihren kleinen, wutgeschüttelten Körper besänftigten.

      Durch einen dieser Anfälle, in dem Helen mit geballten Fäusten heftig um sich schlug, verlor Annie ihre beiden Vorderzähne. Sie war sehr niedergedrückt an jenem Tag. Ihre Augen schmerzten und waren entzündet. Sie wusste nicht, wie sie mit dieser halsstarrigen kleinen Wilden fertig werde sollte, die noch niemals bestraft worden war und deren Familie sich weigerte, ihre Zügellosigkeit auch nur im geringsten einzuschränken. Sie hatte gehofft, das Kind durch Liebe erreichen zu können, aber Helen war zu wild, zu ungebärdig, sie war für Liebe unerreichbar, sie konnte Liebe nicht erkennen, nicht begreifen. Annie musste einen anderen Weg einschlagen, und zwar bald.

      Vielleicht musste sie an ein anderes blindes, widerspenstiges, unwissendes Kind denken, und wie viel Zeit und Geduld nötig gewesen war, es zu zähmen. Jedenfalls erhob sie den Kopf und beschloss, nicht mehr an den Verlust ihrer Zähne zu denken. Ich muss das Kind von der Familie trennen, dachte sie. Ich will ganz offen mit Mrs. Keller sprechen.

      Die erste Sprosse der Leiter

      Bereits am nächsten Morgen kam es zu einer plötzlichen und heftigen Krise. Vielleicht lag es daran, dass Annie entmutigt und enttäuscht war, vielleicht fürchtete sie das bevorstehende Gespräch mit Mrs. Keller – den Vorschlag, Helen zeitweilig von ihrer Familie zu trennen –, jedenfalls sah sie mit wachsendem Widerwillen zu, wie Helen auf die herumgereichten Teller grapschte. Als sie ihren eigenen Teller in Empfang nahm, wehrte sie die herandrängenden kleinen Hände ab. Sofort verfinsterte sich das Gesicht des Kindes. Sie zwickte Annie. Annie gab ihr einen Klaps auf die Hand. Und das genügte, um einen von Helens Wutanfällen auszulösen. Sie schrie und langte noch einmal nach Annies Teller, und wieder schlug Annie auf die herumsuchenden Hände, obwohl sie sich nur allzu deutlich der schockierten und missbilligenden Blicke der Familie bewusst war. Mrs. Keller öffnete den Mund, dann schüttelte sie den Kopf, und Tränen rannen über ihre Wangen. Sie erhob sich und verließ das Zimmer. Einer nach dem anderen folgte ihrem Beispiel.

      Auch Annie erhob sich, ging aber nur bis zur Tür, um sie zu verschließen. Ihr kamen ebenfalls die Tränen, aber so unglücklich und leer sie sich auch fühlte, sie zwang sich dazu, ihren Platz wieder einzunehmen und das Frühstück fortzusetzen, obwohl sie fast daran erstickte. Was sollte nur werden? So hatte sie es nie gewollt. Sie hatte Helen durch Liebe und Güte gewinnen wollen, doch das war nicht gelungen. Helen betrachtete alles, was man für sie tat, als selbstverständlich. Sie wollte sich nicht lieben lassen. Keines der Familienmitglieder, besonders ihr Vater nicht, konnten sie weinen sehen, deshalb hatte man ihr nie Einhalt geboten, sie nie bestraft. Sie bekam nur dann nicht, was sie wollte, wenn es ihr nicht gelang, sich verständlich zu machen. Das Einzige, was sie zu verstehen und respektieren vermochte, war etwas oder jemand, der stärker war als sie. Annie hoffte, dass sie stärker sein würde. Und da der Kampf nun einmal ausgebrochen war, war sie entschlossen, ihn auch zu Ende zu führen.

      Und es war wahrhaftig ein Kampf! Helen hatte sich auf den Boden geworfen, ließ ihr schauerliches Gebrüll ertönen, schlug um sich und versuchte, Annies Stuhl unter ihr wegzustoßen. Annie hielt ihn fest. Schließlich krabbelte das Kind auf die Füße, um festzustellen, was Annie tat, und als sie merkte, dass Annie weiteraß, versuchte sie aufs Neue, ihr das Essen vom Teller zu reißen. Wieder gab Annie ihr einen Klaps. Das Kind tastete sich um den Tisch herum, schien verblüfft wegen der leeren Stühle, kehrte aber zu seinem eigenen Stuhl zurück und begann selbst zu essen – mit den Fingern. Annie gab ihr einen Löffel, Helen warf ihn auf den Boden. Annie zwang sie dazu, ihn aufzuheben, drückte ihr den Löffel in die Hand und hielt ihn eisern fest, sodass das Kind genötigt war, ihn zum Essen zu benützen. Erstaunen malte sich auf Helens Gesicht, aber sie begriff den Zusammenhang und beendete ihr Frühstück friedlich. Der nächste Kampf entbrannte um das Zusammenfalten der Serviette. Nachdem sie zusammengelegt war, schleuderte Helen sie auf den Boden. Annie biss die Zähne zusammen und zwang sie, obgleich sie wiederum brüllte und um sich schlug, die Serviette aufzuheben und noch einmal zusammenzulegen. Dann endlich ließ sie das Kind in den warmen, sonnigen Morgen hinausgehen. Annie zitterte am ganzen Leib, ihr war übel, aber es gelang ihr, sich hinauf in ihr Zimmer zu schleppen, wo sie auf ihrem Bett zusammenbrach und bitterlich weinte, bis ihr vor Erschöpfung endlich die Tränen versiegten.

      Oh, es hatte keinen Sinn, sie hatte versagt. Captain Keller würde sie bestimmt auffordern, ihre Sachen zu packen. Und wenn nicht, wie konnte sie, wie konnte überhaupt jemand den Zugang zu einem solchen Kind finden?

      Ein tiefer, an Betäubung grenzender Schlaf umfing sie. Irgendwann hörte sie eine sanfte Stimme fragen: «Miss Annie, darf ich hereinkommen?»

      Nur mit Mühe gelang es Annie, sich aufzusetzen, und mit einer vom vielen Weinen heiseren Stimme krächzte sie: «J-ja, t-treten Sie ein.» Es war Mrs. Keller, und wahrscheinlich kam sie, um ihr den Beschluss der Familie mitzuteilen, dass sie nach Boston zurückkehren solle.

      Kate Keller trat ein, blieb einen Augenblick stehen, und als sie das verzweifelte Häufchen Elend erblickte, setzte sie sich neben Annie auf das breite Bett und legte den Arm um sie. «Oh, meine liebe Miss Annie, es tut mir so leid wegen heute Morgen! Wie können wir Ihnen nur helfen? Wir wollen doch das Beste für unser kleines Mädchen, aber auf welche Weise können wir das tun?»

      Annie schluckte, griff nach ihrem durchnässten Taschentuch und nahm dankbar das frische entgegen, das Mrs. Keller ihr reichte. Sie blickte in deren besorgtes Gesicht und begann dann zu sprechen, langsam, tastend, nach den richtigen Worten suchend.

      «Ich glaube, sie muss von der Familie getrennt werden – für eine kleine Weile …»

      «Getrennt?!» Helens Mutter fuhr zurück.

      Annie nickte. «Ja, wenigstens für ein paar Wochen. Oh, Mrs. Keller, können Sie das nicht sehen? Sie – Ihre ganze Familie – haben Helen immer ihren Willen gelassen. Sie hat Sie alle tyrannisiert, auch die Dienerschaft. Wegen jeder Kleinigkeit bekommt sie nun diese Wutanfälle, und um des lieben Friedens willen geben Sie nach. Ich kann ihr weder den Gebrauch der Sprache noch sonst etwas beibringen, solange sie nicht lernt, mir zu gehorchen. Sie muss lernen, sich nach mir zu richten, mir zu gehorchen, mich zu lieben, ehe ich irgendwelche Fortschritte bei ihr erreichen kann. Es hat alles keinen Sinn, solange sie in dem Glauben lebt, bei ihrer Familie alles durchsetzen zu können. Wollen Sie sie nicht bitte mir allein überlassen, nur für eine kurze Zeit?»

      Lange schwieg Mrs. Keller. Dem Ausdruck ihres Gesichtes entnahm Annie, dass ein heftiger Kampf sich in ihr abspielte, von dem sie hin und hergerissen wurde. Endlich blickte sie auf und lächelte traurig. «Ich will jedenfalls darüber nachdenken und sehen, was Captain Keller dazu meint, Miss Annie.»

      Captain Kellers Stellungnahme war Annie recht fraglich. Aber als sie an jenem Abend gebeten wurde, mit Mrs. Keller zusammen in sein Arbeitszimmer zu kommen, wurde ihr bei seinen ersten Worten ganz schwach vor freudiger Überraschung.

      «Ich glaube, dass Sie da einen ausgezeichneten Plan haben, Miss Annie», sagte er herzlich. «Zufällig besitzen wir ein kleines Gartenhaus, etwa eine Viertelmeile von hier entfernt, in der Nähe von Ivy Green, unserer Familien-Plantage. Das können wir für Sie herrichten. Helen ist schon öfters dort gewesen. Sie werden natürlich allein mit ihr bleiben. Aber hätten Sie etwas dagegen, wenn wir jeden Tag einmal zum Fenster hineinschauten, um zu sehen, wie Sie zurechtkommen? Helen braucht von unseren Besuchen nichts zu erfahren.»

      «Nicht im geringsten!», war Annies begeisterte Antwort. «Dürfen wir bald übersiedeln?»

      «Gut. Ja, ich denke, das lässt sich rasch bewerkstelligen.» Er tätschelte ihre Hand. «Meine liebe junge Dame, wir wissen, dass Sie uns zu helfen versuchen.»

      Das kleine Haus, in das sie gebracht wurden, erschien Annie wie ein Stück vom Paradies. Es bestand aus einem sehr großen Raum mit einem gewaltigen Kamin und einem herrlichen Erkerfenster sowie einem kleineren Zimmer, in dem Percy schlafen würde, der kleine


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