Ursian und die unsichtbare Unterwelt. Ursina Schmid
von Willi. Seitdem arbeitet seine Mutter, Wilhelmina Willibald für den Pfarrer Romuald Rommel.
Das Kaminfeuer knistert und verbreitet eine warme, sehr gemütliche Atmosphäre. Immer abends, wenn es draussen kälter wird, entzündet Pfarrer Romuald Rommel ein Feuer im Kamin in der Pfarrhausstube.
Das Pfarrhaus befindet sich am nördlichen Ende des Dörfchens Bacus. Die uralte Kirche, von der selbst Kenner im Zweifel sind, aus welcher Epoche sie stammen könnte, dominiert das ganze Anwesen. Eine niedrige Mauer zieht sich grosszügig um das gesamte Areal, auf dem sich die Kirche, der Friedhof und das Pfarrhaus befinden. Das Pfarrhaus, in dem auch Ursian und Pia wohnen, liegt hinter der Kirche.
Als die zwei Kinder in ihren Betten liegen, denkt Ursian noch lange über die heutigen Vorkommnisse nach. »Warum kann sich Pia nicht erinnern? Sie hat so laut geschrien! Der Schrei ging mir durch Mark und Bein. Auch Imelda muss diesen Schrei gehört haben. Warum sonst sollte sie dermassen schnell in die Kirche rennen?« Das Grübeln bringt Ursian auch nicht weiter, trotzdem kann er seine Gedanken auf nichts anderes mehr lenken. Nach langer, sehr langer Zeit holt ihn die Müdigkeit ein und er schläft einen unruhigen, traumlosen Schlaf.
Genau wie Ursian liegt auch Imelda Proof noch lange wach. Sie lässt die Geschehnisse des heutigen Tages Revue passieren und muss dabei feststellen, dass es wirklich 700 Jahre her ist, seit sie ihn getroffen hat. »Woher ist er nur gekommen? Und wo ist er die ganze Zeit gewesen?«, denkt sie bei sich. Als wäre es gestern gewesen, kann sie sich an die folgenschwere Walpurgisnacht im Jahre 1304 sehr gut zurückerinnern.
2. KAPITEL
Die Hexen der Walpurgisnacht anno 1304, 30. April
Alljährlich treffen sich die Hexen aus der ganzen Welt, um zusammen die Nacht zu Walpurgis zu feiern. Wie jedes Jahr wird auch diesmal über die schaurigen Machenschaften der gesamten Hexenschar berichtet. Die Hexe jedoch, die den stärksten und mächtigsten Zauber anwenden kann, wird fortan die Hexenschar leiten und die Untaten der anderen überwachen. Dabei werden Bosheiten für das ganze nächste Jahr ausgeheckt. Seit nunmehr 150 Jahren ist es immer Crudelis, die den ehrenvollen Titel der Ober-Hexe der gesamten Hexenschar nicht mehr aus ihren Händen gibt. Nachdem Crudelis den Sieg errungen hatte, wurde ihr das Buch der sieben Todsünden ausgehändigt. Genau mit diesem Buch konnte sie ihre Macht noch verstärken, gerade so wie es noch keiner, auch nicht der schrecklichsten Hexe je gelungen ist.
Xantippe, die kleine nette, unscheinbare Hexe mit ihrer bunt geflickten Blümchenschürze und ihren auch für eine Hexe kleinen 140 cm ist die wohl zerstreuteste aller Hexen, sie liegt auf ihrer Wiese genau vor ihrer Höhle. Sie hat einen langen Grashalm im Mund und blickt verträumt den vorbeiziehenden Wolken nach. Sie bemerkt nicht einmal den langen Schatten, den ihre Freundin genau auf sie wirft, als sie neben ihr landet. Aurora betrachtet Xantippe eine Weile, doch dann kann sie nicht mehr an sich halten.
»Ha, ha, ha«, sprudelt es aus ihr heraus. »Du siehst aus, als ob du schon seit Wochen in diese Trance versunken wärst. Ha, ha, ha.«
Ganz Langsam und bedächtig kehrt Xantippe aus ihren Träumen in die Wirklichkeit zurück. »Oh, hallo, Aurora, bist du schon lange hier?«
»Nein, leider musste ich dich stören, du weisst doch, was heute für ein Tag ist?«
»Ah, ja, es könnte Mittwoch oder vielleicht doch schon Donnerstag sein?«, sagt Xantippe unbesonnen vor sich hin.
»Na, das kann ja noch heiter werden! Heute Nacht ist Walpurgisnacht! «
»Au weia, heute, bist du ganz sicher?«
»Also, wusste ich es doch, du hast es vergessen!«
»Nun ja, wäre möglich, aber nun weiss ich es ja und ich komme immer noch rechtzeitig zu der schönen Feier.«
Darauf seufzt Aurora: »Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall, wann hast du das letzte Mal mit einer der Hexen gesprochen?«
Xantippe schaut ganz belämmert aus der Wäsche. »Seit der letzten Walpurgisnacht nicht mehr, die Zeit verging aber auch wie im Fluge.« Darauf mehr zu sich selbst: »Was habe ich bloss getan, in diesem ganzen Jahr?«
»Jetzt sag bloss, dass du nichts mitgekriegt hast von dem ganzen Ärger?«
Zögernd antwortet Xantippe: »Nein, waruuuum solllllte ich?«
»Nun, Rana hat dich doch immer wieder aufgesucht während des Jahres. Ist dir denn nicht aufgefallen, dass sie nie bei dir erschienen ist?«
»Nein, aber jetzt, wo du es sagst, fällt mir auf, dass ich sie wirklich vermisst habe.«
Aurora atmet hörbar aus, bevor sie weitererzählt. »Unsere grosse Ober-Hexe, die mächtigste aller Hexen, ist ihr begegnet. Ancilla, die sich in der Nähe aufhielt, versteckte sich in einem Gebüsch und konnte von dort aus alles beobachten. Rana kam des Weges gelaufen und auf einmal, wie aus dem Boden geschossen, stand die grosse Ober-Hexe Crudelis vor ihr. Ancilla sagt, es sei schrecklich gewesen zu beobachten, wie sich Crudelis an Rana rächte, nur weil Rana die allerschönste Hexe von allen war.«
»Ja, das ist sie wirklich. Was heisst denn hier war? Du willst doch nicht sagen …« In Xantippes Augen bilden sich Tränen und sie vermag nicht mehr weiterzusprechen.
»Also hör zu, es trug sich folgendermassen zu: Crudelis begrüsste Rana mit folgenden Worten. ›Wo gehst du hin? Rana?‹ Darauf antwortete diese: ›Geh mir aus dem Weg, du hässliche Kröte, nur weil du die Ober-Hexe bist, musst du dich hier nicht so aufplustern.‹ Und Ancilla, die dies alles mit anhörte, wäre beinahe in Ohnmacht gefallen vor Schreck. Crudelis, die wegen dieser ungehörigen Bemerkung ganz grün im Gesicht wurde, sagte zuckersüss: ›Nun, du scheinst keine hohe Meinung von der obersten aller Hexen zu haben?‹ ›Ja, ich habe schon immer auf mich selbst gehört und das wird sich wegen dir bestimmt nicht ändern!‹ Ancilla traute ihren Ohren nicht, was hatte Rana bloss vor, dass sie Crudelis dermassen provozierte? Doch genau in diesem Moment nahm Crudelis ihren Zauberstab und verhexte Rana mit folgenden Worten: ›Rana, Rana, ut ranam.‹ Darauf wurde Rana zu einem hässlichen Frosch.«
Xantippe, auf einmal hellwach: »Aber es gibt doch keinen Zauber, den wir gegeneinander anwenden können!«
Aurora: »Ja, das haben wir alle gedacht, aber offensichtlich ist es Crudelis nun doch gelungen, mächtiger zu werden als wir uns das je vorstellen konnten. Einige versuchten, denselben Zauber bei ihren Artgenossinnen anzuwenden, doch zum Glück ist es keiner gelungen. So, jetzt beeil dich, wir sind sehr spät dran.« Aurora ruft ihren Besen und macht sich sofort auf den Weg.
Xantippe muss erst noch ihren Besen suchen, da fällt ihr doch tatsächlich der Zauberspruch, mit dem sie den Besen zum Fliegen bringt, nicht mehr ein. Ratlos steht sie auf ihrer Wiese. Ancilla dachte sich schon etwas Ähnliches und schiesst aus heiterem Himmel wieder zurück: »Dachte ich’s mir doch, du hast schon wieder den einfachsten Zauber vergessen!«
»Ja«, gibt Xantippe klein bei. Da ruft Aurora: »Scopae, vola!« Mit diesen Worten entschwindet sie wieder in den Lüften. Gefolgt von Xantippe.
Gerade als Xantippe und Aurora auf die Wiese fliegen, können sie wieder die merkwürdigsten Dinge beobachten. Ein Hase sitzt da, wie versteinert, Büsche fangen wie aus heiterem Himmel Feuer, Steine kullern ohne Grund bergaufwärts, um dann mit einem riesigen Getöse wieder hinunter zu preschen. Aber auch Hexen werden auf einmal vom Besen ihrer Konkurrentin angegriffen. Dieser ganze Tumult macht auf Xantippe keinen Eindruck, sie sammelt als einzige Blumen und bindet diese zu einem Haarband.
Die anderen Hexen werden sofort auf Xantippe aufmerksam und treiben ihren Schabernack mit ihr. Gerade als sie eine Margerite pflückt, zischt ein greller Blitz knapp oberhalb ihres Rückens vorbei. Und doch noch nahe genug, um eine ihre feuerroten abstehenden Locken zu erwischen, welche mit einem Zisch schmilzt, es riecht sofort nach verbranntem Haar.
In diesem Moment fliegt die grosse Ober-Hexe Crudelis mit einem ohrenbetäubenden Lärm auf die Wiese und fordert alle auf, am Feuer Platz zu nehmen. Die Hexen versammeln sich wie geheissen um das Feuer in der Nacht zu Walpurgis,