Das Kalifornien-Lesebuch. Gunhild Hexamer
Land der Superlative
Die größten Bäume, der höchste Berg, das tiefste Tal, die schönsten Strände, das beste Klima, die erfolgreichste Computerindustrie und die berühmtesten Filmstudios. Die größte Einwohnerzahl und eine Volkswirtschaft, die es auch ohne den Rest des Landes locker mit den führenden Industrienationen aufnehmen könnte. Gibt es irgendetwas, worin Kalifornien nicht die Nummer eins ist im Vergleich mit seinen 49 US-Kollegen?
Dieser Bundesstaat – übrigens der einzige, für den eine deutsche Bezeichnung existiert – ist das Genie, der Klassenbeste und der Playboy der Vereinigten Staaten. Pausenlos zieht er die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich. Bei uns richtet sich der Blick der Medien so häufig auf Kalifornien, als wäre das, was sonst noch zwischen Ost- und Westküste liegt, ein unbedeutender Schmutzfleck auf der Landkarte.
Wir liegen den Hollywood-Stars zu Füßen, bewundern die Kreativen im Silicon Valley und wünschen uns an die Traumstrände des Pazifiks, wo schöne und supercoole junge Leute über die Wellen surfen und das Leben genießen. Und dann reden wir so selbstverständlich von „El Äi“ und San Francisco, als würden diese Städte nicht auf der anderen Seite des Erdballs, sondern höchstens ein paar Autostunden entfernt liegen.
Kalifornien wurde im Chaos des Goldrauschs geboren, der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte. In diesen Jahren trafen Tausende von Goldsuchern, Abenteurern und Geschäftsleuten aus allen Winkeln der Welt ein, um ihr Glück zu versuchen, Chancen wahrzunehmen und Ideen zu verwirklichen. Die kreative Energie, erzeugt durch das Zusammenspiel so vieler unterschiedlicher Menschen, vibriert noch heute im „Golden State“, wie der drittgrößte Bundesstaat der USA auch genannt wird.
Ein eiliger Autofahrer, der Kalifornien in einem Rutsch auf der Interstate 5 durchqueren wollte, müsste rund 800 Meilen zurücklegen. Wir kamen von Norden her, aus Oregon, fuhren Nebenstraßen und hatten es überhaupt nicht eilig. Als wir an der Straße ein blaues Schild mit der Aufschrift „Welcome to California“ erblickten, rollten wir mit unserem Auto rechts auf den Schotterstreifen und stiegen aus. Um das Schild zu fotografieren, vor allem aber, um diesen besonderen Moment zu würdigen: Der Himmel klarte auf, schickte helle Sonnenstrahlen zur Erde, und Kalifornien, das Land der Superlative, lag vor uns wie eine Verheißung.
Eine Stunde später betrachteten wir staunend die Küstenmammutbäume im Redwoods National Park, riesige Kerle mit dicker, gefurchter Borke. Hier irgendwo, an einem geheimen Standort, strebt der höchste Baum der Welt in den Himmel. Hyperion, so heißt der 116 Meter hohe Gigant, und nur die Ranger wissen, wo er steht. Der Alte wünsche keinen Besucherandrang zu seinen Füßen, erklärten sie uns, da sein ausgedehntes flaches Wurzelwerk nur von einer dünnen Bodenschicht bedeckt sei.
Und dann: Einmal im Leben nach San Francisco! Allein der Klang dieses Namens weckt die Sehnsucht. Ich war vor Jahrzehnten schon einmal dort gewesen, jedoch so kurz, dass ich es nicht gelten ließ. San Francisco macht süchtig. „Noch mal!“, möchte man immerzu rufen. Der Meereswind scheint eine Brise in die Stadt hineinzuwehen, die raunt: Alles ist möglich – du musst es nur versuchen! Genau das taten die jungen Leute, als sie im „Summer of Love“ alternative Denkweisen und Lebensentwürfe entwickelten. Von hier verbreiteten sich ihre Ideen über den ganzen Erdball.
Entlang der Küste Kaliforniens verläuft in vielen Windungen der Highway 1, eine der Traumstraßen der Welt. Im Abschnitt Big Sur zwischen Carmel und San Simeon blieben wir in beinahe jeder Haltebucht stehen, um hinunter auf den Pazifik zu schauen. Weiß schäumend brachen sich die Wellen an bizarren Felsformationen, und das Meer leuchtete in all seinen Blautönen. Und direkt jenseits der Straße ragten vor dem zarten Azur des Himmels die grünen Berge der Santa Lucia Range auf.
Ganz im Süden Kaliforniens wuchert die Mega-Metropole Los Angeles ins Umland. Touristen, die hierherkommen, wollen vor allem eines sehen: das legendäre Wahrzeichen in den Bergen über der Filmstadt, den 14 Meter hohen Schriftzug HOLLYWOOD.
An dieser Stelle entfaltete sich am 18. September 1932 ein typisches Hollywood-Drama. Mithilfe einer Leiter kletterte die junge Filmschauspielerin Peg Entwistle auf das „H“ hinauf und sprang aus dieser luftigen Höhe in den Tod, verzweifelt und tief enttäuscht vom Leben. Sie hatte von einer Hauptrolle geträumt und spielte doch immer nur unbedeutende Nebenfiguren. Dabei war ein Angebot für die lang ersehnte Hauptrolle unterwegs – nur kam der Brief zwei Tage zu spät an. Die gruselige Pointe: Entwistle sollte eine Frau spielen, die sich am Ende des Films umbringt.
Verlässt man den Großraum Los Angeles, wird es zunehmend ruhiger, und die Natur darf wieder übernehmen. Dieser Bundesstaat weist eine ungeheure geographische Vielfalt auf. Was es auch sein mag, Kalifornien hat es im Sortiment. Im Osten erstreckt sich die Bergkette der Sierra Nevada mit dem 4421 Meter hohen Mount Whitney, dem höchsten Berg der USA außerhalb von Alaska. Ein Superlativ, mal wieder. Und schön in die Westflanken eingearbeitet sind die berühmten Nationalparks Yosemite, Sequoia und Kings Canyon.
Zwischen Bergen und Meer liegt das Central Valley, Amerikas Obst- und Gemüsegarten, wo auch der kalifornische Wein gedeiht. Der fruchtbare Boden schenkt den Farmern des Tals reiche Ernten. Die Sonne gibt’s gratis, das Wasser hingegen muss teuer bezahlt werden. Wir fuhren an endlosen Orangenplantagen vorbei, die mit wohldosierten Tröpfchen bewässert wurden, und mussten der Versuchung widerstehen, unterwegs Orangen zu klauen, so verlockend war der Anblick der reifen Früchte zwischen den dunkelgrünen Blättern.
Was fehlt noch? Eine richtige Wüste. Kalifornien hat mit der Mojave Desert gleich mehrere Trümpfe auf Lager, denn ein Teil dieser Wüste, das Death Valley, ist die heißeste und trockenste Region Nordamerikas. Zudem liegt hier mit 86 Metern unter dem Meeresspiegel der tiefste Punkt der USA. Ohne Rekorde scheint es im Golden State nicht zu gehen.
Tal des Todes, dieser schaurige Name wurde durch eine Gruppe von Goldgräbern geprägt, die sich 1849 in dem Tal verirrte und wochenlang nicht herausfand. Der Tod schien ihnen sicher zu sein, da entdeckten sie endlich einen Pass, der aus der Hitzehölle herausführte. Auf der Passhöhe drehte sich eine Frau aus der Gruppe noch einmal um und rief: „Goodbye, Death Valley!“
Diese Story und unzählige andere Geschichten ließen einen bunten Teppich aus Legenden entstehen, die von der Vergangenheit und Gegenwart Kaliforniens erzählen. Kommen Sie mit auf eine spannende Entdeckungsreise durch das Land der Superlative!
Die Königin des Goldenen Tors – der Bau der Golden Gate Bridge
Keine wird mehr bewundert. Auf keine werden so oft die Objektive der Kameras gerichtet. Sie ist die Königin!
Zu ihrem strahlend roten Gewand trägt sie gerne einen Schleier aus feinster weißer Nebelwatte. Aber heute nicht. Heute zeigt sie ihr Antlitz unverhüllt.
Verzaubert von ihrer Schönheit und Eleganz bin ich hinter ihr her wie ein Paparazzo.
Als wir von Norden her über die US 101 in Richtung San Francisco rollen, schiebt sich vor uns in der Ferne der erste der roten Brückenpfeiler in den Himmel. Sofort bringe ich meine Kamera hinter der Windschutzscheibe in Position. Meine „Drive-through“-Audienz mit der Golden Gate Bridge, der großen alten Dame Kaliforniens, beginnt.
Viel zu bald kommt hinter dem ersten der zweite Brückenpfeiler in Sicht, noch weit entfernt und schemenhaft im Morgendunst, dann immer größer und klarer – und schon haben wir die Brücke überquert. Majestät hat uns ein huldvolles Lächeln geschenkt.
Doch der Paparazzo in mir ist noch nicht zufrieden. Hinter der Mautstation biegen wir rechts ab und fahren ein paar hundert Meter die Küste entlang, bis wir zu einem Parkplatz kommen. Hier sind die Überreste der alten Verteidigungsanlagen zu sehen, die „Batteries“. Aber wen interessieren alte Geschützstände, wenn sich die Golden Gate Bridge in Fotoschussweite über die türkisblauen Wellen des Goldenen Tors schwingt, der Einfahrt zur San Francisco Bay? Meine Kamera und ich beginnen augenblicklich damit, das hinreißende Motiv einzufangen.