Ich bin, was ich werden könnte. Mathias Wais

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schließlich ganz im Vordergrund. Eine Zeit lang geht das auch gut. Dann aber, zwischen dem achtundzwanzigsten und fünfunddreißigsten Lebensjahr, taucht da ein merkwürdiger Zweifel auf – erst leise und immer wieder verworfen, aber stetig nagend und schließlich unüberhörbar: Ist das eigentlich alles?

      Jetzt bin ich, sagen wir, dreiunddreißig, habe Erfolg im Beruf, bin angesehen, habe ein Eigenheim, eine »passende« Frau dazu, eine Lebensversicherung, außerdem bin ich Vorstand im Kegelverein, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, mein Hobby als Angler macht mir viel Freude – aber trotzdem: All das fühlt sich zunehmend irgendwie hohl, banal, unwichtig an. Steckt nicht noch etwas ganz anderes in mir? Bin ich nicht noch zu ganz anderem berufen? Soll das denn jetzt die nächsten dreißig Jahre so weitergehen? Und das Kreuz tut neuerdings auch weh, obwohl ich doch regelmäßig Sport treibe.

      Solche Zweifel in der Lebensmitte können sich derart verdichten, dass daraus innerlich ein Bild wie von einem Schreckgespenst seiner selbst entsteht. Ich sehe mich selbst in all dem, was ich versäumt und vergessen habe. Meine Beziehungsschulden, meine unerledigten zwischenmenschlichen Aufgaben, meine täglichen kleinen Egoismen, meine Ausweichmanöver in Situationen, die mich zu klarer Stellungnahme herausgefordert hätten – kurz, ich sehe meinen Schatten. Ich sehe ihn mit dem drängenden Gefühl, dass das nicht so bleiben kann, dass es da noch etwas anderes geben muss, das meinem Leben Sinn gibt. Es kann doch nicht der Sinn sein, immer neue Besitztümer anzuhäufen und einflussreicher zu werden. Darin liegt doch ein Versäumnis. Aber was genau habe ich eigentlich versäumt? Worin besteht denn die Dimension, die meinem Leben fehlt? – Das ist die Frage der Lebensmitte.

      Nun ist das keine abstrakt-philosophische Frage, die sich mit dem Besuch eines Volkshochschulkurses klären ließe, sondern es ist ein vital und existentiell erlebter, über Monate, manchmal Jahre durchlittener Selbstzweifel. Ein quälendes Gefühl elementarer Unvollkommenheit des eigenen Seins entsteht. So gelangt man in der Lebensmitte an einen Nullpunkt und fühlt sich von allen guten Geistern verlassen. Es ist eine Schwelle, die spüren läßt, dass das, was so weit getragen hat, nun nicht mehr weitertragen wird. Angst kann entstehen. Es ist eine Selbstbegegnung, als würde man einem Schreckgespenst begegnen. Rudolf Steiner nennt dieses Schreckgespenst den »kleinen Hüter der Schwelle«. Diese Begegnung muss nicht genau so, wie hier zusammenfassend beschrieben, erlebt werden. Sie kann auch einfach als Depression, als Gefühl der Sinnlosigkeit und der Leere auftauchen oder als ungerichtete Ruhelosigkeit.

      Auf jeden Fall gibt es zwei Möglichkeiten, mit dieser Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle umzugehen: Ich kann zum einen den zunehmenden Zweifel zu übertönen versuchen, indem ich mich jetzt noch mehr in das hineinsteigere, was ich schon immer gemacht habe. Dann kaufe ich mir ein flotteres Auto, schließe noch eine Lebensversicherung ab, kaufe eine neue Möbelgarnitur und lasse mir für mein Hobby die neueste Angel aus Kanada kommen.

      Eine andere Möglichkeit, dieser Hüter-Begegnung auszuweichen, liegt darin, dass ich jetzt dramatische Entschlüsse fasse: Ich fange noch einmal ganz neu an, mache meinen eigenen Laden auf, heirate eine andere Frau, oder ich wandere aus und züchte Schafe in Australien. – Darin liegt natürlich nichts Falsches, aber wenn es dazu dient, diesen grundlegenden Selbstzweifeln auszuweichen oder sie schnell zu beseitigen, dann ist es ungesund.

      Ein ganz anderer Weg ist zwar anstrengender, macht aus diesem Tiefpunkt aber einen Wendepunkt: Ich kann versuchen, die Selbstbegegnung auszuhalten und hinzuhören, worauf sie hinaus will. Dann wird mir zunehmend hörbar werden, dass dieser kleine Hüter ungefähr so spricht: Du hast bis jetzt für dich, vielleicht noch für deine Familie gelebt, hast Besitz und Sicherheiten geschaffen – und das war auch richtig so. Aber indem du dich in das äußere Leben so mit Haut und Haar hineinbegeben hast, ist dir eine Dimension verlorengegangen – nämlich die, mit der du ursprünglich angetreten bist. Du bist gar nicht nur für dich selbst auf die Welt gekommen. Du merkst das daran, dass das Erreichte dir jetzt hohl wird, weil es nur dir gilt. Du hattest ursprünglich übergeordnete Ziele und Ideale. In deiner Pubertät hast du dich zunächst bruchstückhaft und vielleicht etwas emotional daran erinnert. Aber dann hast du sie wieder vergessen. Du bist ursprünglich auf die Welt gekommen, weil du einen Beitrag dazu leisten wolltest, dass die Gemeinschaft der Menschen und die Erde sich weiterentwickeln können. Es ist gut, dass du dir dafür in der ersten Lebenshälfte einen persönlichen Ausgangspunkt geschaffen hast. Du hast dir Fähigkeiten erworben, du kannst etwas. Aber jetzt beginnt deine zweite Lebenshälfte, und da brauchst du, um ein sinnerfülltes Leben zu führen, Anschluss an diese Ziele, die über dein persönliches Glück und Weiterkommen hinausgehen.

      Auch diese Hüter-Begegnung muss nicht genau so erlebt werden, wenn man sich ihr stellt. Sie kann einfach eine Horizonterweiterung sein, ein Aufwachen dazu, dass es Wichtigeres gibt als das eigene, persönliche Glück. In der ersten Lebenshälfte, besonders als junge Erwachsene, fragen wir – zu Recht – zunächst: Was hat mir die Welt zu bieten? Jetzt, an diesem Wendepunkt der Lebensmitte, taucht die komplementäre Frage auf: Was eigentlich habe ich der Welt zu bieten? Was kann die Welt von mir erwarten? Womit kann ich mich zur Verfügung stellen?

      Und nun kann man einen elementaren Entschluss fassen, der sich individuell ganz unterschiedlich ausnehmen mag: der Entschluss, sich mit dem, was man hat und was man ist, einzusetzen für übergeordnete Ziele und Ideale. Der Handwerksmeister, der sich einen kleinen Betrieb aufgebaut hat, gibt ihn jetzt auf und geht in ein Rehabilitationszentrum, um Behinderte in einen Beruf einzuführen. Der Arzt verkauft seine florierende Praxis, um am Aufbau des Gesundheitswesens in Indien teilzunehmen. Die Verkäuferin engagiert sich im Dritte-Welt-Laden et cetera. – Aber es müssen auch nicht so programmatische Änderungen eintreten; denn es ist nicht in erster Linie Kühnheit, sondern Entschlossenheit gefordert. Viele meistern diese Lebensmittekrise so, dass sie weiterhin das tun, was sie schon immer getan haben, aber jetzt ein neues, übergeordnetes Interesse damit verbinden. Sie bringen die Entschlossenheit auf, bei einer Sache zu bleiben, auch wenn sie äußerlich nicht so großartig erscheint. Sie haben jetzt, nachdem sie die Phase des Zweifels ausgehalten haben, Zugang zur geistigen Dimension dessen gewonnen, was sie alltäglich beruflich oder privat tun. Vielleicht verbinden sie damit auch gar nicht die großen Ideale, aber sie können jetzt zum Beispiel ihren Mitmenschen neu begegnen, an ihren Kollegen ganz neue, wesenhafte Züge entdecken, vielleicht zunehmend auf den Automatismus von Sympathie und Antipathie verzichten, der unser soziales Leben so unbefriedigend reguliert, und können einen Menschen in seiner Eigenberechtigung anerkennen. – So etwas ist mindestens ebenso wichtig wie das Gesundheitssystem in Indien.

      Dieser Entschluss zum Überpersönlichen, der auf Erden zur Lebensmitte ansteht, antwortet auf den Entschluss, den man einst in der geistigen Welt gefasst hat, als man dort dem »großen Hüter der Schwelle« begegnete. Die Lebensmittekrise ist insofern eine Antwort auf den Entschluss, zur Erde zu kommen. Nach diesem Entschluss hatte man angefangen, sich den irdischen Verhältnissen wieder zu nähern. Dann lebte man sich zunehmend ein auf Erden. Gleichzeitig verlor man aber immer mehr den Anschluss an die geistige Welt. Und jetzt, in der Lebensmitte, in der weitesten Entfernung von der geistigen Sphäre, da entschließt man sich erneut zur Erde, und zwar wiederum zu ihrem überpersönlichen Aspekt, und gewinnt wieder Anschluss an die geistige Dimension.

      Es ist aber nicht so, dass der Fall damit erledigt wäre, dass man, mehr oder weniger bewusst, solche Einsichten hat oder Entschlüsse fasst. Der »kleine Hüter« weicht nun nicht mehr von der Seite, das heißt, ab jetzt ist der Hüter immer dabei, was auch immer man tut und lässt. Ich blicke von nun an, bei allem, was ich tue, auch immer auf das, was ich noch nicht kann, was mir nur unzureichend gelingt, wo ich mich weiterentwickeln muss, um wirken zu können. Und das wird anstrengend. – Auch das Element, Entschlüsse fassen zu müssen, bleibt bestehen. Während sich nämlich in der ersten Lebenshälfte die Dinge meistens noch von selbst ergeben, Freundschaften, berufliche Werdegänge, Interessen, so muss ich das jetzt alles bewusst und mit Willen angehen. Zum Beispiel ergeben sich neue Freundschaften nach der Lebensmitte meist nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie zuvor. Jetzt entsteht Freundschaft eigentlich nur noch, wenn ich das will und bewusst herbeiführe. Ich muss jetzt bewusster auf andere Menschen zugehen. War ich früher noch wie getragen von den Umständen, so muss ich mich jetzt selbst tragen, sonst resigniere ich über die Kümmerlichkeit des Daseins. Der junge Mensch kann immer noch die Hoffnung haben, dass es besser wird. Jetzt muss ich es


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