Ich bin, was ich werden könnte. Mathias Wais

Ich bin, was ich werden könnte - Mathias Wais


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jeweilige Bewusstseinswandel auch nicht abrupt, als umschriebenes Ereignis ein, sondern er kommt allmählich, findet in der Mitte eines Jahrsiebts einen Höhepunkt, und bereits im dritten Drittel eines Jahrsiebts kündigt sich dann schon das Bewusstseinsthema des nächsten an.

      Die Siebenjahres-Zeiträume selbst, die Themen der jeweiligen Bewusstseinshaltung können auch als unterschiedliche und folgerichtige Interesse- oder Fragerichtungen aufgefasst werden. In jedem Jahrsiebt stehen andere Erlebnisqualitäten im Vordergrund. Es gibt hierfür bereits eine Reihe von Beschreibungen11, so dass hier die Jahrsiebte nicht noch einmal im einzelnen charakterisiert werden müssen. In vier Stufen gliedern die Jahrsiebte in der ersten Lebenshälfte das Einleben des Ich in die irdischen Verhältnisse. Im ersten Jahrsiebt geht es um den Aufbau, um die Ordnung des Leibes, die das Ich sich nach und nach zu eigen macht, damit sie ihm als Instrument dienen kann. Im zweiten steht die Ordnung des Gewohnheitslebens im Vordergrund: Klare und wissbare Verhältnisse geben dem Ich die Sicherheit, in der sozialen Welt Fuß zu fassen. Im täglichen Lebensvollzug verbindet sich das Ich mit der Erde. Im dritten Jahrsiebt wird die Ordnung der Seele als eigene erlebbare Ordnung gesucht. Diese Phase beginnt bekanntlich mit einem heftigen Protest gegen die bis dahin von den Eltern und Lehrern übernommene Ordnung. Der Jugendliche will jetzt eigene Wege gehen, die ihm selbst angemessene seelische Haltung zur Welt finden. Und im vierten Jahrsiebt geht es um die Ordnung des Handelns. Der junge Erwachsene versucht nun, ausgehend von seinem Verstand, berufliche und soziale Handlungskompetenz zu entwickeln.

      Im gleichen Zuge, wie das Ich sich in diesen vier Stufen mit der Erde verbindet, löst es sich zunehmend von seiner geistigen Herkunft, so dass mit achtundzwanzig Jahren ein gewisser Endpunkt erreicht ist. Das Ich ist dann vollständig auf der Erde angekommen. Die sich von innen ergebende und wie selbstverständlich einstellende Entwicklung ist nun zu Ende. Das zeigt sich, subjektiv freilich gar nicht bemerkt, daran, dass der körperliche Abbau bereits zu diesem Zeitpunkt, mit achtundzwanzig Jahren also, einsetzt – und zwar ironischerweise zuerst im Gehirn, dem Organ, dessen Tätigkeit im vierten Jahrsiebt im Vordergrund stand, wo es um die intellektuelle Durchdringung und »Behandlung« der Welt ging.

      Der Bewusstseinswandel im fünften Jahrsiebt, an dessen Ende die Lebensmittekrise eintritt, besteht nun darin, dass dieses Ende des Inkarnationsvorgangs und die damit verbundene Ferne von der geistigen Welt ganz allmählich ins Bewusstsein treten – subjektiv als der sich einschleichende Zweifel erlebt, wie oben beschrieben. So kann die Lebensmittekrise als eine Schwelle an der Stelle der Entwicklung aufgefasst werden, an der die Bewusstseinswandlung in eine andere Richtung umschlagen sollte. Die nun folgenden Jahrsiebte bringen, wenn der Lebensmittekrise nicht ausgewichen wird, eine zunehmende Bewusstseinserweiterung in Richtung übergeordneter, überpersönlicher, vielleicht auch spiritueller oder religiöser Gesichtspunkte und Erfahrungen.

      Im Unterschied zur ersten Lebenshälfte handelt es sich in der zweiten um Entwicklungs-Möglichkeiten. Die Lebensmittekrise kann auch umgangen, »verdrängt«, gleichsam überschrien werden durch herbeigeführte dramatische äußere Ereignisse – spontane zweite Heirat, Wechsel der beruflichen Existenz et cetera. Dann können die anschließenden Jahrsiebte ihre bewusstseinswandelnde Kraft nicht in der richtigen Weise entfalten. Insofern handelt es sich beim Jahrsiebte-Rhythmus nicht um einen autonomen Rhythmus wie beim Mondknoten, dessen strukturierende Gestaltungskraft nicht vom Bewußtseinsniveau des Betreffenden abhängt.

      Aus dem Zusammenhang zwischen den Jahrsiebten und der Lebensmitte ergeben sich verschiedene Spiegelungen, wenn man die Lebenskurve als u-förmige Kurve darstellt. Dann können verschiedene Entsprechungen zwischen den Seelenhaltungen der ersten und der zweiten Lebenshälfte deutlich werden – je nachdem, ob man den Spiegelungspunkt im fünfunddreißigsten oder achtundzwanzigsten Lebensjahr ansetzt. Aus der Kurve aber Spiegelungen äußerer Ereignisse entnehmen zu wollen, ergibt jedoch keinen Sinn. Falls es sich nicht um durch das biologische Alter vorgegebene äußere Ereignisse wie Schuleintritt, Pensionierung et cetera handelt, kann die Kurve nur Entsprechungen von Seelenhaltungen, Interessenrichtungen oder Bewusstseinsstufen zeigen. Die Kurve und die auf ihr sichtbaren seelischen Entsprechungen zwischen der ersten und zweiten Lebenshälfte haben deshalb auch nichts mit der in modernen Lebensläufen anzutreffenden Symmetrie zwischen Ereignissen der ersten und der zweiten Lebenshälfte zu tun.

      Man findet eine solche Symmetrie besonders ausgeprägt bei dem ungarischen Musiker Béla Bartók12, aber zum Teil auch in »Jedermanns-Biographien«. Spiegelungspunkt ist dann immer ein Zeitpunkt oder eine Zeitspanne in der Lebensmitte, und die sinnhaft zusammengehörenden Ereignisse gliedern sich paarig um ihn – zum Beispiel zehn Jahre vor dem Spiegelungspunkt erste Heirat, zehn Jahre danach zweite Heirat. Hier geht es also nicht um die Jahrsiebte, sondern um ein übergeordnetes Gestaltungsprinzip, das sich ebenfalls ganz unabhängig vom Bewusstseinsniveau eines Menschen durchsetzt.

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      Die vierfache Ich-Frage – zur biographischen Bedeutung der Pubertät

      Viermal im Lebensgang steht der Mensch vor der aus dem Innern erwachsenden Frage: Wer bin ich eigentlich?

      In stiller Art prägt diese Frage zum ersten Mal das Erleben des fünfjährigen Kindes. Im fünften Lebensjahr entsteht dem Kind ein Bewusstsein von der Polarität der Geschlechter. In sein Erleben tritt die Tatsache, dass die elterliche Hülle aus zwei verschiedenen Menschen besteht, die polar aufeinander bezogen sind. Es wächst ein feines Empfinden dafür, dass, was bisher als einheitliche elterliche Hülle erlebt wurde, einen leichten Riss, eine Aufspaltung in ein weibliches und ein männliches Element zeigt. Natürlich weiß das Kind schon zuvor, dass es Männer und Frauen gibt, aber Geschlechtsunterschied und Geschlechtspolarität treten noch nicht in sein Erleben. Das vierjährige Kind kann die Oma noch fragen: Oma, bist du ein Junge, oder bist du ein Mädchen? Das sechsjährige nicht mehr.

      Als Folge dieses leisen Verlustes der Ureinheit und Wahrnehmung einer grundsätzlichen Spaltung der Menschen in männliche und weibliche tritt die Frage auf: Und was bin dann ich? Bin ich männlich oder bin ich weiblich? – Selbstverständlich weiß das Kind die Antwort. Aber dieses Wissen tangiert noch nicht das Bild, das es von sich selbst hat. Noch der knapp fünfjährige Knabe kann nach einem Marktbesuch zu Hause verkünden: Wenn ich groß bin, werde ich Marktfrau! – Der Junge, der über diese erste Identitätsfrage hinaus ist, will jetzt Obstverkäufer werden. Und er wird dann immer, wenn er auf den Markt zum Einkaufen mitgenommen wird, genau beobachten, was die Männer und was die Frauen auf dem Markt tun.

      Damit ist also im fünften Lebensjahr – in der Psychoanalyse als ödipale Phase bekannt – ein erster Schritt zur Bestimmung der eigenen Identität getan. Ich bin ein Junge. Ich bin ein Mädchen.

      Im neunten Lebensjahr ist das Kind wieder, jetzt aber mit anderem Akzent, vor die Frage nach der eigenen Identität gestellt. Jetzt beschäftigt es sich mit der Frage, inwieweit es eine Verlängerung oder Fortsetzung der Eltern ist und inwieweit eine eigenständige Person. Das nimmt häufig die Form der Findelkindphantasie an: »Eigentlich stamme ich aus einem Königshaus. Meine Eltern, Könige in einem fernen Land, mussten mich aussetzen. Die Leute, die vorgeben, meine Eltern zu sein, haben mich gefunden und großgezogen. Ich muss herausfinden, wo meine eigentliche Heimat und was, demzufolge, meine eigentliche Aufgabe ist, worin mein eigener Lebensweg liegt.«

      Dahinter steht die Wahrnehmung eines Widerspruchs: Ich stamme zwar angeblich leiblich von meinen Eltern ab, aber im Kern meiner Person bin ich ein ganz eigener. Woher kommt mein Ich? Mein Ich kann nicht einfach eine Fortsetzung meiner Eltern sein. – Diese sich oft nur unterschwellig abspielenden Überlegungen wirken sich vorübergehend im Bewusstsein des Kindes so aus, dass es etwas auf Distanz von seinen Eltern geht. Diese werden jetzt kritisch betrachtet. Das Kind hat Einsamkeitserlebnisse. Manche Kinder beschäftigen sich nun mit der Möglichkeit des Todes und stellen sich vor, wie es wohl wäre, wenn sie allein leben würden, ohne die Eltern.

      Auch hier geht die Frage »Wer bin ich?« von einem Verlusterlebnis aus: Eltern, Familie, die häuslichen Abläufe, das täglich Erlebte – all das wird nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie zuvor gesehen. Das neunjährige Kind tritt seiner Welt gegenüber. Bislang hat es darin gestanden. Ich und die Welt sind zweierlei. Es gibt einen Riss, einen Spalt zwischen mir und der Welt


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