Ich bin, was ich werden könnte. Mathias Wais
Man muss sich jetzt gezielt Gedanken machen, aus welchen Quellen man seine Zukunft gestalten will.
Das ist bis ins Körperliche festzustellen. Liegen nicht besondere Krankheiten vor, so erlebt man vor der Lebensmitte seinen Körper nicht. Jetzt aber lastet er zunehmend schwer. Mit etwa achtundzwanzig Jahren fängt der rein physische Abbau an – übrigens fängt er im Gehirn an –, und jetzt muss bewusst etwas für den Erhalt des Körpers, für Gesundheit und Beweglichkeit getan werden, sonst wird der Körper schnell zur Last und schränkt ein. Und seelisch ist das eben auch so. In den Jahren nach achtundzwanzig kann ein seelischer Abbau im Sinne einer um sich greifenden Perspektivlosigkeit beginnen, wenn nicht aktiv Perspektiven erarbeitet werden – und zwar solche, die über das hinausführen, was die eigene konkrete Person belangt.
Wie der Körper ab der Lebensmitte eine Sklerotisierungstendenz zeigt, eine Tendenz zu versteifen und zu verhärten, so ist es auch im Seelischen. Man muss etwas für seine seelische Beweglichkeit tun, aber eben nicht nur während der Lebensmittekrise, sondern ab jetzt immer. Und die Grundgeste dieser Beweglichkeit ist es, über sich selbst hinauszugehen, ein herzliches Interesse für all das zu entwickeln, was nicht Ich ist. Es geht jetzt um eine kontinuierliche Selbsterziehung.
Hier hat auch seinen eigentlichen Platz, was in den letzten Jahren als Biographieberatung bekannt geworden ist. Biographieberatung geht, wie bereits erläutert, nicht von der Frage aus: Wie hätten Sie Ihr Leben denn gerne? Vielmehr: Wie ist Ihr Leben geworden, und wie können Sie es jetzt sinnhaft weiterführen? Wie können Sie innerhalb des Rahmens, der in der ersten Lebenshälfte entstanden ist, so an sich arbeiten, dass Sie Anschluss an die Dimension des Geistigen, des Sinnhaften gewinnen? Biographieberatung kann eine solche Anleitung zur Selbsterziehung, zum übenden Umgang mit sich selbst sein, so wie das ab der Lebensmitte angebracht ist.
Einige einfache Beispiele für solch einen Übungsweg seien hier angedeutet: Man kann sich etwa vier Wochen lang jeden Abend kurz darauf besinnen, wenn man den Tag abschließt, was heute wesentlich und was heute nicht so wesentlich gewesen ist. Man kann sich das jeden Abend mit ein paar Stichworten aufschreiben. Macht man diese Übung, kommt man zu einem überraschenden Ergebnis: Es gibt nichts Unwesentliches. Was mir zunächst unwesentlich erschienen ist, erweist sich bei näherer Betrachtung eigentlich als ein kleines Versäumnis meinerseits.
Da ist er also schon wieder, der kleine Hüter. Dass ich heute morgen über den Staubsauger meiner Putzfrau gestolpert bin, scheint zunächst ein unwesentliches Ereignis zu sein. Aber wenn ich es genau betrachte, sagt es mir, dass ich die Arbeit der Putzfrau nicht ernst nehme und herumlaufe, als wäre sie gar nicht da. Ich habe kein Bewusstsein dafür, dass sie anwesend ist. Also nächste Woche, wenn sie wiederkommt, werde ich sie ansprechen und versuchen, ihre Arbeit bewusst wahrzunehmen.
So banal ist das mit der übergeordneten Dimension. Es geht nicht darum, in der Lebensmitte große Fahnen aufzurollen und aus dem Fenster zu hängen, sondern darum, da, wo man steht – oder, wie in dem Beispiel, wo man stolpert –, sich ganz auf das einzulassen, was vorliegt. Dadurch wird, was da ist, erst vollständig, erfüllt sich und gewinnt geistige Substanz.
Eine andere Übung könnte sein, das Alte neu zu tun. Statt also in der Lebensmittekrise alles hinzuwerfen und das Ticket nach Australien zu kaufen, könnte man sich systematisch damit beschäftigen, all das neu anzusehen und neu zu greifen, was man schon immer tut. Dazu ist es sinnvoll, kleine Gewohnheiten, die sich über Jahre eingeschlichen haben, probeweise einmal für vierzehn Tage zu ändern. Man könnte das Bild im Büro einmal an eine andere Wand hängen, nur für zwei Wochen; und sehen, wie das wirkt. Wenn es dann nach vierzehn Tagen wieder an seinem alten Platz hängt, wird man es neu sehen; und vielleicht sieht man auch sein Büro neu. – Oder man könnte einmal, nur für vierzehn Tage, statt morgens beim Frühstück den Kopf in die Zeitung zu stecken, die eigenen Kinder fragen, wie es denn in der Schule so geht. Danach liest man die Zeitung ganz anders. – Oder man könnte einmal, nur probeweise, den grünen Pulli anziehen, den einst die Schwiegermutter geschenkt hat und der nun seit fünf Jahren im Schrank hängt. Nur einmal zwei Wochen lang. Vielleicht sieht man dann nicht nur den Pulli anders.
Die Lebensmittekrise hat also ihren Sinn darin, auf die Entschlüsse zu antworten, mit denen wir einst auf die Erde gekommen sind. Sie hat nicht den Sinn, jetzt das Irdisch-Materielle zu verachten. Im Gegenteil, sie soll der Ausgangspunkt dafür sein, dass wir dem Irdisch-Materiellen Sinn geben können, dass wir es vervollständigen, dass wir es zu sich selbst führen, indem wir über das hinausgehen, was wir von uns gewohnt sind.
Nun gibt es aber Ausnahmen: Es gibt Menschen, die schon in sehr jungen Jahren konkret an der Verwirklichung ihrer Ideale arbeiten, offenbar aus einer mitgebrachten Selbstlosigkeit heraus. Und es gibt ältere Menschen, die nach überhaupt nichts streben, die keine Lust haben, sich um irgend etwas Übergeordnetes zu bemühen. – Wir können annehmen, dass wir beide Male Menschen vor uns haben, die ein besonderes Opfer bringen. Letztere führen den Materialismus und die Selbstbezogenheit auf die Spitze und führen ihren Mitmenschen damit vor, welche Trostlosigkeit in einem nicht-strebenden Leben entsteht. Und sie können möglicherweise eben dadurch wirken: Sie können Ansporn und Anlass sein für die anderen, sich selbst zu befragen, was Materialismus und Selbstbezogenheit betrifft. Es ist insofern nicht richtig, Menschen zu verurteilen, die über die Lebensmitte hinaus eine materialistische Gesinnung leben, die also nicht aufgreifen, worauf in diesem Kapitel hingewiesen wurde. Sie erfüllen vielleicht auch, indem sie so leben, eine große Aufgabe. Aber es hängt von uns ab, ob wir das so aufgreifen, als Ansporn, als Anlass. Erst dann haben diese Menschen ihre Aufgabe erfüllt, auch ohne dass sie sich dessen bewusst sind.
Und die jungen Menschen, die schon lange vor der Lebensmitte Anschluss an eine geistige Dimension haben und überpersönlich wirken können, opfern vielleicht ihre vollständige Individualisierung – möglicherweise auch, um Ansporn zu sein, aber jetzt aus der anderen Richtung. Sie leben etwas dar, was mitreißen soll. Und sie verzichten möglicherweise darauf, ganz – mit Haut und Haar – auf die Erde zu kommen, wie es der ersten Lebenshälfte gemäß wäre. Sie arbeiten sich nicht so umfassend in die irdischen Verhältnisse ein, bleiben insofern unvollständig, leben in einer gewissen Einseitigkeit, können aber gerade dadurch eine jugendliche Kraft für ihre Ideale zur Verfügung stellen, die der mittelalterliche Mensch nicht mehr hat. Und häufig ist es dann so, dass diese schon jung tätigen und wirkenden Menschen früh sterben oder schwer krank werden. Besonders wenn es sich um Künstler handelt, kann man den Eindruck haben: Sie wollten die Erde nur kurz berühren, die Menschen aufblicken lassen zu den Idealen – und dann gehen sie wieder.
So stehen also auch Ausnahmen noch in dem Sinnzusammenhang der Lebensmittekrise.
5
Die Bedeutung der Jahrsiebte
Man kann die Lebensmittekrise auch als eine Konsequenz aus der Wirkung der Jahrsiebte erachten. Bei dem Rhythmus der Jahrsiebte handelt es sich um eine aus der Ebene der Lebenskräfte, des Biologischen stammenden Gliederung der biographischen Entwicklung. Er ist ein Entwicklungsrhythmus, der von innen kommt – im Gegensatz zum Beispiel zum Mondknotenrhythmus, der von außen, aus kosmischen Abläufen auf den Lebensgang einwirkt. Er konstelliert nicht die zeitliche Gliederung äußerer Ereignisse wie der Mondknoten oder wie die bereits erwähnten Zeitstrukturen. Vielmehr ist die Sieben eine ursprünglich aus der Entwicklung des Organismus selbst hervortretende Zahl. Sie bewirkt von innen her, sowohl beim Kind wie beim Erwachsenen, im Verlauf von jeweils etwa sieben Jahren einen Bewusstseinswandel. Diesen Bewusstseinswandel kann man auffassen als eine stufenweise Annäherung des aus der geistigen Welt kommenden Ich an die irdischen Verhältnisse bis zur Lebensmitte und ein wiederum stufenweises Zurücktreten des Ich von den äußerlichen Verhältnissen ab der Lebensmitte. So sind die Jahrsiebte Inkarnationsstufen bis zur Lebensmitte, hingegen Exkarnationsstufen nach der Lebensmitte.
Es hat also keinen Sinn, die Wirksamkeit der Jahrsiebte in äußeren Ereignisabfolgen zu suchen. Die Jahrsiebte gliedern die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins von innen her. Die Rhythmen dagegen, die in Kapitel 3 besprochen wurden, sind kosmische Rhythmen, keine biologischen. Sie bilden Kräfteverhältnisse der geistigen Welt im Irdischen ab, indem sie sich in der zeitlichen Struktur der äußeren Ereignisabfolgen vergegenwärtigen. Die Aussage: »Alle sieben