Siana. Jasmin Windfeder
Wenn sich Mum wenigstens nach einigen Minuten verabschiedet hätte, aber nein, sie musste so lange jammern, bis sie sich beruhigt hatte. Nicht einmal mein Versuch, das Telefonat zu beenden, funktionierte, da fing sie gleich wieder damit an, dass ich angeblich nicht zuhören kann. Oh doch, und wie gut ich das kann! Aber nicht, wenn ich am Tag zehn Pferde bewege, ein sehr strenges Springtraining absolviere und dann noch die gesamte Stallarbeit gemacht habe.
Ich höre Richards Stimme und will soeben antworten, als mein Oberkörper gegen etwas knallt. Kurz bin ich wie benebelt, bis mir bewusst wird, dass ich gegen Darcons Hals geprallt bin. Er hat das Hindernis verweigert!
»Siana!«, donnert es quer durch die Halle!
Shit! Das bedeutet Ärger.
»Runter vom Pferd!« Seine Augen funkeln mich wütend an, nachdem er mich erreicht hat. Ein Zeichen, dass man besser nicht widerspricht.
Ich hüpfe wortlos aus dem Sattel.
»Was ist los mit dir?« Er nimmt die Zügel in die Hand, die ich ihm reiche.
»Hab schlecht geschlafen«, brumme ich kleinlaut.
»Na und? Ich schlafe dauernd schlecht und kann mich trotzdem konzentrieren!«
»Du bist es gewohnt.« Ich lächle ihn unschuldig an.
Er knurrt unverständliche Worte, verändert dabei gleichzeitig die Länge der Steigbügel. Ohne mich nochmals zu beachten, schwingt er sich selbst in den Sattel und treibt den jungen Wallach an. Kurz sehe ich den beiden nach. Richard ist im Stall berühmt für seinen mangelhaften Schlaf. Wenn man ihn darauf anspricht, was der Grund ist, kommt nur die Antwort, dass er viele Dinge im Kopf hat. Jessica, eine seiner langjährigen Reitschülerinnen, hatte einmal den Mut, ihm den Rat zu geben, dass er es abklären lassen soll, die Antwort darauf war ein zweiwöchiges Stallverbot.
Es ist kein einfaches Thema. Ich könnte jedoch wetten, dass er nicht halb so autoritär wäre, wenn er genügend Schlaf bekommen würde. Eine gewisse Strenge ist ja nicht verkehrt und kann andere fördern, es sollte aber mit Lob ausgeglichen werden. Das ist bei Richard definitiv nicht der Fall.
Ich mache mich auf den Weg in den Stall. Da mir Richard das Pferd weggeschnappt hat, werde ich ihm wohl das Nächste bereitstellen müssen.
Von der Reithalle der Ranch ist es ein Katzensprung, um zum Stall zu gelangen. Tür auf, zwei Schritte machen und schon steht man in der Stallgasse. Es gibt noch einen weiteren Eingang, vom Parkplatz aus, der wird größtenteils von auswärtigen Reitern benutzt. Links neben der Tür hängt ein schwarzes Brett, auf dem sämtliche Reitschüler, Pferde, Kurse und unser Trainingsplan vermerkt sind.
»Willst du Bajan oder soll ich gleich Trojana bereitstellen?«, rufe ich in die Halle, ehe Richard vorbeireitet.
»Trojana.«
Dann scheint der Wallach heute einen freien Tag zu haben. Das wird ihm nach dem gestrigen Springtraining guttun.
»Du reitest mit Bajan aus. Das weckt dich und er wird etwas geschont.«
Zu früh gefreut.
»Wird gemacht, Chef«, verkünde ich.
Ein lautes Grummeln ertönt. Er hasst es, wenn ich ihn Chef nenne, und das bereitet mir wiederum noch mehr Spaß, es zu sagen.
Ich mache mich grinsend auf den Weg zur Stute. Schnell sind beide Pferde fertig und bereits kurz darauf reite ich mit dem braunen Wallach durch den Wald. An Tagen wie heute liebe ich die Ruhe und bin froh, dass hier kaum andere Menschen anzutreffen sind. Dafür hüpft einem gerne einmal ein Känguru über den Weg, um gleich hinter dem nächsten Bäumen zu verschwinden. In diesen Momenten bin ich erleichtert, wenn ich Bajan unter mir habe. Trojana geht bei jedem Geräusch und jedem Monster in den Büschen in die Luft. In dieser Hinsicht kann man kaum glauben, dass die beiden Vollgeschwister sind. Man nennt beide zwar Ausnahmetalente im Springen, aber charaktermäßig sind sie komplett verschieden. Während Bajan der Ruhige ist, verkörpert Trojana die Impulsive.
Ich schließe die Augen, gebe mich den Bewegungen des Wallaches hin und lausche den verschiedenen Vogellauten. Ich atme tief die Waldluft ein, die leicht nach Eukalyptus duftet, und merke bald darauf, wie ich innerlich ruhiger werde. Ein Ausritt wirkt für mich stets wahre Wunder und ist fast so wertvoll wie eine Stunde Schlaf.
Bajan schnaubt. Ich öffne die Augen, brauche einen kleinen Moment, bis mein Blick klar wird und ich die Bäume um mich herum scharf sehe.
Er schnaubt nochmals, woraufhin ich ihm mit meinen Fingern durch die dunkle Mähne fahre und einige Worte flüstere. Wenn es so weiter geht, ende ich bald wie Richard und leide unter Schlafmangel. Es ist nicht nur der nächtliche Anruf von Mum, der mir den Schlaf geraubt hatte, seit Wochen beschleicht mich ein unruhiges Gefühl, welches ich nicht definieren kann. Doch wahrscheinlich brauche ich nur eine längere Auszeit. Urlaub wäre nicht schlecht.
Zwar passieren zurzeit nur kleinere Fehler und kurz die Augen schließen reicht, um mich wieder zur Vernunft zu bringen, aber der Tag wird kommen, an dem ich mich und andere in Gefahr bringen könnte oder gar schlafend vom Pferd falle. Kurz reibe ich mir über die brennenden Augen. Wenn ich doch nur verstehen könnte, was mich in letzter Zeit derart beschäftigt.
Mein Körper erbebt, als Bajan laut wiehert. Aus der Entfernung ertönt ein anderes Pferd. Ein Zeichen, dass wir bald zurück auf der Ranch sind.
***
Einige Minuten später kommen wir am Stall an. Kaum durchschreiten wir das rustikale Tor, mit je einem aus Holz geschnitzten Pferdekopf, sehe ich das fremde Auto stehen. Ein schwarzer Mercedes. Die meisten unserer Kunden sind wohlhabend, aber keiner von ihnen kommt mit einem Sportwagen auf den Hof. Natürlich sind es teure, große Autos, die locker einen Pferdeanhänger ziehen können.
Wer das wohl ist?
Ich steuere Bajan auf den Stalleingang zu und schwinge mich schwungvoll aus dem Sattel. Der Wallach hebt plötzlich interessiert den Kopf.
»Hi!«
Erschrocken zucke ich zusammen und sehe die Person an, der die Stimme gehört. Es ist ein junger Mann, schätzungsweise in meinem Alter. Sein graues T-Shirt, die dunkle Jeans und die schwarzen Sneakers fallen mir sofort ins Auge. Er passt nicht zu unseren üblichen Kunden und schon gar nicht zu diesem protzigen Auto.
»Hallo!«, kommt meine Begrüßung.
Ich würde ihn gern zurechtweisen, aber er sieht mich entschuldigend an und schenkt mir ein schiefes Grinsen. Das besänftigt mich auf der Stelle.
»Ich suche Richard. Weißt du, wo er ist?«
Kurz räuspere ich mich, um meine Sprachlosigkeit wegzubekommen.
»Kommt darauf an, wer das wissen will. Richard ist beschäftigt und duldet kaum eine Ablenkung.«
Ha! Ich habe meine Stimme zurück.
»Mich wird er dulden.« Der hartnäckige Typ, der sich übrigens noch immer nicht vorgestellt hat, sieht mich mit hochgezogenen Brauen an.
»Ach? Und weswegen sollte er bei dir eine Ausnahme machen?«
»Ich bin Kay. Kay Bail!«
»Bail?« Ich runzle die Stirn und beäuge ihn kritisch.
»Ja!« Er sieht mich ebenfalls abschätzend an, da er sich plötzlich nicht mehr ganz so sicher ist, ob ich tatsächlich zur Ranch gehöre. »Ich bin Richards Sohn.«
Ich brauche einen kurzen Moment, bevor ich laut auflache.
»Klar, du und sein Sohn. Wen willst du bitte veräppeln?«
»Ich weiß das Pferde äppeln, aber ich sage dir die Wahrheit.«
Entgeistert betrachte ich ihn. Schwarze Haare, braun leuchtende Augen, muskulös, groß. Außer die Statur erinnert mich nichts an Richard, der braune Haare und grüne Augen hat.
»Keine Ahnung, was du nachts träumst, aber das da«, dabei zeige ich