Ghosting. Sebastian Ingenhoff
Das ist zwei Blocks von mir«, sagte Solana.
»Dann sind wir ja Nachbarn. Ich hab dich aber noch nie gesehen. Du wärst mir aufgefallen.«
»Ich wär dir aufgefallen?«
»Klar, du bist cool. Cooler Style und so. Kein Scheiß, du bist ein cooler Typ. Lass dich ja nicht von so Holzfällern ansaugen. Der hat überhaupt keinen Style.«
»Cooler Style?« Solana guckte an sich herunter. Sie trug ihre abgewetzte Slim Fit Jeans, an den Knöcheln hochgerollt, dazu ein graues Sweatshirt mit dem Wappen der Detroit Tigers und ihre ausgelatschten Leinenschuhe. Alles in allem hatten ihre Klamotten vielleicht dreißig Dollar gekostet.
»Cooler Style«, nickten Ninja, Fanta und Patricia bestätigend.
»Und wo kommt ihr her?«, fragte Solana die anderen.
»Fanta und ich wohnen in Brownsville. Das ist echt mal abgeranzt. Patricia wohnt hier in der Nähe am Skatepark«, sagte Ninja.
»Ist aber auch megaätzend«, rechtfertigte sich Patricia.
»Und ihr heißt wirklich … Ninja und Fanta? Ihr wollt mich doch verarschen, oder?«
»Nein, Fanta heißt echt Fanta. Ist ein westafrikanischer Name. In Westafrika heißt jede Zweite Fanta«, erklärte Ana.
»Und dabei hasse ich diese Plörre«, schwor Fanta.
Solana guckte noch verdutzter.
»Und … Ninja ist auch ein westafrikanischer Name?«
»Nee, Ninja ist … wegen Kampfsport und so. Ninja ist mein Spitzname. Meine Eltern kommen aus der Dominikanischen Republik.«
»Ninja kann echt gut Jiu-Jitsu. Die hätte deinem Holzfäller voll die Nase gebrochen, wenn der die so angesaugt hätte«, sagte Patricia.
»Auf jeden Fall«, bekräftigte Ninja. »Ich meine, wir können das noch nachholen. Wir boxen den zusammen, bis der seine Mami ruft.«
»Nee, lass mal, ist schon gut.«
»Hast du Bock, was zu rauchen?«, fragte Ana. »Wir wollen zur Waterfront. Fluss rauchen.«
»Den Fluss rauchen?«, fragte Solana irritiert.
Sie hatte ja gehört, dass man einen Eimer rauchen konnte. Aber einen Fluss rauchen? Wie stoned waren die denn?
»Klar, wir rauchen den ganzen scheiß East River weg«, grinste Fanta. »Komm mit.«
»Our blunts are burned, so now it’s your turn, to smoke – smoke me a river, yeah, let’s smoke the river …«, sang Patricia auf die Melodie des Justin Timberlake-Songs, und Solana musste das erste Mal, seit sie vor gut drei Wochen aus Bluefields, Nicaragua, in diesem Moloch angekommen war, so richtig laut lachen.
4
Solanas Kopf fühlt sich an, als hätte sie drei Flüsse geraucht. Sie kann die Welt anhalten wie Quicksilver von den X-Men. Wobei Quicksilver die Welt ja nicht anhält, es ist komplizierter. Er ist einfach unfassbar schnell. Solana ist alles andere als schnell gerade. Auch die Menschen um sie herum sind wie festgefroren.
In circa dreißig Sekunden wird sie die Bühne entern und das Mikro zum Mund führen, um die erste Strophe von I started walking zu singen.
Dreißig Sekunden sind eine ewig lange Zeit, wenn man Quicksilver ist.
Dreißig Sekunden sind eine ewig lange Zeit, wenn man schwarze Magie beherrscht.
Dreißig Sekunden sind eine ewig lange Zeit, wenn man schwarzen Afghanen geraucht hat.
Oder was auch immer dieses Teufelskraut war. Solanas Welt ist wie verhext.
»Eines Tages wird die Welt untergehen durch schwarze Magie«, hieß es in einer der Märchengeschichten, die Ur-Oma Olivia immer erzählt hatte. Demzufolge arbeiteten dämonische Kräfte daran, die Erde ins Chaos zu stürzen. Die Geschichte der Menschheit sei untrennbar verbunden mit den Geschichten der Geister und man könne nur hoffen, dass die guten Geister siegen werden.
Solana kann gerade nicht einschätzen, ob sie ein guter Geist ist. Die Magie wächst ihr über den Kopf. Sie kann Ninja sehen, sie hat Blickkontakt mit Ninja, die in der Versenkung an der Rückseite hockt, gemeinsam mit den anderen Tänzerinnen und Tänzern, und ihrer Band. Rock am Schlagzeug, Leeza an Bass und manchmal Gitarre, Mercedes und Skillz an der Elektronik, Dodge an der Percussion. Sie kann sie alle sehen, von der Treppe aus, die nach oben zur Bühne führt.
Huhu! Noch jemand Bock auf Cheetos? Sie wedelt mit der kleinen Tüte, die ihnen die Frau mit dem Pagenschnitt vorhin kommentarlos überreicht hatte, die mitbekommen haben musste, wie geil Cheetos jetzt wären.
Sie schiebt sich zwei der köstlichen crunchy Käseflips in den Mund. Solana passt auf, dass sie nicht mit der Tüte raschelt, denn das Mikro ist bereits an und wenn fünfundzwanzigtausend kreischende Menschen sie kurz vor der Show beim Chips-Mampfen hören, wäre das peinlich. Andererseits hat sie die Welt ja angehalten, von da an können die Leute sie gar nicht hören. Vermutet sie zumindest. Und selbst wenn Solana Ninja winkte, könnte die gar nicht zurückwinken.
Weil … na, weil sie halt stehengeblieben ist wegen der ganzen Scheiß-Magie. Wie gerne würde sie Ur-Oma Olivia anrufen und fragen, ob es nicht irgendein Gegenmittel gegen die Magie gibt. Die Welt anzuhalten, ist prinzipiell eine gute Sache. Aber nicht dreißig Sekunden vor Showtime. Vor allem, wenn man nicht mehr weiß, wie die Rückverzauberung funktioniert.
Die Bühne ist stockdunkel, finster, man sieht die Hand vor Augen kaum. Lediglich die Handys und Kameras blitzen bedrohlich, der Bass brummt und donnert. Gleich müssten die Hi-Hats einsetzen, die zischeln wie Schlangen in einer Grube, und dann wird sie endlich das Mikro zum Mund führen und hinein ins Blitzlichtgewitter laufen.
Der Weg ist eigentlich kinderleicht. Sie muss einfach die letzten Stufen und geradeaus. Ein Katzensprung. Easy. Absolut kein Ding. Die Katakomben hingegen nahmen kein Ende. Das war ja nicht auszuhalten. Meilenweit war sie durch die Katakomben gelatscht, mit Ana, gefühlt an die zwei Stunden waren sie unterwegs gewesen. Als würden die Katakomben durch halb Tokio führen. Sie musste an den Witz denken, den Fanta neulich erzählt hatte: »Warum haben es die Inder so weit bis zu den Toiletten? – Weil die am Ende des Ganges sind!«
Sie reicht dem Security-Typen, der an der Treppe postiert ist, vorsichtig die Tüte, zupft sich ein letztes Mal das Tuch zurecht, prüft nach, ob es auch richtig auf dem Kopf liegt.
Ihre Hand zittert ein wenig, aber das ist normal. Das tut sie immer kurz vor der Show.
Solana García López, geboren an einem 31. Oktober als Tochter von Jose García de Alvarado und Lisa López in Blue-fields, Nicaragua, zupft sich ein letztes Mal ihren Blouson zurecht, den Blouson mit dem berühmten Skorpionmuster, der zeigt, um was für ein Sternzeichen es sich bei der im Blouson befindlichen Person handelt. Denn dass sie ein ziemlich skorpionhafter Skorpion sei, wurde ihr immer wieder bescheinigt. Dickköpfig sei sie, wie Ty betonte, kompromisslos, eigenwillig, jemand, der seinen Weg gehe und manchmal den Stachel dafür einsetze.
»When I started to walk«, lautet die erste Zeile von I started walking, dem Song, den sie in ungefähr dreißig Sekunden anfangen wird zu singen. Wenn die Magie hoffentlich aufgehört hat zu wirken. Der geborene Kämpfer und Jäger sei der Skorpion, jemand der sich durchsetze. Solana bedeutet wortwörtlich Sonnenseite und das hatte sich ihre Mutter natürlich schlau ausgedacht, denn an einem Tag im Morgen wird eine neue Sonne aufgehen, die die ganze Erde erleuchten wird, hieß es im Lied der Sandinista, und in Bluefields geht die Sonne tatsächlich morgens im Meer auf, weil Bluefields an der Ostküste Nicaraguas liegt, an der Karibikseite, der Sonnenseite. Wobei Bluefields alles andere als malerisch und an manchen Stellen sogar ziemlich verwahrlost ist. Doch dass Solana eines Tages die ganze Erde erleuchten würde, das hatte ihre Mama immer gewusst. Anders als Ur-Oma Olivia war sie davon überzeugt, dass man die Welt nur über die Musik retten könne. Music is the healing force of the universe,