Drei Historische Liebesromane: Das 1500 Seiten Roman-Paket Sommer 2021. Alfred Bekker
zum Schlag erhoben, da ließ ihn ein Ruf augenblicklich innehalten.
„Toruk!“
Ein Mann mit weißem Haar und einem ebensolchen, dünnen Bart stand da, gestützt auf einen Stock aus Hartholz, der ihm bis zur Schulter reichte und mit mannigfachen Schnitzereien versehen war. Der Alte wurde von zwei jungen Kriegern flankiert, die beide mit Schwertern sowie mit Pfeil und Bogen ausgerüstet waren.
Toruk sah dem Alten wie aus dem Gesicht geschnitten aus. Es war sein Vater. Zweifellos traf Toruk die meisten Entscheidungen, aber der Alte genoss enormes Ansehen und war offenbar vor ihm der Anführer des Stammes gewesen. Soweit Li mitbekommen hatte, war sein Name ebenfalls Toruk und er hatte die meisten Führungsaufgaben längst seinem Sohn überlassen. Aber niemand nannte ihn bei seinem Namen. Stattdessen wurde er nur der Ruhmreiche genannt. Allerdings lagen die Tage seines Ruhmes wohl schon lange zurück. Jetzt konnte er froh sein, sich über längere Zeit auf zwei Beinen zu halten.
Der jüngere Toruk drehte sich zu seinem Vater herum und ließ dabei die Klinge sinken.
„Ich höre deine Stimme, Vater!“, sagte er.
„Ich will, dass die Papiermacher zu mir gebracht werden. Sofort.“
„Ja, Vater...“
Der alte Toruk deutete auf den Schädel zu Lis Füßen. „Schaff die Fratze dieses Tanguten fort... Sie erinnert mich an die Gesichter der Männer, die ich im Kampf erschlug... Eines Tages verfolgen dich die Seelen der Erschlagenen im Schlaf, Sohn Toruk. So sagt es der Prophet Mani und ich will nicht, dass hier etwas geschieht, das vor den Augen Gottes abscheulich wäre. Es gibt keinen Glauben, der nicht die Toten verehrt, auf dass sie nicht zornig werden. Willst du da die einzige Ausnahme in der weiten Steppe sein, mein Sohn?“
„Nein, Vater“, murmelte der junge Toruk, in dessen Adern das Blut im Augenblick kochen musste. Aber wenn es auch sonst kaum eine Macht geben mochte, die dazu in der Lage war, ihm Beherrschung aufzuzwingen, so bildete sein Vater hier wohl die Ausnahme.
Warum hatte er nur zuvor so lange geschwiegen? Warum hatte er dem perfiden und den Glauben jedweden Bekenntnisses verhöhnenden Spiel seines Sohnes tatenlos zugesehen? Diese Gedanken beherrschten Li jetzt. Wäre nicht zuvor schon genug Anlass gewesen, dem Hang zur Grausamkeit bei dem Sohn Toruks zu dämpfen? Li schluckte, aber sie senkte den Blick nicht, als er sich noch einmal zu ihr umdrehte.
„Du hast Glück, dass mein Vater ein so großes Herz hat“, sagte er. „Das sollte dich beschämen, Han-Frau!“
Er rief einen der Gefangenen herbei und befahl ihm, den Schädel fortzubringen. „Verbrenne ihn auf der Anhöhe dort hinten!“, forderte er. „Aber warte mit dem Entzünden des Feuers, bis sich der Wind in eine andere Richtung gedreht hat, auf dass wir den Gestank des Tanguten nicht ins Lager geblasen bekommen.“
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Etwas später wurden Li, ihr Vater und Gao in das Zelt des alten Toruk geführt. Er saß auf einem Teppich und hielt ein Buch in der Hand. Es war in einen Ledereinband gefasst und zweifellos bestanden die Seiten aus Papier, denn sie waren viel zu dünn, um aus Pergament oder Papyrus gemacht zu sein.
„Setzt euch!“, verlangte der ältere Toruk.
Die Gefangenen gehorchten und der alte Mann verlangte von den Wachen, dass sie das Zelt verließen. Sie waren erst etwas irritiert. Aber nachdem der Ältere Toruk sie ein zweites Mal aufforderte, gehorchten sie schließlich.
„Mein Sohn sagt, ihr beherrscht die Kunst des Papiermachens“, sagte der Ältere Toruk dann.
Wang neigte den Kopf, so wie er es gegenüber hohen Würdenträgern oder Beamten des Herrn von Xi Xia gewohnt gewesen war und auch Li und Gao hielten ihren Blick gesenkt.
„So ist es, Herr“, sagte Wang. „Ich bin Meister dieser Kunst, aber meine Tochter steht mir inzwischen in nichts nach und auch mein Geselle Gao versteht sich darauf, Papier von allerhöchster Qualität zu schaffen.“
Der ältere Toruk hob die Augenbrauen. „Hast du deine Tochter dieses Handwerk gelehrt?“
Wang verneigte sich tief. „Ja, Herr.“
„Es ist ungewöhnlich, dass ein Vater seiner Tochter solche Künste lehrt, anstatt die Dinge, die eine Frau wissen sollte, um gut verheiratet zu werden.“
„Es ist ja nicht so, dass sie diese Dinge nicht ebenfalls gelernt hätte“, antwortete Wang. „Aber keiner meiner Söhne lebt mehr und ich wollte nicht, dass eines Tages meine Kunst mit mir stirbt, ohne, dass sie meinen Nachfahren noch von Nutzen sein kann. Und davon abgesehen ist das Wissen um sie das einzige nennenswerte Gut, das ich vererben kann.“
„Es ehrt dich, dass du so weit in die Zukunft denkst – wenngleich das in deiner jetzigen Lage sinnlos erscheinen mag, aber andererseits werden Papiermacher in Ländern von Chorasan und Persien dringend gesucht, sodass du einst gewiss dein Auskommen haben wirst, Han-Mann!“ Der ältere Toruk beugte sich vor und fuhr dann fort: „Hast du gewusst, dass es in Buchara und Samarkand eigene Viertel gibt, in denen Leute mit schmalen Augen leben? Leute wie ihr?“
„Man erzählt viele Dinge über die westlichen Länder“, sagte Wang. „Und es ist schwer zu beurteilen, was davon stimmt und was nur der Legende entspringt.“
„Einer Legende nach hat es vor zweieinhalb oder drei Jahrhunderten eine Schlacht zwischen den Arabern und den Truppen des Mittleren Reiches gegeben, bei dem die Soldaten des Himmelssohnes eine verheerende Niederlage erlitten und all ihre westlichen Gebiete verloren. Nur so konnten sich wohl auch diese verfluchten Tanguten-Emporkömmlinge, die sich Kaiser nennen, von elenden Vasallen zu unabhängigen Herrschern emporschwingen. Damals sollen mit den Kriegsgefangenen die ersten Papiermacher nach Samarkand und Buchara gekommen sein, wo man fortan mehr Bücher geschrieben hat, als ein einzelner Mensch in zwei Leben zu lesen vermag.“ Der Ältere Toruk lächelte in sich hinein. Erinnerungen schienen in ihm im Augenblick wieder gegenwärtig zu sein. „Als ich noch ein junger Mann war, ritt ich einmal durch die Tore von Samarkand. Ich habe eine Stadt gesehen, die prachtvoller war, als alles, was ich bis dahin gesehen hatte. Aber einer wie du wird wohl behaupten, dass meine Bewunderung nur daher rührte, weil ich die Residenz der Himmelssöhne in Bian nie gesehen habe.“
Wang blieb höflich, so wie man es ihm beigebracht hatte. Und Li bewunderte ihren Vater in solchen Situationen für die Ruhe, die er zu bewahren wusste. Ihr selbst kam es manchmal so vor, als müsste sie explodieren, wie einer der Feuerwerkskörper, die man im Reich der Mitte zu Ehren des Kaisers bei besonderen Anlässen entzündete. Sie selbst hatte das nie gesehen, denn in Xi Xia hatte es solchen Luxus nicht gegeben. Aber ihr Vater hatte ihr mit so großer Lebendigkeit davon erzählt, dass sie glaubte, es sich sehr gut vorstellen zu können.
„Man erzählt sich viel über die Städte des Westens“, sagte Wang. „Über Samarkand, über Bagdad und vor allem über Rom...“
„Rom?“, fragte der Ältere Toruk stirnrunzelnd.
„Man sagt, es gäbe neben dem östlichen Reich der Mitte auch ein westliches Reich der Mitte, in dessen Mittelpunkt Rom liegt... Zwei Reiche und zwei Kaiser, die die Welt ausbalancieren wie die Gewichte einer Waage.“
„Wer weiß, ob du von diesem westlichen Reich nicht mehr zu sehen bekommst, als es mir vergönnt war“, sagte der Ältere Toruk. Fast klang darin ein wenig Bedauern mit. Er hob das Buch, das er schon die ganze in der Hand gehalten hatte. „Ich glaube an die alte Lehre des Propheten Mani – und nicht an die neue des Propheten Mohammed, der auch so viele junge Leute in unserem eigenen Volk verfallen sind. Und ich habe mich immer gefragt, warum die Lehre Mohammeds so viel machtvoller ist als jene des Mani ist und warum sich der Glaube an Allah scheinbar von allein verbreitet...“
Li hielt den Blick gesenkt. „Habt Ihr eine Antwort darauf