Drei Historische Liebesromane: Das 1500 Seiten Roman-Paket Sommer 2021. Alfred Bekker
ausgelegt. „Evangelia, seht Euch das nur an, was hier drin zu finden ist!“, rief er auf seine etwas zur Theatralik neigende Art. Dass ausgerechnet ein Blinder jemanden zum Sehen aufforderte, gab der ganzen eine Angelegenheit eine unfreiwillig komische Note.
„Das sieht aus wie die Reste eines Seils!“, meinte Li.
„Und genau das ist es wahrscheinlich auch gewesen! Ein Hanfseil, das eine Hose an ihrem Ort gehalten hat und noch in ihren Schlaufen steckte oder in den Kragen eines Umhangs eingenäht war! So etwas muss man doch entfernen! Da kann man doch nicht einfach einen Haufen Lumpen blind zerstampfen, ohne sich vorher zu vergewissern, dass an ihnen nichts mehr ist, was da nicht hineingehört...“ Er deutete auf die anderen Tagelöhner, von denen sich keiner einer Schuld bewusst zu sein schien. „Evangelia, lasst doch mich in Zukunft alle Lumpen kontrollieren, bevor sie in den Stampfbottich kommen, damit so etwas nicht wieder vorkommt!“
„Gut“, gab Li nach, die schon des öfteren von ähnlicher Weise vom blinden Christos bedrängt worden war, ihm die Endkontrolle der Lumpen zu überlassen.
„Herrin, das ist nicht Euer Ernst!“, entfuhr es nun einem der anderen Tagelöhner. „Wollt Ihr über uns spotten, dass Ihr einen Blinden die Lumpen überprüfen lasst?“
„Seine Augen sind nicht die besten, aber seine Sorgfalt ist am größten“ erklärte Li ruhig. Sie dachte an die Worte des Weisen Lao-she, die ihr Vater oft auf den Lippen geführt hatte, wonach man eine Schwäche, die nicht zu beseitigen war, nach Möglichkeit in eine Stärke umwandeln sollte. Christos erschien ihr manchmal wie ein praktisches Beispiel dieses Lehrsatzes aus uralter Weisheit.
Der blinde Tagelöhner wollte gerade die Fasern zu den anderen auf den Boden legen und versicherte ihr wortreich, dass er diesen Abfall später noch beseitigen würde, da kam Li plötzlich ein Gedanke. „Gebt sie mir!“, verlangte sie.
Sie nahm das feuchte Stück aus teilweise zerschlagenen und nur noch schwach zusammenhängenden Fasern aus der Hand und hob auch diejenigen Stücke auf, die Christos auf den Boden gelegt hatte.
Während sie sie zwischen ihren Händen zusammenpresste, quoll Feuchtigkeit hervor und dann ihr die Arme entlang. Ein Seil...Hanf... Li erinnerte sich daran, wie die Händler in den Gassen von Bagdad das Haschisch daraus gewonnen hatten. Aber musste es nicht auch möglich sein, Papier daraus herzustellen? Papier, das vielleicht nicht dieselbe Qualität hatte, als wenn es aus reinen Lumpen gemacht worden war, aber dafür vielleicht sehr viel preiswerter angeboten werden konnte? Schließlich überstiegen die Preise für Lumpen jene für Hanfpflanzen bei weitem, die im übrigen auch von allein heranwuchsen, wenn man sie irgendwo anbaute und ihnen genügend Wasser gab, während Kleider erst mühsam gewoben werden mussten und oft genug so lange getragen wurden, dass ihre Fasern an vielen Stellen schon auseinanderfielen, noch ehe sie überhaupt in einen Stampfbottich gelegt worden waren.
Sie nahm die Reste des Gürtelseils in den Nachbarraum. Es käme auf einen Versuch an!, ging es ihr durch den Kopf.
Im Reich der Mitte verwendete man schließlich auch durchaus pflanzliche Zusätze bei der Papierherstellung. Bambus war dazu hervorragend geeignet. Aber Bambus gab es in den Ländern des Westens nicht. Den Grund dafür konnte sie sich zwar nicht erklären, denn das Klima im östlichen Reich der Mitte war von dem seines westlichen Gegengewichts nicht so verschieden, als dass man hätte annehmen müssen, dass Bambus hier nicht gedeihen konnte. Aber er es war nun einmal so, dass er hier vollkommen unbekannt war. Li hatte zwar auch bereits erste Versuche unternommen, hier im Westen übliche Holzarten in den Papierbrei einzubringen. Das hatte sie allerdings sehr schnell wieder aufgegeben. Die Resultate waren nämlich mehr als unbefriedigend geblieben. Kleinere und größere Holzstücke hatten die bei diesen Versuchen entstandenen Blätter verunreinigt. Das war nicht nur ein Problem der Ästhetik, sondern es konnte mitunter auch den Schreibfluss behindern, wenn man mit Feder und Tinte über das Papier fuhr.
Die Frage, was sie dabei wohl falsch gemacht hatte, beschäftigte Li seitdem. Denn wenn man man die Wespen beobachtete, wie sie ihre Papiernester aus dem Holz von Dachbalken und Fensterläden erschufen, dann konnte das nur daran liegen, das diese Geschöpfe diese Kunst an irgendeinem entscheidenden Punkt besser beherrschten als Li.
Vielleicht werde ich eines Tages herausfinden, was der Grund ist!, ging es ihr durch den Kopf. Ihr Blick glitt dabei noch einmal zum offenen Fenster. Die Laden standen offen. Ein dünnmaschiges Eisengitter verhinderte, dass jemand etwas hereinwerfen und oder gar durch das Fenster eindringen und stehlen konnte. Nur der obere Teil war mit Alabaster verhängt, sodass man unten hinausblicken konnte – oder hinein. Es gab immer wieder Menschen, die stehen blieben und ihr dabei zusahen, wenn sie Formen für Wasserzeichen schuf.
Sie trat näher an das Fenster heran und dachte daran, wie sie Arnulf von Ellingen nachgeblickt hatte.
Ihr wurde ganz warm bei dem Gedanken und die Frage, ob man aus den Fasern eines Hanfseils Papier machen konnte, dass diese Bezeichnung auch verdiente, erschien ihr plötzlich nur von zweitrangiger Dringlichkeit. Sie dachte an den Blick seiner grünen Augen, an den Klang seiner Stimme und an die Art, wie er lächelte. Wenn es möglich war, dass zwei Menschen sich wiedertrafen, die allen äußeren Umständen nach so wenig dafür bestimmt zu sei schienen wie sie und Arnulf – dann konnte es eigentlich nichts geben, was nicht geschehen konnte. Li spürte, wie ihr Herz schneller schlug – aber nicht aus Furcht oder Erschöpfung, wie es bisher in ihrem Leben so oft der Fall gewesen war, sondern vor freudiger Erregung.
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Am Abend schritt Li durch die hohen, einschüchternd wirkenden Säulen in einem der endlosen Gänge des Kaiserpalastes. Christos begleitete sie und trug in jeder Hand ein großes Bündel mit Papierbögen. Sie waren sorgfältig in Leinentücher eingeschnürt.
Li trug ebenfalls ein Bündel unter dem Arm. Während des kurzen Weges bis zum Kaiserpalast hatte sie es stets so unter ihrem Umhang verborgen, dass es möglichst unauffällig wirkte.
Sein Inhalt war unbezahlbar.
Es war die Form jenes Wasserzeichens, das für das Briefpapier des Ersten Logotheten für Dokumente verwendet wurde, die dieser im Namen des Kaisers selbst unterzeichnete. Botschaften, die einen offiziellen Charakter hatten und bei denen dieses Wasserzeichen - neben dem Siegel und dem Federstrich – ein Merkmal ihrer Echtheit waren.
Auch wenn solche Wasserzeichen erst seit kurzem in Gebrauch waren, so musste man doch auch jetzt schon davon ausgehen, dass früher oder später versucht werden würde, sie zu fälschen – und dem musste unter allen Umständen vorgebeugt werden.
Vier Wächter – riesenhafte, bärtige Männer aus der Waräger-Garde des Kaisers – hatten Li und Christos in ihre Mitte genommen und begleiteten sie auf ihrem Weg durch den labyrinthischen Palast. Nie zuvor hatte Li ein so großes Gebäude betreten, das immer wieder erweitert worden war. Es gab einen eigenen Hafen, von dem aus der Kaiser für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Mauern der Stadt einem Angriff einmal doch nicht standhalten konnten, sofort auf ein Schiff fliehen konnte. Ragnar der Weitgereiste hatte ihr außerdem erzählt, dass es eine direkte Verbindung zur Hagia Sophia gab – und eine zum Hippodrom. Denn sowohl zum Gottesdienst als auch bei den Pferderennen zeigte sich der sonst so entrückte Kaiser dem Volk in einer Nähe, die auch ihre Gefahren mit sich brachte, denn wenn beispielsweise ein Tumult unter den schätzungsweise hunderttausend Zuschauern im Hippodrom ausbrach, gab es keine noch so tapfere Leibwache der Welt, die dann noch in der Lage gewesen wäre, ihren Herrscher zu schützen.
Die Wachen führten Li und Christos in einen hohen Raum, dessen Wände mit kunstvollen Mosaiken verziert waren, die allesamt Motive aus der Bibel und aus dem Leben Jesu zeigten. Li war nicht zum ersten Mal in diesem Raum, in dem Petros Makarios, seines Zeichens erster Logothet des Kaisers, seine Schreibarbeiten und den Empfang von minderwichtigen Gästen zu erledigen pflegte, denen kein diplomatischer Rang zukam. Manchmal empfing er hier in aller Abgeschiedenheit und ohne lästige