Auslöschung. Anthony J. Quinn
Ihnen jemand ein, der ihn gerne tot gesehen hätte? Vielleicht ein unzufriedener Mandant?«
»Unsere Kanzlei befasst sich fast ausschließlich mit den Alltagsgeschäften des menschlichen Miteinanders: Verträge, Auflassungserklärungen, Testamente … Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass sich ein Mandant so über Joseph aufregen könnte, dass er ihn umbringen möchte. Allerdings gab es einmal einen Fall, bei dem er mitten auf einer Beerdigung einen Schriftsatz überbracht hat. In dem Moment, als Joseph dem Mann die Papiere aushändigte, wurde dessen Vater ins Grab hinabgelassen. Ich glaube, dass er sich über die emotionalen Auswirkungen nicht im Klaren war. Aber das ist lange her, das war in den Siebzigern. Abgesehen davon fällt mir kein Grund ein, warum ihn jemand hätte umbringen wollen.«
O’Hare erlag seiner Neugier und nahm eine Lockente in die Hand.
»Wir sollten den Wert dieser Stücke taxieren lassen«, sagte er, ohne sich allzu sehr für die Enten zu interessieren. Vielmehr blickte er forschend im Zimmer umher.
»Vielleicht sollte ich einen Mitarbeiter schicken, der sich ein bisschen Zeit nimmt und Josephs Hinterlassenschaften durchgeht. Es gibt auch bei Lockenten Antiquitäten, für die es Sammler gibt. Man müsste eine Vermögensaufstellung machen. Sie könnten unseren Mann ja im Haus einsperren und durchsuchen, wenn er rauskommt. Die Wertgegenstände lassen sich sicher in ein, zwei Stunden erfassen.«
»Und ihn durch eventuelle Beweisstücke wühlen lassen? Sie sollten eigentlich besser Bescheid wissen, als mir so was vorzuschlagen.«
»Ja, ja, natürlich, Sie haben recht.«
O’Hare warf Daly erneut einen Blick zu, um festzustellen, wie sehr sich der im Raum stehende Verdacht verdichtet hatte. Er musste es auf andere Art versuchen.
»Wurde die Leiche denn zweifelsfrei identifiziert?« Um einen persönlicheren Ton bemüht, neigte er sich bei der Frage zu Daly.
»Wenn nicht, dann haben Sie sich unbefugt Zutritt in das Haus eines Vermissten verschafft, und wir haben zwei Straftatbestände zu klären, nicht bloß einen. Halten Sie es denn für ausgeschlossen, dass er durch fremde Hand zu Tode kam?«
»Seltsam finde ich es schon.«
»Was ich seltsam finde, ist, dass Sie, nur weil ein Officer heute Vormittag anruft, alles stehen und liegen lassen und hierherkommen. Das ist wirklich seltsam. Devine war nur ein kleiner Angestellter Ihrer Kanzlei, und er war seit längerer Zeit nicht mehr für Sie tätig.«
»Ojemine«, seufzte O’Hare. »Alles an dieser Situation – die Umgebung, der verwahrloste Zustand des Hauses – wirkt auf mich höchst ungewöhnlich. Ich verstehe überhaupt nicht, warum er hierhergezogen ist.«
»Wenn man an einen solchen Ort zieht, tut man das, weil man vor irgendwas flieht. Verkehrsstaus, die Hektik des Alltags, Langeweile, die Vergangenheit«, meinte Daly. »Die langen verregneten Nachmittage und der gelegentliche Sonnenuntergang allein machen’s wohl nicht aus.«
O’Hare machte ein ernstes Gesicht. »Ich fürchte, uns stehen noch mehr unangenehme Überraschungen bevor. Sie müssen mich informieren, wenn Sie vertrauliche Unterlagen von uns finden. Andernfalls könnte der Ruf der Kanzlei schweren Schaden nehmen.« Ein schiefes Lächeln huschte über O’Hares Mund, dann flüsterte er, fast als redete er mit sich selbst: »Die Vergangenheit ist ein vollgeschissener Nachttopf, und Devine hat darin mit einem großen Stock herumgerührt.«
»Die einzige unangenehme Überraschung für mich ist der Mord an diesem Mann. Wir werden alles dransetzen, die Mörder zu fangen. Aber wenn irgendwelche Unterlagen auftauchen, geb ich Ihnen Bescheid.«
Zum Abschied ließ O’Hare noch einen besorgten Blick durch das Zimmer schweifen. Devines Tod schien ihn ernsthaft zu beunruhigen. Seine Nervosität rief Daly ins Gedächtnis, dass der Anwalt bereits während der Troubles tätig gewesen war und zur Selbstverteidigung wohl auch eine Waffe getragen hatte. Es war eine Zeit voller Gewalt gewesen, und Anwälte waren eine Spezies, die nicht darauf hoffen konnte, sich viele neue Freunde zu machen.
»Sie sehen nicht gut aus«, sagte Daly.
O’Hare massierte seinen Arm. »Zu hoher Blutdruck. Der Arzt sagt, ich soll mehr Zeit auf dem Golfplatz verbringen. Und wenn mich Devine nicht am Donnerstag angerufen hätte, wäre ich jetzt auch dort.«
»Das erklärt vielleicht Ihre Besorgnis«, sagte Daly. »Warum hat er Sie denn angerufen?«
»Es war ein eigenartiges Gespräch.« Bei diesen Worten wurde der Ausdruck auf O’Hares blassem Gesicht verkniffen. »Er sagte, er wolle mit mir reden, aber nicht am Telefon. Als ich wissen wollte, wo, sagte er nur: ›Ich geb Ihnen Bescheid.‹ Er sagte, er wolle Informationen über einen alten Fall. Er gab auch zu, wichtige Akten mitgenommen zu haben. Aber mehr habe ich nicht aus ihm herausbekommen. Ich habe angefangen, mit ihm über dies und das zu plaudern, das Wetter, die Gesundheit, wo er jetzt lebt. Da hat er erzählt, er habe ein wunderbares Plätzchen am Lough gefunden. ›Ein schöner Ort zum Sterben‹, hat er gesagt. Ich dachte, dass er wohl schön langsam verrückt wird.«
Im nächsten Moment lenkten Irwins Rufe ihre Aufmerksamkeit nach draußen. Ein Officer hatte in einer Ecke des Gartens die Überreste eines Feuers entdeckt. Der Anwalt folgte Daly ins Freie.
Unter der grauen Asche befand sich ein Karton mit halb verbrannten Papieren. O’Hare erkannte den Karton und begann zu strahlen. Sein Selbstvertrauen kehrte zurück, und mit einem siegessicheren Lächeln streckte er die Hand nach den angekohlten Akten aus.
»Augenblick. Der Brandstelle darf nichts entnommen werden«, sagte Daly drohend. »Nicht mal von unseren Leuten. Auch wir müssen uns an die Regeln halten.«
»Warum?«
»In der Asche befinden sich Gegenstände aus dem Haus. Wir können nicht ausschließen, dass Baumaterial mit Asbest dabei ist. Daher darf niemand diese Asche berühren, bis ein Team mit entsprechender Schutzausrüstung da ist. Und ich weiß nicht, wie lang das dauert.«
»Diese Akten sind möglicherweise eine tickende Zeitbombe. Wer weiß, welche vertraulichen Informationen sie enthalten«, sagte O’Hare schrill.
»Lungenkrebs ist eine schreckliche Krankheit. Ich selbst hab zwar noch nicht erlebt, wie jemand daran gestorben ist, aber ich habe gehört, dass die Erkrankten am Ende an ihrem eigenen Blut und Speichel ersticken.«
O’Hare zog ein großes Taschentuch aus der Hosentasche und legte es sich über den Mund. Für einen Moment starrten er und der Detective die tickende Zeitbombe an. Kurz blitzte in den Augen des Anwalts Enttäuschung auf, dann fasste er sich und fand zu seiner charmanten Unverbindlichkeit zurück.
»Also gut, Inspector. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Ich würde gerne informiert werden, sobald die Überreste des Feuers untersucht wurden. Diese Akten sind weiterhin Eigentum der Kanzlei.«
Nachdem O’Hare abgefahren war, kehrte Daly zu der Feuerstelle zurück. Die spontane Reaktion des Anwalts hatte gereicht, ihn zu der kleinen Lügengeschichte zu veranlassen. Er schob die Asche beiseite und zog die Akten heraus. Justitias Waage würde durch einen hinters Licht geführten Anwalt nicht groß aus dem Gleichgewicht kommen.
7
Oliver Jordan. Der Name sagte Celcius Daly weiterhin nichts, aber es war der einzige, den er bei der Durchsicht der angekohlten Kanzleiakten entziffern konnte. Mehrmals stand er da, in einer akkuraten, aber so winzigen Handschrift, dass er beinahe unlesbar war, in einem Postskriptum nachträglich eingefügt in etwas, das nach einem Aktenvermerk über einen Polizeigewahrsam aussah. Derselbe Name hatte auch auf einem der Kreuze auf Hughes’ Spielzeugfriedhof gestanden. Das andere Detail, das ihm ins Auge sprang, war das Datum auf den Akten. Sie waren alle zwischen August und November 1989 datiert.
Er entschied, dass die Akten warten mussten, bis er Zeit hatte, sich eingehender damit zu beschäftigen. Es war früher Nachmittag, und er war spät dran für sein Treffen mit einem Lokalpolitiker. Er steckte die Papiere zusammen mit Devines Pager in eine Asservatentüte und