Auslöschung. Anthony J. Quinn

Auslöschung - Anthony J. Quinn


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»Hi Poppy. Hey, ich hoffe, ich hab dich gestern Nacht nicht aufgeweckt. Hat ewig gedauert, bis ich ein Taxi bekommen hab.« Er senkte die Stimme zu einem rauen Flüstern. »Kann ich heute Abend kommen? Sag bloß nicht Nein, das würde mich in tiefste Depressionen stürzen.« Das Handy gierig an den Mund gedrückt, entfernte er sich ein paar Schritte weiter.

      Irwin war mindestens zehn Jahre jünger als Daly und stand für die Art von Jugend, von der Daly innig hoffte, er habe sie hinter sich gelassen. Die vielen SMS, die Irwin bekam, und seine geflüsterten Telefonate ließen auf ein bewegtes Sexualleben schließen. Dabei mochte Daly die Energie und das Ungestüm, mit dem sich Irwin ins Leben stürzte, obwohl er die Tage meist mit Routineermittlungen zu Sachbeschädigungen und Hauseinbrüchen verbrachte. Allerdings zeichnete sich der junge Detective auch durch einen Mangel an Geschick und Umsicht aus, der Daly befürchten ließ, er könnte manchmal mehr mit den Verwicklungen seines Liebeslebens beschäftigt sein als mit den Problemen eines Falls.

      Irwin kehrte zurück und klappte sein Handy zu.

      »Sie sehen scheiße aus«, sagte er nach einem prüfenden Blick auf Daly. »Wegen der vielen Wochenenden allein steht der Kessel ziemlich unter Druck, was? Ich glaube, Ihr Problem ist, dass Sie nicht genug unter Leuten sind.«

      Dalys Trennung von seiner Frau war allen Kollegen bekannt. So etwas ließ sich bei der Polizei kaum verbergen. Nur wer glücklich liiert war, eilte freitagabends mit einem fröhlichen Lächeln nach Hause. Daly quittierte Irwins Bemerkung mit einem Nicken, als hätte sie ihm ein Quäntchen Trost beschert.

      »So was wie Treue gibt’s heut nicht mehr«, fuhr Irwin mit einem Zwinkern fort. »Wir spielen doch alle dauernd Bäumchen wechsle dich. Jeder ist Single, die Verheirateten nur nicht so oft.«

      Daly wandte sich ab. Das Unbehagen über seine gescheiterte Ehe behinderte ihn wie ein gebrochener Flügel. Das Ende seiner Beziehung mit Anna hatte sie wieder zum Dreh- und Angelpunkt all seiner Gefühle gemacht, genau wie damals, als er angefangen hatte, um sie zu werben. Er hoffte, dass das vorübergehend war und nur so lange anhielt, bis er sich an den freien, glamourösen Lebensstil eines Junggesellen gewöhnt hatte, den Irwin inszenierte.

      Als er jedoch sah, wie der jüngere Detective die Einfahrt hinaufschlenderte, sich dauernd mit der Hand durch die dichten Haare fuhr und den Text eines Popsongs halb trällerte, halb brummte, fragte er sich, welche Peinlichkeiten ihm noch bevorstanden, bis er dieses Ziel erreichte.

      Ein junger Uniformierter mit ängstlichem Gesichtsausdruck hob das Absperrband an, um sie ins Cottage zu lassen. Das Eintreten in das Haus eines Mordopfers empfand Daly ähnlich wie den Einbruch in eine Kirche. Weil damit die Ruhe und die Unversehrtheit jener vier Wände verletzt wurden, die eigentlich die grausame Welt draußen halten sollten.

      »Devine muss jemand mit ziemlich guten Kontakten zu Paramilitärs auf die Zehen getreten sein«, meinte Irwin. Sein Eifer kehrte zurück. »Was meinen Sie, welche Truppe das war? Die Real IRA, die Continuity IRA, die INLA oder die echte, irre, voll geheime IRA?«

      »Nicht alle Arschlöcher auf der Welt sind republikanische Paramilitärs«, erwiderte Daly. »Aber wenn ich in diesem Fall wetten müsste, würde ich auch auf sie setzen.«

      Die Eingangstür wies keinerlei Spuren eines gewaltsamen Eindringens auf, und weder in der Diele noch in einem der vollgestellten Zimmer schien es einen Kampf gegeben zu haben. Devine war so überstürzt aufgebrochen, dass er nicht einmal die Hintertür zugemacht hatte. Der Telefonhörer lag neben der Gabel, und in der Spülküche stand ein Topf mit klumpigem Porridge auf der Kochplatte.

      »Jedes Haus erzählt eine eigene Geschichte«, sagte Daly.

      Irwin steckte einen Finger in den Porridge und probierte. »Na, dann sieht mir die hier stark nach Goldlöckchen und die drei Bären aus.«

      Die beiden Detectives traten ins Wohnzimmer, dessen gesamte Inneneinrichtung sich aus den 1950ern bis ins Heute gerettet hatte: Auf einer schweren Anrichte standen ein Röhrenradio und, als sentimentale Souvenirs aus dem katholischen Irland, ein religiöser Aufstellkalender und eine Flasche mit Weihwasser aus Knock. Außerdem gab es ein Porträt des vormaligen Papsts und eine Figur der Jungfrau Maria. Selbst die Lichtschneise, die von der Sonne durch das Zimmer geschnitten wurde, schien in der Vergangenheit festgefroren zu sein. Nur der Papst war, wie Daly bemerkte, staubfrei. Im Ringen um Gleichstellung hatte er gegenüber der verstaubten Marienfigur offenbar noch einen Vorteil.

      Daly nahm die Marienfigur in die Hand und blies eine Spinnwebe weg. Marias Augen waren leer, ihre Gesichtszüge wirkten hagerer als die auf den Heiligenbildern, an die er sich erinnerte, so als hätte diese Jungfrau zu viele schlaflose Nächte erlebt. Oder bildete er sich das nur ein? Vielleicht war es auch eine Folge dessen, dass so viele verlorene Seelen Nachtwache hielten und Hunderte Male inbrünstig Marienlieder sangen.

      Was die Haushaltsführung betraf, so war Devine nicht über Junggesellendurchschnitt hinausgekommen. Unter dem Küchentisch stand eine Kiste, aus der die leeren Stout-Flaschen ragten. In einem Gästezimmer gab es ein durchgesessenes Sofa, dessen mitgenommene Polster unter einer alten Decke lagen, und einen abgewetzten schwarzen Ledersessel. Das gesamte Cottage war mit grünem Linoleum mit Fliesenmuster ausgelegt, das nach Jahren der Abnutzung aber nur noch an wenigen Stellen zu erkennen war.

      Das Einzige, was nicht den Eindruck eines verwehenden Lebens hinterließ, war eine Sammlung von Enten, die in einem Büfett und auf der tiefen Fensterbank in der Küche verteilt war. Beim ersten Blick auf die Enten stockte Daly kurz der Atem, weil er sie zunächst für echt hielt. Sie waren aus Holz geschnitzt und wirkten handbemalt. Als er näher trat, spiegelte sich das Zimmer im Glanz ihrer Glasaugen.

      »Lockenten!«, entfuhr es Daly. »Nur wer allein lebt, kann seine Hobbys richtig ausleben.«

      »Die sehen aus wie Antiquitäten. Sie könnten sogar ein bisschen was wert sein«, meinte Irwin und nahm eine in die Hand. Als der Kopf zu nicken anfing wie der einer fressenden Ente, hätte er sie vor Überraschung beinahe fallen gelassen.

      »Jedenfalls könnten sie die Entenpfeife in Devines Hals erklären.«

      »Nämlich?«

      »Die Mörder fanden das wohl irgendwie witzig. Ein kranker Humor, aber die Pfeife passt zu Devine. Die Mörder müssen wissen, dass er ein Faible für Entenjagd hatte.«

      Daly fiel ein, dass der vermisste David Hughes ebenfalls passionierter Entenjäger war. Hier schälte sich ein Muster heraus.

      »Das ist doch pervers«, sagte Irwin angewidert. »Und ich dachte, die republikanischen Paramilitärs täten nichts anderes mehr als Blumensträuße binden und für Menschenrechte eintreten.«

      Als es klingelte, fuhren beide herum.

      Irwin ging nachsehen. Gleich darauf kam er mit verbissener Miene zurück.

      »Keiner da. Wahrscheinlich ein dummer Scherz von einem Kollegen.«

      Das Haus war bereits nach Fingerabdrücken abgesucht worden, alle Türgriffe, Gläser, Schubladen und Fensterscheiben waren mit Pulver eingepinselt worden. Es waren nur die Abdrücke von einer Person gefunden worden. Das war ungewöhnlich, aber Daly hatte schon geahnt, dass Devine ein Eigenbrötler gewesen war.

      »Der nächste Nachbar hat angegeben, dass Devine Anfang letzten Jahres in diese Bruchbude gezogen ist«, sagte Irwin.

      »Was, denken Sie, war der Grund dafür?«

      Statt zu antworten, öffnete Irwin die Hintertür. Eine Böe blies einen Schwung altes Laub und trockene Ahornsamen über die Schwelle. Als Daly hinausging, eröffnete sich ihm ein weiter Blick auf den Lough Neagh mit seinen verzweigten, von Bäumen gesäumten Buchten. Er sah mehrere Landzungen, die er nicht genau erkannte, weil sie sich im windumtosten Nichts verloren. Es war der ideale Ausguck für einen Wilderer, nicht einsehbar und geschützt vor dem Treiben auf den Straßen, Feldern oder Dörfern. Der kurze, von undurchdringlichen Hecken gesäumte Weg zum Ufer glich einem Pfad an die Ränder des menschlichen Daseins. Am Himmel über ihm quäkte ein Schwarm Gänse mit lang gestreckten Hälsen im Winkelflug. Dalys Blick folgte der fliegenden Formation und wanderte dann zum Horizont, als hätten


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