Auslöschung. Anthony J. Quinn
wäre er in einem Raum eingesperrt, in dem die Luft immer dünner wurde.
»Kannst du für mich einen Lottoschein ausfüllen?«, sagte er, ehe sie auflegte. »Ich hab so ein Gefühl, dass das unsere Glückszahlen sein könnten – 49, 11, 21, 7. Die zwei letzten kannst du dir aussuchen.«
Es gab eine Pause, während sie die Zahlen notierte.
Als sie wieder sprach, war die Zärtlichkeit in ihre Stimme zurückgekehrt. »Ist das jetzt der neue romantische Daly?«, fragte sie.
»Wie meinst du das?«
»Die Zahlen – rückwärts gelesen ergeben sie das Datum unseres ersten Rendezvous. Sieben Uhr am zwölften November 1994. Hätte nicht gedacht, dass du dich daran erinnerst.« Sie hielt kurz inne. »Ich ruf dich an, wenn die Zahlen gezogen werden. Bye, Celcius.«
Bei der Rückkehr in das Cottage seines Vaters empfingen Daly die Dämmerung mit drohendem Regen und ein aufziehender Kater. Doch eine Lücke hatte die Sonne noch in den Wolken gefunden und warf einen Lichtstreifen auf tief liegendes Moorland und Hecken. Auf dem Weg zur Tür drängten sich ihm einige Einzelheiten mit schmerzlicher Klarheit auf: die hellen Steinmauern, eine Fensterscheibe, in der sich das flammende Morgenlicht spiegelte, das Whiskeyglas, das weiß vor Reif im Schatten unter dem Vordach stand.
Bereits beim Eintreten ins Haus spürte er ihre Anwesenheit. Sie hatte sich die Mühe gemacht, im Wohnzimmer etwas Ordnung zu schaffen, Kleidungsstücke zusammenzulegen, benutzte Tassen und Teller wegzuräumen und die Zeitungen und CDs in ein Regal zu legen.
Er empfand einen Stich, weil sie sich die Zeit genommen hatte, sich den Gegenständen im Raum zu widmen, nicht aber auf ihn hatte warten oder das Gespräch fortsetzen wollen. Statt sich richtig zu verabschieden, hatte sie ihn mit diesem aufgeräumten Zimmer zurückgelassen, dessen Luft von ihrem Parfüm und einer unguten Stille erfüllt war. Die Erinnerung an ihre Stimme schrammte an den Rändern seines Katers entlang. Vielleicht hätte er den Anruf der Leitstelle doch ignorieren sollen, in seinem Verhau bleiben und auf ihr Kommen warten sollen?
In den ersten Monaten ihrer Trennung, als Anna bei ihren Eltern in Glasgow lebte, hatte Daly sie oft angerufen. Der Gedanke hatte ihn gequält, sie könnte mit einem anderen Mann zusammen sein. »Da ist niemand, dem wir die Schuld geben können, außer uns selbst«, hatte sie immer wieder gesagt. Aber ihm war es schwergefallen, ihr das zu glauben, und gefangen im Denken eines Detective, war er überzeugt gewesen, ein unbekannter Täter habe ihre Liebe zerstört. Diese Reaktion war in mancher Hinsicht irrational gewesen, gespeist von Selbsttäuschung und Wahn.
In den ersten Monaten hatte er tagtäglich auf die Post mit den Scheidungsunterlagen gewartet, aber sie kam nie. Er bot das gemeinsame Haus in Glasgow zur Vermietung an und bewarb sich um eine Versetzung nach Nordirland. Er hatte gehofft, nach Belfast zu kommen, aber zu seiner Überraschung wurde er nach Armagh geschickt, die Stadt, in der er aufgewachsen war. Zu der Zeit war es ihm sinnvoll erschienen, in das leer stehende Cottage seines Vaters zu ziehen.
In einem anderen Telefongespräch hatte er gefragt, was sie von ihm verlange. Sie hatte geantwortet, er müsse beweisen, dass er auch ein Leben jenseits seines Berufs habe. Noch in Glasgow kam er zu der bitteren Erkenntnis, dass er, zerrieben zwischen Lust an der Ermittlerarbeit und Papierkram, diesem Anspruch nicht gerecht werden konnte. Sie hätte genauso gut einen Beweis für die Existenz einer vierten Dimension fordern können. Mittlerweile würde er wohl sogar die Zeit krümmen, um zu retten, was er mit ihr gehabt hatte.
Er ging in die Küche und öffnete irgendeine Dose. Er hatte keine Lust, das Etikett zu lesen, aber es roch, als würde Anna es höchstens an ihre Katze verfüttern. Nach ein paar Bissen ließ er die Gabel in der Dose stecken, stand auf und schleppte sich ins Bett.
4
Die namenlose Stimme am anderen Ende der Leitung sprach wenig und beendete das Gespräch rasch. Father Jack Fee hörte sich die nüchtern aufgezählten Tatsachen an, denen nichts von einer Tragödie anhaftete, und legte dann ebenfalls auf. Es war fünf Uhr morgens, und er saß in seinem kalten Arbeitszimmer. Während der Troubles war er Vikar in einer Gemeinde im Grenzgebiet gewesen, daher wusste er, was der Überbringer der Nachricht meinte. Der Mann hatte mit großer Autorität gesprochen, auch wenn die Nachricht selbst nicht schlüssig war und man ihn vielleicht zum Narren halten wollte. Aber für Father Fee war sie traurig und mehr als das – bestürzend. Er ging zu seinem Schreibtisch und schrieb die Worte nieder. Es war seine Pflicht als Priester, den Anweisungen zu folgen, auch wenn das Priesterseminar ihn auf so etwas nicht vorbereitet hatte.
In einem Baum auf Coney Island wartet ein Toter auf Sie.
Das klingt wie eine makabre Aufgabe bei einer Schnitzeljagd, dachte er. Bis er sich gewaschen, angezogen und sein Gebetbuch und die heiligen Öle eingepackt hatte, war die Dämmerung aufgezogen. Er öffnete die Haustür und ging hinaus. Der Morgen roch nach feuchtem Moos. Aus den tiefen Wolken, die über den tristen Himmel zogen, tröpfelte es leicht. Beneidenswert, mit welch stiller Zielstrebigkeit sich Wolken bewegen, dachte er.
Ein grauer Star hatte Father Fee auf einem Auge fast erblinden lassen. Das bedeutete auch, dass er nicht mehr selbst Auto fahren konnte, sondern auf die Hilfe eines Gemeindemitglieds angewiesen war. Die ihm heute bevorstehende Prüfung wollte er seinem üblichen Fahrer jedoch ersparen. Mit einem Stoßgebet zum heiligen Christophorus fuhr er mit seinem zehn Jahre alten Renault über die schlaglochübersäten ländlichen Straßen bis zu dem Ring der Townlands, die Munchies genannt wurden.
Bisher hatte er insgesamt sechs Ermordeten die Letzte Ölung gegeben. Anrufe hatten ihn an Straßengräben oder stille Waldflecken geleitet, wo ihre Leichen lagen, mit Düngersäcken über dem Kopf und die Hände mit Paketschnur gefesselt. Alle sechs waren als Spitzel gegeißelt worden, während der Troubles eine hochgefährdete Spezies.
In der schlechten alten Zeit war seine Gemeinde für ihn weniger ein sicherer Hafen einer gottesfürchtigen Schar gewesen als vielmehr das Niemandsland zwischen zwei Armeen, Schauplatz für IRA-Überfälle und Patrouillen der British Army. Die herkömmliche Unterscheidung zwischen richtig und falsch hatte für die Mitglieder seiner Gemeinde wenig Bedeutung gehabt, es kam nur darauf an, was für das Überleben notwendig war oder nicht.
Durch ein dichtes Birkenwäldchen kam Father Fee in das Townland Derryinver mit einem weiten Blick über den Lough Neagh. Er manövrierte den alten Wagen durch eine Abfolge von Kurven, die den Einheimischen zufolge selbst einem Häretiker den Teufel austreiben konnten, und fuhr, knirschend schaltend, an der Maghery Church vorbei. In der Ferne waren vage die Umrisse der schneebedeckten Sperrin Mountains zu erkennen. Dann beschleunigte er und rollte durch eine Landschaft, die mit ihren dichten Hecken und abfallenden Feldern auch ein Naturschutzgebiet für Scharfschützen darstellen konnte.
Es war passend, dass dies eine seiner letzten Aufgaben vor dem Ruhestand sein sollte. Die achtundvierzig Jahre seines Berufslebens waren ein einziger trauriger Gang durch sämtliche Fegefeuer dieser verfluchten Provinz gewesen. Vielleicht würde er, wenn er vom Totenbett aus zurückblickte, erkennen, dass die Troubles ihm das Priesteramt gerettet hatten, vor allem gegen Ende zu, als sich die Verbrechen, die ihm seine Gemeindemitglieder beichteten, wie ein Knäuel Schlangen um seine Seele legten. Da war es leicht gewesen, Gut und Böse zu unterscheiden und sein eigenes Abgleiten in spirituelle Gleichgültigkeit zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen.
Als er in den Maghery Park einbog, kam sein Wagen dort, wo nicht gestreut worden war, auf einer Eisplatte ein wenig ins Rutschen. Ein Fischer, der gerade mit seinem Boot anlegte, sah auf und winkte ihm zu. Father Fee überspielte sein ungutes Gefühl, stieg aus und erkundigte sich freundlich nach dem Befinden der Mutter des Manns, die schwer erkrankt war.
Es war ein langer, dunkler Winter mit viel zu vielen wolkenverhangenen Himmeln gewesen. Doch am Ufer des Lough stach Father Fee die grelle Spiegelung in den Augen und ließ sein Starauge tränen. Die hellen Wellen schwappten gegen das Fischerboot und ließen kleine Lichtbogen um den dunklen Rumpf laufen.
Der Priester bat den Fischer, ihn nach Coney Island überzusetzen. Dann ließ er sich schwerfällig auf der Holzbank nieder und