Auslöschung. Anthony J. Quinn

Auslöschung - Anthony J. Quinn


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Tod entgegentanzte.

      Abgestoßen hatte ihn der Anblick der Körperflüssigkeiten, die in Gassen und gegen Mauern plätscherten – der schäumende Schwall, der sich bei nächtlichen Exzessen auf die Straßen der ehrwürdigen Kirchenstadt ergoss. Auf dem Beifahrersitz kam er sich vor wie ein Taucher in einem Unterwasserkäfig, dem es vor den vorbeischwimmenden grinsenden Haien graute.

      »Jetzt hindert sie nichts mehr, die Sau rauszulassen«, hatte der ältere Officer neben ihm bemerkt.

      Die nordirischen Landstädte waren keine stummen, gehemmten und konfessionell getrennten Inseln der Nüchternheit mehr. Für seinen Kollegen waren diese Darbietungen eines ungezügelten Nachtlebens jedoch eher ein Plädoyer für die heilsame Kraft von ein klein bisschen Terror. Über die Paramilitärs und die schießwütigen Soldaten konnte man sagen, was man wollte, aber sie hatten gewusst, wie man Gesindel in die Schranken wies.

      In der Ruhe der Leitstelle hörte der Rekrut jetzt einer sorgenvollen Anruferin zu und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen betrunkenen Angehörigen handelte, der nicht nach Hause gekommen war. Er vermutete, dass auch die Anruferin nicht mehr nüchtern war. Fast hätte er den Hörer ein Stück vom Ohr weghalten müssen, um sie besser zu verstehen. Er zog einen Notizblock zu sich. Hinter dem schrillen Zetern bemerkte er einen letzten Rest von Selbstbeherrschung in der Frauenstimme, doch ihre übliche Contenance war von einer Welle der Empörung fortgespült worden. Er nahm ihre Angaben auf und prüfte, wo sich der nächste Streifenwagen befand.

      Danach zog er eine kugelsichere Weste an und trat hinaus in den schützenden Schatten des Wachturms, um sich eine Zigarette anzuzünden. Leider war die Kollegin, die sonst Telefondienst machte und mit der er immer plauderte und flirtete, um diese Uhrzeit nicht mehr da. Die Langeweile zu ertragen, während man stundenlang auf den neuen Morgen wartete, war eine berufliche Fähigkeit, die der junge Officer erst erlernen musste.

      Er drückte die Zigarette aus und traf eine Entscheidung. Immer wieder hatte Inspector Celcius Daly die Diensthabenden der Nachtschicht angewiesen, ihn bei ungewöhnlichen Vorkommnissen anzurufen, vor allem an Wochenenden. Die Schwemme alkoholbedingter Vergehen war jedoch nicht weiter ungewöhnlich. Diese Anweisung, die stets mit einem Blick seiner müden, wie zum Gebet nach oben wandernden Augen verbunden war, bewirkte, dass die anwesenden Polizisten alle etwaigen Schwierigkeiten allein zu bewältigen versuchten. In diesem Fall entschied der Rekrut aber anders, selbst wenn er damit Dalys Zorn auf sich ziehen sollte.

      Celcius Daly hatte bis spät in die Nacht im Cottage seines Vaters am Torffeuer gesessen und Whiskey getrunken. Der Torf stammte von einem schimmligen Haufen, den sein Vater im Sommer des Vorjahrs gestochen hatte. Der alte Mann hatte sämtliche Torfstücke mindestens fünf Mal gewendet, ehe er sie ins Haus trug, und dennoch waren sie noch nass. Der feuchte Rauch hatte sich im Raum verteilt und bei Daly einen Hustenanfall ausgelöst. Daraufhin hatte er einen Dufflecoat angezogen und war vors Haus gegangen, wo die Luft klar und rein, aber auch kalt war.

      Er sah, wie der Mond aufging, und zusammen mit dem Frost legte sein Licht einen silbrigen Raureifschimmer auf die Grate der Ackerfurchen, wo sein zweiundachtzigjähriger Vater bis eine Woche vor seinem Tod Kartoffeln gezogen hatte. Erneut füllte Daly sein Glas und kehrte zurück, um die im Mondlicht glänzenden Erhebungen zu betrachten, als wären es die Rippen eines hungrigen Tiers. Angetrunken, wie er war, fand er die Mondscheinszenerie wohl unterhaltsam. Es wurde fast drei Uhr nachts, bis er ins Bett wankte.

      Das Telefon riss ihn aus dem Schlaf. Sein Magen war sauer, und seinem Mund entwich ein Fluch. Gerade hatte er einen bemerkenswerten Traum gehabt – eine Reihe Lottokugeln rollte in sein Blickfeld, und als wäre es eine Prophezeiung, leuchtete eine nach der anderen auf. Gebannt sah er zu, wie sie nacheinander fielen: 49, 11, 21, 7 …

      Das Erste, was er nach dem Aufwachen tat, war, die Zahlen auf die Rückseite eines alten Fotos zu schreiben, das er in der Schublade des Nachtkästchens gefunden hatte. Leider hatte der Anruf die weiteren Glückszahlen abgeschnitten. Er versuchte, sich die fehlenden zwei Zahlen zu erschließen, aber die Gewissheit hatte ihn verlassen. Als er sich die Augen rieb, verschwanden die Zufallszahlen in der elementaren Zwecklosigkeit, die sich in der tiefen Nacht über alles legt. Er begriff, dass es mitten in der Nacht war und er allein im Bett lag.

      Obwohl er und seine Frau sich bereits vor sechs Monaten getrennt hatten, überraschte es ihn, wenn er in Nächten wie dieser aufwachte, wie tief das Gefühl von Einsamkeit war. Das schwache Glimmen des Weckers war das einzige Licht im Raum – 3:50 zeigte er an. Die Bars sind längst geschlossen, und die meisten Feiernden müssten zu Hause sein, dachte er. Vielleicht war ein Ehekrach ausgeartet oder eine Schlägerei unter Betrunkenen auf der Straße hatte ein böses Ende genommen? Aber egal, was es war, er konnte sich auf einen Morgen mit flauem Magen einrichten. Immerhin hatte er noch nicht lang genug geschlafen, um den Katerkopfschmerz zu spüren.

      Er stieg aus dem Bett und hob ab.

      »Hallo, was gibt’s?«

      »Ich hoffe, ich störe nicht, Sir«, sagte die Stimme.

      »Nein, gar nicht«, antwortete er mit einem Seufzen und starrte auf die hingekritzelten Zahlen. Für einen Augenblick fühlte er sich betrogen. Was hatte es ihn, über die Jahre gesehen, gekostet, solche Anrufe anzunehmen? Reumütig dachte er an seine Frau und die bevorstehende Scheidung, und kurz überlegte er, dass eine glückliche Ehe mehr wert war als jedes Vermögen.

      »Es hat sich was Ungewöhnliches ereignet.«

      »Ein Toter?«

      »Nein, eigentlich nicht. Eine alte Frau aus Washing Bay hat angerufen. Jemand hat ihre Hintertür aufgebrochen und ist in ihr Haus.«

      »Ein Raub?«

      »Nein. Ein paar Kleidungsstücke und Medikamente fehlen, aber deswegen hat sie nicht angerufen.«

      »Sollen wir vielleicht das Versicherungsformular mit ihr ausfüllen?«, fragte Daly verdrießlich. Hatte ihn der Rekrut etwa bloß wegen eines verbockten Einbruchs aufgescheucht?

      »Sie war kurz vorm Durchdrehen. Ich hab versucht, sie zu beruhigen. Sie hat behauptet, die Einbrecher hätten ihren älteren Bruder entführt. Einen gewissen David Hughes.«

      Daly überlegte. »Ach? Haben die eine Lösegeldforderung dagelassen?«

      »Davon hat sie nichts gesagt. Aber sie klang panisch. Ihr Bruder ist krank. Er hat Alzheimer. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«

      »Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass er mal musste und sich verlaufen hat?«, fragte Daly genervt. Leider brachte man den Grünschnäbeln auf der Akademie keinen gesunden Menschenverstand bei.

      »Sie behauptet, allein könnte er das Haus nicht mehr verlassen.«

      »Okay. Sagen Sie den Leuten draußen, sie sollen vor dem Haus auf mich warten. Wir bilden einen Suchtrupp. Wer weiß? Vielleicht ist der alte Knabe irgendwo eingenickt. Hoffen wir, dass er nicht allzu weit gekommen ist.«

      Daly schlüpfte in Hemd und Hose. Sein Mund war trocken, und er spürte, dass Kopfschmerz im Anmarsch war. Dass er es mit dem Whiskey übertrieben hatte, merkte er endgültig, als er sich nach seinen zusammengeknäulten Socken bückte. Ein Blick auf sein trübes Spiegelbild im Fenster verriet mehr über seinen momentanen Zustand, als er wissen wollte.

      Das Cottage seines Vaters befand sich am Südufer des Lough Neagh. Im Winter ähnelte die Landschaft einer Miniaturtundra, so viele arktische Gänse bezogen hier ihr Winterquartier. Der Mond hatte sich in der kurzen Spanne, in der Daly geschlafen hatte, verzogen, durch das kleine Fenster war nichts mehr von ihm zu entdecken.

      Anfang Februar und an Morgen wie diesem war der Lough am dunkelsten und vollsten. Auch die Felder und Moorflächen, die sich bis ans Ufer erstreckten, lagen jetzt im Dunkeln und ließen sich ohne die Orientierung an Hecken und Feldwegen kaum unterscheiden. Überall gab es Schlammlöcher, die so tief waren, dass ein Mensch bis zur Hüfte darin einsinken konnte. Die Landschaft war ein Flickenteppich aus Leben und Tod, den man nur mit Bedacht betreten durfte, selbst wenn man jung und kräftig war. Zumindest war es in den vergangenen Tagen trocken geblieben, dachte Daly. Er hoffte, dass die Flüsse in diesem Winter keine schlimmen Hochwasser


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