Auslöschung. Anthony J. Quinn

Auslöschung - Anthony J. Quinn


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       Prolog

       20. Januar, Washing Bay, Lough Neagh, Nordirland

      Den ganzen Winter über hoffte David Hughes, ehemaliger Polizist der Special Branch, dass die Sonne den schwarzen Horizont durchstieß und die Trübnis lichtete. Zwar jagten häufig kräftige Winde die schweren Wolken über den Himmel, aber sie von dort zu vertreiben gelang ihnen nicht. Mit jeder Dämmerung breitete sich von Osten her ein verwaschenes Grau aus, das die Hügel in schales Licht tauchte, jedoch nicht für einen Farbtupfer als Fluchtpunkt für Hughes’ Gemüt sorgen konnte. Die an sein Cottage grenzenden Felder waren morastig und kahl, die Hecken aus Schlehdorn und Weißdorn um sie herum schwarz und verschlungen wie Stacheldraht.

      An diesem Nachmittag war Hughes so unruhig, dass es ihn nicht im Haus hielt. Der Wind, der vom Lough herüberblies, war wieder finster geworden. Dunkel wie die Nacht, weil er ihn umfing und von der Welt abschirmte, während er gegen die Steinmauern des Cottage rempelte, über das Dach fegte, an die Fenster klopfte und sich mit spitzen Fingern in seinen Kopf bohrte, bis Hughes meinte, die versteckten Dämonen würden sich aus den Schatten darin hervorwinden.

      Um sich zu beruhigen, schluckte er eine der vom Arzt verschriebenen Tabletten. Zwar halfen sie ihm nicht mehr beim Einschlafen, aber immerhin schoben sie die Gegenwart beiseite und machten ihn zu einem hohlen tumben Schatten seiner selbst. Lieber das, dachte er, als die Schreie zu hören, die aus den tiefsten Ritzen seines Gehirns kamen.

      Mit grimmiger Entschlossenheit stellte er den Fernseher an und sah sich eine Heimwerkersendung an, gefolgt von einer Talkshow und einer Reportage über Flugbegleiter. Dabei schaltete er ständig um oder dämmerte weg und wachte wieder auf. Allmählich kehrte er in die Gegenwart und das dumpfe Gleichmaß eines Winterabends zurück. Schließlich ging er leicht humpelnd in die Küche, setzte den Wasserkessel auf und blickte aus dem Fenster.

      Am Ende des Gartens entdeckte er einen Mann, der wild mit den Armen herumfuchtelte. Hughes hatte ihn bereits zuvor an der Hecke, die den Garten vom Ackerland trennte, entlanggehen sehen. Jetzt stand der Mann mit freiem Blick auf das Cottage unter der alten Eiche und warf die Arme in die Luft, als würde er wutentbrannt unsichtbare Steine schleudern.

      David Hughes vergaß den Tee und den Keks, den er neben die Tasse auf den Unterteller gelegt hatte. Der Anblick des Fremden verwirrte ihn. In der Diele zog er etwas über, um sich gegen den heulenden Wind zu wappnen. Sein Spiegelbild und der um ihn schlotternde Mantel verrieten ihm, dass er abgenommen hatte. Zögernd und zweifelnd trat er ins Freie. Der Wind brüllte ohrenbetäubend. Ihm wurde davon so schwindlig, als hätte er sich den Kopf angeschlagen.

      Erst als er direkt auf den Mann zuging, bemerkte er, dass der etwas rief. Doch der schwarze Wind ertränkte alle anderen Geräusche.

      Vielleicht sollte ich diesen Mann mehr fürchten als meine Krankheit und den Wind, der schon den ganzen Winter so bläst, dachte Hughes. Vielleicht sollte ich mich um ihn und das, was ihn aufregt, nicht scheren und in meinen stumpfsinnigen Abend und die Sicherheit meines Hauses zurückkehren. Warum einen komischen Typen stören, der an einem Winterabend draußen rumläuft, mit den Händen in der Luft rumfuchtelt und sich selbst anbrüllt?

      Aber die Neugier machte ihn mutig.

      »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er den Fremden mit einem treuherzigen Lächeln, während er in die Rolle des arglosen Alten schlüpfte.

      Der andere schrie und gestikulierte weiter, nur wurde das Gebrüll jetzt durch fliegende Schatten gedämpft. Der Wind war in die Äste über ihren Köpfen gefahren und rüttelte sie durch, sodass sich die Zwischenräume mit dem Tosen des Lough füllten.

      Der Fremde baute sich vor ihm auf.

      Sobald er sprach, bemerkte Hughes, dass das Geräusch des Winds und der Äste verschwand und der dämmrige Himmel noch düsterer wurde. Das Gesicht des Manns erstrahlte in kaltem Licht.

      »Glauben Sie, dass wir selbst darüber bestimmen, wie wir leben und sterben?«

      Hughes lachte auf. Die Frage des Fremden bereitete ihm bittere Freude. »Nur im Kleinen«, antwortete er. »Im Großen und Ganzen herrscht das Chaos über uns.«

      Der Fremde zog einen kleinen Metallgegenstand aus der Hosentasche und warf ihn wie ein Spielzeug von einer Hand in die andere.

      »Was ist das?«

      Der Fremde erklärte, es sei eine besondere Art Batterie.

      »An sich völlig harmlos«, sagte er. »Aber sie soll dem Zeitzünder einer Bombe, die viele Menschen das Leben kosten wird, den Strom liefern. Schon der Gedanke daran lässt es mir kalt den Rücken runterlaufen.

      Aber diesmal werde ich die Sache absichtlich vermasseln«, verkündete er Hughes. »Das wird der letzte Auftrag, den ich für die IRA übernehme.«

      Das Gesicht des Fremden war sehr blass. Hughes sah das Mitgefühl in seinen Augen. Es glich dem eines Vaters, der sich verzweifelt abmüht, seinem Sohn einen Schiefer aus dem Daumen zu ziehen.

      Ein Detail der Geschichte kam ihm bekannt vor. In seinem Kopf trieb ein Bild aus der Vergangenheit heran.

      »Wer sind Sie? Sie können unmöglich der sein, für den ich Sie halte!« Hughes klang plötzlich erregt.

      Kurz spähte der aufgehende Mond durch die Wolkendecke, dann war er erneut verschwunden.

      »Hören Sie nicht?«, rief Hughes. »Wer sind Sie? Ich kann doch unmöglich mit Oliver Jordan sprechen. Der ist seit fast zwanzig Jahren tot!«

      »Ich bin wieder da«, sagte der Fremde. »Ich bin mit dem schwarzen Winterwind gekommen, um meine Mörder heimzusuchen.«

      Erschüttert trat der alte Mann einen Schritt zurück. Jordans Tod war ihm immer etwas eigenartig vorgekommen.

      »Sind nicht alle Morde eigenartig?«, fragte der Fremde, als könnte er Hughes’ Gedanken lesen.

      Aber der Mord an Jordan war besonders merkwürdig gewesen. Nicht nur, dass die Ermittlungen dazu im Sande verlaufen waren, auch die republikanischen Paramilitärs hatten all die Jahre darüber geschwiegen. Doch wer konnte glauben, dass ein Geist an einem stürmischen Winterabend einfach so ein tief in der Vergangenheit begrabenes Verbrechen ansprach?

      »Sie haben mich übertölpelt«, sagte Hughes, und jetzt schwang in seinen Worten ein Vorwurf mit. »Die Behörden konnten Ihr Verschwinden nie richtig aufklären. Was wollen Sie von mir?«

      An den Handgelenken des Fremden sah er dunkle Ringe, Spuren der Fesseln, die ihm seine Kidnapper angelegt hatten. Das Bild in Hughes’ Kopf trat nun klar erkennbar an die Oberfläche. Er sah einen mit Paketschnur gefesselten Mann kopfüber in einem Kuhstall hängen, auf den Handrücken Brandmale, auf dem Boden lagen büschelweise ausgerissene Haare zwischen dem Kuhmist.

      »Tote Körper wiegen schwerer als lebende«, sagte der Fremde.

      »Das weiß ich. Ich schleppe die Erinnerung an Sie schon Jahre mit mir herum.«

      »Trotzdem sind Sie damit immer weiter in die Sackgasse gelaufen. Es wird Zeit umzudrehen.«

      »Was soll das heißen?«

      »Ich will, dass Sie die Ermittlungen wiederaufnehmen. Die vielen losen Enden aufsammeln und zusammenführen. Sie sind der Letzte, der das Rätsel meines Verschwindens noch lösen kann.«

      »Warum kommen Sie mir jetzt damit, wo ich so alt bin? Schauen Sie mich doch an. Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen.«

      »Selbst Sie haben eine Seele. Sie müssen das für Ihr eigenes Seelenheil tun.«

      »Aber ich verliere mein Gedächtnis. Ich vergesse Gesichter, Namen und Zeiten, sie verschwinden wie Knöpfe, die mir vom Hemd springen. Mein Verstand löst sich auf.«

      »Wenn Sie Frieden finden wollen, müssen Sie auch einen Weg finden, sich zu erinnern.«

      Der Fremde reichte dem alten Mann die Batterie, seinen ersten Hinweis.


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