Auslöschung. Anthony J. Quinn
das stille Ufer aufschreckte.
Die Insel. Er war sicher, dass seine Verfolger nichts von dem Versteck wussten, das er sich dort eingerichtet hatte. Niemals hätte er so lange überlebt, wenn von seiner alten Findigkeit nicht noch einiges übrig wäre.
Er war ein Teenager gewesen, als die Schatten angefangen hatten, ihn zu verfolgen. Erst hatte er gemeint, der schnittige Wagen, der auf dem Nachhauseweg von einem Fußballspiel neben ihm hielt, habe sich verfahren und die Insassen wollten nach dem Weg fragen. Als auf der Fahrerseite das Fenster heruntergekurbelt wurde, erschien ein Mann mit grauem Gesicht und grauen Augen, dessen Stimme so dunkel und tief war wie der kräftige Motor seines Wagens.
»Hättest du Lust, für die andere Seite zu spielen, Joseph?«, fragte er mit einem Lächeln.
Woher kannte der Mann seinen Namen? Für einen Moment dachte er in aller Unschuld, der Fahrer sei der Trainer des Teams der Nachbargemeinde.
»Wer sind Sie überhaupt?«
»Das ist für den Augenblick nicht so wichtig, Joseph. Sagen wir einfach, ich bin Forscher und du bist mein Spezialgebiet.« Mit kühlem Blick lauerte er auf die Reaktion im Gesicht des Jungen.
»Ich will nichts weiter von dir als ein paar Informationen über die bösen Jungs und darüber, wer was mit wem macht. Dafür passen wir auf dich auf, du kriegst gutes Geld von uns, und wir helfen dir, wenn du Schwierigkeiten kriegst oder Soldaten dich belästigen.«
Devine machte einen Schritt rückwärts, dabei sanken seine Turnschuhe in den Schlamm am Straßenrand ein. Plötzlich hatte er das Gefühl, er habe sich in ein Schlüsselloch verwandelt, durch das gleißendes Licht fiel.
»Nein, danke«, sagte er, ohne den Anflug von Panik in seiner Stimme verbergen zu können.
Der Mann, der für ihn später nur der Anbahner war, nickte kurz. Er schien mit der Antwort zufrieden.
»Alles klar, war ja nur eine Frage«, sagte er und kurbelte das Fenster wieder hoch. Er salutierte knapp und fuhr davon.
Aber es folgten weitere Begegnungen auf einsamen Straßen, Gespräche über Onkel, die zusammengeschlagen worden waren, kranke, von Soldaten drangsalierte Verwandte und Warnungen, dass er von Paramilitärs verfolgt wurde. Manchmal wurden ihm Geld und schnelle Autos versprochen, manchmal verklausulierte Drohungen ausgesprochen, bei denen der Anbahner mit seinem kühlen Blick dem Jungen so starr in die Augen sah, als würde er magnetisch von einem Makel, einem inneren Pol der Schwäche angezogen, von dem Devine nicht einmal geahnt hatte, dass es ihn gab.
In den langen Jahren voller Ausflüchte und Täuschungen, die folgen sollten, hatte sich ihm eine Wahrheit offenbart, vor der es kein Entrinnen gab – dass nämlich sein erster Verrat einem Feuer glich, das niemals völlig herabbrennen würde. Sein ganzes Leben hatte er sich gefühlt wie ein Kind allein im dunklen Wald und sich immer einen so allumfassenden Verrat gewünscht, dass alles hinter ihm Liegende vollständig niederbrannte. Kein Rauch, keine Funken, keine glimmende Kohle, keine Spuren oder Schatten sollten übrig bleiben, nur noch Schutt und Asche.
Das ferne Krächzen einer Krähe weckte ihn aus einem kurzen unbequemen Schlaf. Aufmerksam lauschte er der Tonfolge. Krah-rah, krah-rah, krah-rah, krah-rah. Obwohl der Krähenruf halb vom Abendnebel verschluckt wurde, erkannte er den Laut, mit dem der Vogel anzeigte, dass keine Gefahr drohte.
Er lächelte über den Gedanken, dass er auf einen Krähenruf baute, um seine ärgste Furcht in Schach zu halten. Bei einem Jagdausflug hätte er sich vielleicht einen Spaß daraus gemacht, den Vogel vom Himmel zu holen.
Für die Wasservögel war die Schlafenszeit gekommen, und überall am Ufer schwärmten sie zurück in die Nester. Ihre Rufe antworteten der heranflutenden Nacht. Devine schloss die Augen, versammelte in Gedanken die Schlafrufe aller Vögel und verortete sie an ihren Schlafplätzen. So wob er sich in der Dunkelheit des Verstecks langsam selbst ein in das bewegliche Gespinst der Vogellaute, und während er dem Rufen und abendlichen Flügelrauschen zuhörte, schlief er wieder ein.
Das klägliche Quaken der Stockente ließ ihn aufschrecken. Der Laut erfüllte ihn mit Sorge, dieser Krächzer klang wie ein Todesschrei, ein klammes Gurgeln, das aus dem Vogelhals herausgepresst wurde. Er kletterte aus dem Versteck und watete in die Richtung des Lauts, aber er hatte abrupt geendet, wie verschluckt von der Schwärze der eisigen Nacht.
Doch dann hörte er ein weiteres klägliches Quaken aus dem Unterholz. Jetzt, im Freien, erkannte er den Misston darin. Den falschen Klang. Einen menschlichen Ton. So zu quaken erforderte Übung, aber ihn konnte man damit nicht täuschen.
Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr, und im selben Moment wurde ihm klar, dass sich ein Pfad zum Tod aufgetan hatte. Die Binsen schwankten, Schatten stürzten auf ihn zu. Während er durch das Ried zu seinem Versteck rannte, entdeckte er einen weiteren Schatten vor sich. Als er einen Haken schlug, hörte er etwas, das wie Lachen klang.
Die Stimme, die er heute Morgen am Telefon gehört hatte, sprach jetzt aus der Dunkelheit. Sie hatte sich verändert, war von jahrelangem Hass oder Krankheit entstellt. Er versuchte, ihren genauen Ursprung zu orten, den schwarzen Umriss, der die still ausschwärmenden Schatten auf die Beute lenkte.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass es so viele Verfolger sein würden. Die große Zahl erfüllte ihn mit Grauen. Was wäre, wenn sie alle Sühne von ihm forderten und ihn aufteilten, ein Stück von ihm für jede ihrer ganz persönlichen Versionen von Hölle wollten? Wie viele Tode konnte ein Mensch ertragen?
Als ihn ein schwerer Gegenstand im Gesicht traf und sein Mund sich mit Blut füllte, ließ er alle Hoffnung fahren. Ein zweiter Schlag drosch ihm das linke Auge wie einen Nagel in den Schädel.
Sein verbliebenes Auge irrlichterte umher, während die Schatten an seiner Kleidung rissen, bis sein Oberkörper entblößt war, und Schlag auf Schlag auf ihn einprasselte. Dann Totenstille, als sie innehielten und Atem schöpften. Die Arme schützend an den nackten Oberkörper gepresst, versuchte er sich wegzurollen. Seinen Körper nahm er nur noch als Schmerz wahr.
»Du mörderisches Dreckschwein«, sagte die bekannte Stimme nah an seinem zwinkernden Auge. Ein kaltes Lächeln zerschnitt dünne Lippen.
»Ich hab Jordan nicht umgebracht, wenn ihr das glaubt«, winselte er.
»Aber du hast mit denen, die’s getan haben, gemeinsame Sache gemacht«, entgegnete die Stimme. Sie schien von Speichel zu triefen, bereit, das kalte Mahl zu verschlingen, das gleich serviert werden würde.
»Ich wollte nur der Familie helfen. Wiedergutmachen, was passiert ist.«
Zu verletzt, um sich zu bewegen, begann er um Gnade zu flehen.
»Ich geb auf«, flüsterte er. »Ich geb auf.« Es wirkte eher wie ein an ihn selbst gerichtetes Versprechen.
Aber die Schatten ließen nicht von ihm ab, bis es fast dämmerte. Sie schlugen und traten auf ihn ein, als hätten sie jahrelang auf diese Gewalt verzichtet und genössen das Fest jetzt umso mehr.
Nachdem sie fertig waren und die Insel verlassen hatten, versammelte sich ein Krähenschwarm um das Opfer. Sobald die ersten hellen Flecken der Dämmerung am Himmel erschienen, begannen die Krähen zu zetern, als würden sie sich mit dem Krächzen über den schrecklichen Anblick beschweren, und übertönten damit den üblichen Morgenchor. Nur gab es kein Publikum, sie zu hören. Dünner Regen setzte ein und senkte sich wie ein Vorhang über den Informanten und die Insel, die ein Rückzugsort für Wasservögel war.
2
Dem angehenden Polizisten hatte man eröffnet, dass er als Rekrut erst mal viel Zeit in Gesellschaft Betrunkener verbringen würde. Als er am Samstagabend einen Notruf entgegennahm, dämmerte ihm, dass das grotesk untertrieben gewesen war. Der junge Officer hatte gerade mit einem Kollegen eine Runde durch die Pubs von Armagh City beendet. Er war unruhig, weil er den Trubel nach Schankende nicht gewohnt war, wenn wankende Betrunkene ihn durch die Scheiben des Streifenwagens anglotzten und ihr Grölen und Lachen durch das kugelsichere Glas drang. Er konnte