Auslöschung. Anthony J. Quinn
Verlängerung der Totenwache für seinen Vater gezwungen. Der Blackwater River war über die Ufer getreten und hatte die Straße zum Cottage überschwemmt. Die Gemeindekirche, nur eine halbe Meile entfernt, war von der Außenwelt abgeschnitten gewesen und hatte nur noch auf einer kleinen grünen Insel aus dem Wasser geragt.
Selbst für irische Verhältnisse hatte die Totenwache lang gedauert. Durch die winzigen Fenster eines Schlafzimmers im ersten Stock sahen die Trauernden, wie ein tiefer Himmel sich ihrer Betrübnis annahm. Als der Regen aufhörte, breitete sich über alles eine merkwürdige Stille. Erst am nächsten Morgen, als die Sonne durch die Wolken brach, zog sich das Wasser langsam zurück.
Als der Leichenwagen auf der von glänzenden grünen Stechpalmen gesäumten Straße davonfuhr, war die Erleichterung der Trauergesellschaft fast mit Händen zu greifen. Daly folgte ihm mit seinen Verwandten und den Nachbarn in einem sich weit dahinziehenden Leichenzug. Die nasse Straße vor dem Leichenwagen strahlte wie der hellste Ort auf Erden. Jemand riss einen Witz über das alte Auto seines Vaters, das aus dem Hof gespült worden und auf einem Heuhaufen gestrandet war. Daly fiel ein, dass sein Vater den Motor immer bis zum Anschlag hochgejagt hatte, ehe er morgens zur Messe fuhr.
Er zwängte seine Füße in Gummistiefel und stieg in sein Auto. Um vier Uhr morgens war die winterliche Dunkelheit jenseits der Windschutzscheibe etwas Absolutes, eine Sackgasse in der Nacht. Er fuhr am Seeufer entlang bis nach Bannfoot und bog nach links in Richtung Autobahn ab. Dabei warf er einen Blick in den Rückspiegel. Kein Auto weit und breit. Am Kreisverkehr stellte er die Heizung niedriger und suchte im Radio nach einem Wetterbericht. Ein DJ mit rauer Stimme sprach Gälisch und legte Motown-Songs aus den Sechzigern auf. An den Rändern seines Bewusstseins stiegen vage Erinnerungen an Diskoabende in Gemeindezentren auf.
Er öffnete das Fenster einen Spalt, um einen klareren Kopf zu bekommen, und nahm die Autobahn nach Westen. Der alte Mann muss losgelaufen und irgendwo in einen Graben gefallen sein, dachte er. Wahrscheinlich ist er den Weg früher unzählige Male gegangen – eine kleine Wanderung über die altbekannten Furchen und Senken seiner Felder, nur am Tag und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte.
Er setzte an, einen Wagen mit jungen Leuten zu überholen. Ein Bursche, offensichtlich betrunken, lehnte sich aus dem Fenster und bedachte den Detective mit einer obszönen Geste. Daly fuhr vorbei, ohne sich von der bevorstehenden Aufgabe ablenken zu lassen. Es würde nur ein kleiner Suchtrupp werden, wenn er nicht auch die Nachbarn einspannen konnte. In seiner zwanzigjährigen Laufbahn hatte er schon einige Suchtrupps zusammengestellt und wusste, dass die Leiche einer vermissten Person oft erst nach tagelanger Suche aus einem Fluss oder See gefischt wurde. Er hoffte, dass sie nicht zu spät kamen oder dass zumindest der schützende Mantel der Senilität dem alten Mann den schlimmsten Schrecken erspart hatte.
Daly staunte, wie abgelegen das Bauernhaus war. Hätten seine Verwandten dort gelebt, hätte er bei den ersten Anzeichen von Krankheit einen Umzug ins nächste Dorf veranlasst. Seine Scheinwerfer beleuchteten einen grasbewachsenen Feldweg, der anscheinend nicht allzu oft befahren wurde. Ein Warnschild vor Maul- und Klauenseuche, das nur unerlässliche Besuche gestattete, blitzte vor ihm auf. Er fuhr weiter; der letzte Ausbruch der Seuche lag über drei Jahre zurück.
3
Daly parkte in einem Hof hinter dem Wohnhaus. Den Versuch, ein paar kleine Anbauflächen daneben abzusperren, hatten ein unablässiger Wind und hungrige Tiere zunichtegemacht, die immer wieder Lücken in den Zaun gerissen hatten und darüber hinweggetrottet waren. Stellenweise hatte sich der Boden in schlammigen Morast verwandelt.
Die Anzeichen des Verfalls waren unübersehbar. Er zeigte sich im Durcheinander des Hofs voll rostiger Landmaschinen, in dem von Brombeeren und Unkraut halb überwucherten Garten und dem die Felder erobernden Schlehdorn. Von den Mauern blätterte die Farbe ab, auf dem Dach fehlten einige Ziegel. Dieselbe Vernachlässigung und der allmähliche Verfall waren auch beim Cottage seines Vaters nicht zu übersehen. Überall auf dem Land entlang des Seeufers standen solche verfallenden Häuser, geduckt hinter dunklen Hecken aus Schlehdorn, Weißdorn oder Holunder.
Als Daly ausstieg, schlug ihm muffiger Geruch entgegen, in den sich der übersüßliche Duft verfaulender Zwetschgen mischte. Sofort stürzte eine hagere Mittsechzigerin in einem schweren Morgenmantel auf ihn zu. Trotz der Dunkelheit und des Winds, der Eliza Hughes die grauen Haare ins Gesicht blies, war das Angstleuchten ihrer Augen sofort erkennbar. Im ersten Moment dachte Daly, sie sei verrückt, aber als sie zu sprechen begann, klang sie klar und bestimmt.
»Ich hab in den Schuppen und auf den Feldern nachgesehen. Nirgends eine Spur von ihm. Es ist zu spät, er ist längst verschwunden.«
Sie führte Daly ins Haus, und nachdem sie kurz mit einem Schlüssel herumgefummelt hatte, schloss sie die Tür zum Schlafzimmer des Vermissten auf. Daly kam der Raum eher wie ein Verhörzimmer als ein Schlafzimmer vor. An den nackten Wänden war weder ein Foto noch anderer Wandschmuck, das Fenster war winzig, und von der Decke hing eine grelle nackte Glühbirne. In der Raummitte stand ein vergittertes Bett, auf dem Boden davor lag eine Sensortrittmatte. Auf einer kleinen Kommode stand eine heruntergebrannte Kerze, deren Stummel von einem Häufchen Asche und verbranntem Papier umgeben war. Etwas an der Kerze kam Daly merkwürdig vor, aber er wusste nicht, was.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Ich hab David zur gleichen Zeit wie immer ins Bett gebracht und die Gitter festgemacht und die Sensormatte angeschaltet. Wenn er aufgestanden wäre, hätte der Alarm losgehen müssen.«
»Sie war sicher angeschaltet?«
Sie nickte.
»Ihr Bruder ist krank?«, fragte Daly nach einem weiteren Blick durch das Zimmer.
»Er ist dement. An manchen Tagen weiß er nicht mehr, wer er ist, und verwechselt mich mit unserer Mutter. Ich hab schon eine Pflegehilfe beantragt, aber Sie wissen ja, wie das heute mit den Sozialdiensten ist. Aber David könnte sich nie in das Leben in einem Pflegeheim einfügen.«
Als Daly die Hintertür kontrollierte, sah er, dass sie mit einem Hebeleisen aufgebrochen worden war. Der Schluss, dass Einbrecher ins Haus eingedrungen waren, lag nahe. Er nahm Eliza beim Arm und führte sie zum Küchentisch.
»Setzen wir uns«, sagte er. »Es scheint, dass in Ihr Haus eingebrochen wurde, Miss Hughes. Haben Sie nach den Wertsachen gesehen?«
»Hier gibt’s nichts, was irgendeinen Wert hätte. Sie haben nur seine Medikamente und ein paar seiner Anziehsachen mitgenommen«, entgegnete sie.
»Könnte es nicht sein, dass Ihr Bruder aufgewacht ist und in seiner Verwirrung einfach den Einbrechern gefolgt ist?«, schlug Daly vor.
Sie stand auf und setzte Teewasser auf. »Sie haben ihn mitgenommen. Sie beobachten uns schon seit Wochen.«
»Wer?«
»Keine Ahnung. Aber letzte Woche gab’s nachts einen schweren Sturm. Eine Kuh wurde davon wuschig und ist durch den Weidezaun gebrochen. Unseren ganzen Garten hat sie zertrampelt und die Blumentöpfe umgeschmissen. Ich hab sie zurück auf die Weide gescheucht und den Besitzer angerufen.«
Sie reichte Daly eine Tasse dünnen Tee.
»Als ich draußen war, hab ich bemerkt, dass jemand ein Loch in die Hecke geschnitten hat. Auf dem Boden waren Zigarettenkippen und Fußspuren. Seitdem hab ich das Gefühl, dass sich draußen im Dunkeln jemand rumtreibt, der da nichts verloren hat.«
»Haben Sie irgendwas Wertvolles im Haus?«
»Nichts, was mehr als Erinnerungswert hätte. Mein Bruder hat sein Leben lang nichts anderes gemacht, als in die Kirche zu gehen, sich um den Hof zu kümmern und im Winter Enten zu jagen. Seine Felder waren für ihn der Garten Gottes. Die Arbeit war sein Leben.«
Daly nickte, dachte im Stillen aber an die vielen ledig gebliebenen Bauern, nach deren Tod man kleine unter der Matratze gehortete Vermögen fand.
»Wenn Ihr Bruder gegen seinen Willen fortgebracht wurde, dann hätte er doch sicher Lärm gemacht oder sich gewehrt?«
Ausdruckslos