Auslöschung. Anthony J. Quinn
Devines Leiche redete sich Father Fee ein, dass alles, was geschehen war, Vorsehung war. Selbstverständlich hatte er sich nicht vorstellen können, dass Devine ermordet werden würde, aber in dem Umstand, dass er als Erster bei dem Toten sein durfte, sah er das Walten einer höheren, vielleicht sogar göttlichen Gerechtigkeit. Jetzt konnte er Devine mit den Sterbesakramenten versehen und ihm die Beichte abnehmen.
Der Priester kniete sich auf den Boden und legte dem Mann behutsam die Hand auf die Stirn. Dann sprach er die Worte, die er schon so oft gesprochen hatte.
»Möge Gott, der Allmächtige, dir seine Gnade zuteilwerden lassen, dir deine Sünden vergeben und dir das ewige Leben schenken.«
Das Gebet dauerte nur wenige Sekunden. Danach streifte sein Blick eine alte Hortensie, die vom Gewicht der durchweichten Blüten des Vorjahrs niedergedrückt war. Tief gebeugt waren ihre Zweige, die diese Überfülle an toten Blüten kaum zu tragen vermochten. Er fragte sich, warum die Natur den Strauch seine riesigen Blütenstände nicht abwerfen ließ, wenn sie verblüht waren, um es ihm leichter zu machen. Eine verzweifelte Sehnsucht nach den ersten Frühlingsboten ergriff ihn, nach einem zarten Schneeglöckchenblatt oder einer Blattknospe kurz vor dem Aufbrechen, aber der Strauch taugte dafür nicht, so wenig wie ihm der Ballast, der sich über die Jahre in seinem Kopf angesammelt hatte, half.
Wasser trat in sein krankes Auge, und dann fing auch das gesunde an zu tränen. Devines Leiche verschwamm vor seinem Blick wie ein Dorn, der sich nicht fassen und herausziehen ließ.
5
Nachdem sie den wackligen Bootsanleger hinter sich gelassen hatten, riet der Fischer Celcius Daly, sich zurückzulehnen und die Landschaft zu genießen. Beim Hinausrudern aus der Mündungsbucht tat sich im Norden die weite Seefläche des Lough Neagh auf, während die Uferlinie immer zerklüfteter wurde. Bald sah Daly die Umrisse von Coney Island, und als das Boot sich der Insel näherte, entdeckte er den verkohlten Eichenstumpf, die ein Blitz in Brand gesetzt hatte. Eine Gruppe von Männern und Frauen, teils in Schutzanzügen, wuselte zwischen den geschwärzten Baumteilen hin und her. Als der Fischer an einer Schilffläche vorbeiruderte, flog eine Seeschwalbe mit zunehmend gereiztem Keckern auf sie zu.
Der schlanke, schnittige Fiberglasrumpf des Polizeiboots, des einzigen, das hier im Einsatz war, blockierte fast den gesamten Anlegesteg. Daly gelang es, auf die Planken zu springen, ohne sich ein Bein zu brechen. Er war froh, wieder halbwegs festen Boden unter den Füßen zu haben.
»In der Regel machen Leichen keine Geräusche«, warnte Ruari Butler, der heranschlendernde Rechtsmediziner, den Detective zur Begrüßung. »Aber ich fürchte, hier haben wir es mit einem sehr speziellen Fall zu tun.«
Er zeigte Daly den Tatort mit einer Beflissenheit, als ob er ihn durch ein Naturschutzgebiet führen würde. Unbeholfen tastete Daly hinter dem großen Mann nach dem Absperrband, um darüberzusteigen, und stolperte leicht.
Auf den ersten Blick entdeckte Daly nichts Auffälliges. Der Körper eines barfüßigen älteren Manns war sitzend gegen einen verkohlten Baumstumpf gelehnt. Seine Miene war entspannt, der Mund stand leicht offen, und die Zunge hing heraus, als hätte sie versucht, dem Tod ihres Wirts zu entwischen. In der Luft hing der Duft überreifer Schlehen, und das Surren der um die Leiche schwirrenden Fliegen erweckte den Anschein, als würde sie leise schnarchen. Kein sichtbares Anzeichen für ein Verbrechen, bemerkte er. Es könnte auch der tragische Unfall eines alten Manns sein, der wie jeden Morgen barfuß hierhergekommen war und sich in dieser Baumhöhle ausgeruht hatte, als ihn der Tod ereilte.
Aber bei genauerem Hinsehen war offensichtlich, dass Teile der Leiche versengt waren und man kaum zwischen menschlichen Sehnen und verbranntem Holz unterscheiden konnte. Die schwarzen, im Feuer geschrumpften Gliedmaßen des Opfers und die verkohlten Äste waren ineinander verschlungen, als hätte sich der Körper um die Überreste eines deformierten Zwillings gewickelt. Eine Untersuchung des Kopfs ergab vielfache stumpfe Verletzungen und Reste klebrigen Bluts. Der Hinterkopf war grießig wie ein durch den Fleischwolf gedrehter Knorpel.
Um die Leiche schwirrten Kriminaltechniker, die fleißig fotografierten, Haarproben nahmen und mikroskopisch kleine Beweisstücke aus dem Gebüsch klaubten, um ein brutales Stück Vergangenheit zu heben und zu katalogisieren. Nach getaner Arbeit würden sie damit abmarschieren und es in den Regalen eines forensischen Labors einlagern.
Butler sprach zu ihm, aber Daly konnte seinen Worten kaum folgen, weil er zu sehr mit diesem Anblick beschäftigt war. Manche Detectives vermochten alle Einzelheiten eines grausamen Mords aufzusaugen wie ein Hochleistungsstaubsauger, aber Daly gehörte nicht dazu. Butler bemerkte sein Unbehagen. Um ihm zu helfen, die Fassung wiederzuerlangen, richtete der Pathologe den Blick auf das Südufer des Sees und fing wie zum Spaß an, die dortigen Townlands des County Armagh aufzuzählen: Clonmakate, Columbkille, Maghery und Derrylileagh.
Der Schauder, der Daly in die Eingeweide gefahren war, war jedoch schwächer ausgeprägt als die professionelle Rivalität im Umgang mit Unangenehmem, die ihn mit Butler verband, und so ärgerte er sich ein wenig über dessen taktvolle Ablenkung von seiner Schwäche.
»Wie lang ist die Leiche hier?« Daly blickte auf das entspannte Profil des Gerichtsmediziners.
»Zum Glück wurde das Opfer gefunden, bevor der eigentliche Verwesungsprozess eingesetzt hat oder sich die Wildtiere hier daran haben gütlich tun können.«
»Dann hätte es für ihn ja kaum besser laufen können, was?« Dalys Ton war eisig.
»In gewisser Hinsicht ja. Für eine Leiche ist so ein Wildschutzgebiet kein guter Aufenthaltsort.«
»Und was wäre einer?«
Unbeeindruckt von Daly wie von der Leiche, ging Butler behutsam um einige Holzstücke herum, allein auf den Fortgang seiner Gedanken und Schlussfolgerungen konzentriert. Ähnlich wie die Mathematik machte der Tod die Dinge einfacher. Herauszufinden, wie etwas geschehen war, bedeutete, die Dinge mit klarem, nüchternem Blick zu betrachten und den Schleier der Gefühle zu lüften.
»Immerhin hat er die Sterbesakramente bekommen«, bemerkte Daly.
»Freundlicherweise verabreicht durch Father Jack Fee aus Maghery. Kennen Sie ihn?«
»Nein. Ich bin kein regelmäßiger Kirchgänger. Aber ich werde ihn besuchen.«
»Er sagt, der Tote ist Joseph Devine, ein frommes Mitglied seiner Gemeinde. Offenbar hat Mr. Devine keine näheren Verwandten. In seiner Jacke war eine Brieftasche mit einem Führerschein und mehreren Bankkarten.«
Die Wellen von einem vorbeifahrenden Motorboot klatschten gegen den Anlegesteg. Die beiden Männer sahen zu, wie das Boot um das Inselufer kurvte und aus ihrem Blickfeld verschwand.
»Das Opfer wurde durch eine Reihe von Schlägen gegen den Kopf, ausgeführt mit einem stumpfen Gegenstand, getötet«, fuhr Butler fort. »Außerdem wurden seine Gliedmaßen angezündet, möglicherweise um ihn zu foltern. Dabei diente Baumharz als eine Art Brennstoff. Den genauen Todeszeitpunkt werden wir nicht mehr herausfinden, aber grob geschätzt dürfte er nicht länger als vierundzwanzig Stunden zurückliegen.«
Mit einer Pinzette drückte der Gerichtsmediziner auf die Brust des Opfers. Es folgte ein Zischen, und aus dem Hals der Leiche kam ein Geräusch. Ein anhaltendes raues, vogelartiges Gurgeln. Es war eines der merkwürdigsten Geräusche, die Daly je gehört hatte. Hoch, wild, unmenschlich.
Er sah Butler beinahe flehend an. »Was zum Teufel war das?«
»Erkennen Sie’s nicht?«
Butler öffnete den Mund des Opfers. Er hatte die Kehle schon eingehend untersucht. Geschickt fummelte er mit der Pinzette einen kleinen Metallgegenstand heraus und hielt ihn vor Daly in die Höhe.
»Eine Entenpfeife. Steckte knapp über dem Kehlkopf.«
Die Anspannung auf dem Gesicht des Detective nahm etwas ab.
»Nach dem Trauma in der Mundhöhle zu schließen, wurde sie dem noch lebenden Opfer gewaltsam eingeführt.«
Er