Elijas Lied. Amanda Lasker-Berlin

Elijas Lied - Amanda Lasker-Berlin


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einige Wolken am Himmel. Sie nimmt ihren Rucksack, setzt ihn auf. Von dem Gewicht biegen sich die Schultern nach vorn, schießt der Kopf in den Nacken. Loth läuft los. Unter dem Baumstammbogen zieht sie die Wanderkarte aus der Hosentasche, überprüft, ob sie sie so gefaltet hat, dass sie den ganzen Wegverlauf im Blick hat. Dann stellt sie sich auf die Planken. Sie lauscht. Wundert sich, dass sie Elija nicht heulen hört. Sie geht weiter, sieht Noa vor einem Bach hocken.

      Elija setzt sich auf den Boden. So will sie nicht loswandern. Nicht mit Loth und nicht mit Noa. Kurz betrachtet sie den Schuh, guckt dann lieber schnell weg. Sie hat jetzt schon Durst, sie hat jetzt schon Hunger. Auf Kaiserschmarrn und Kirschsaft.

      Vielleicht bleibe ich einfach hier, schreit sie in sich hinein, schlägt den Hinterkopf an die Scheibe. Ihr schwindelt es heftiger. Sie schlägt nochmals. Dann hört es auf, und sie sieht klar.

      Die Bäume verstellen den Horizont. Ob hinter dem Moor wirklich der Berg mit den toten Stämmen kommt?

      Elija legt beide Hände um den Knoten. Ihre Finger sind grob. Sie ist nicht so geschickt. Alle sagen ihr immer, das sei nicht so schlimm. Denn Elija hat Kraft. Sie zerrt an dem Knoten. Die Schnürsenkel ziehen sich zusammen, spannen das Innenfutter um den Fuß. Elija macht einen weiteren Knoten. Ganz nah an der Zunge. Der Schuh sitzt fest. Sie steht auf. Zum Glück hat sie ohne Tränen geweint. Sonst müsste sie jetzt ihr Gesicht abwischen.

      Noa stellt sich hin. Loth schlurft auf sie zu. Dahinter hüpft Elija. Loth zieht beim Laufen eine Zigarette aus ihrer Hosentasche, riecht daran. Noa mag, wie Loths Gesicht entspannter wird, wenn sie sich Tabak vor die Nase hält. Sie sieht anders aus als auf den Fotos, die sie ins Netz stellt. Die Bilder, die mehreren tausend Menschen gefallen. Bilder, auf denen Loth adrett gekleidet ist, die Haare streng frisiert, die Haut glattgeschminkt. Mit angespanntem Körper und eingemeißeltem Lächeln dasitzt und gefällt. An der man nicht vorbeischauen kann. Das Gesicht ist so schön. Fast unwirklich. Wie eine Statue, die die Blicke auf der glatten Oberfläche fängt. Eine Statue, die sagt: Ich bin lebendig. Aber wenn man sie berührt, ist sie doch nur kalter Stein.

      Dieses ruhige Gesicht hat Noa an Loth lange nicht mehr gesehen. Das letzte Mal vielleicht als Jugendliche.

      Als sie an den späten Abenden durch den Stadtteil streifen. Ohne Elija, nur die beiden. Ohne sich erklären zu müssen und ohne auf den Weg zu achten. In der Heimatstadt können sie laufen und laufen und kommen immer wieder an derselben Stelle an. Sie bleiben nur stehen, um mit Steinchen die letzten intakten Laternen zu zerschießen. In vollkommener Dunkelheit schleichen sie weiter. Verlaufen ist unmöglich. Loth und Noa haben Katzenaugen. Sie kommen an verlassenen Häusern vorbei, in denen die modrigen Gardinen aussehen wie suizidale Gespenster. An der geschlossenen Bäckerei entlang, direkt in den dünnen Streifen Wald. Kahle Baumkronen, und weit darüber ausgefranste Sterne. Dann und wann zielt Loth mit Eicheln auf sie. Unter den jungen Neubaugebietsbäumchen holt sie die Zigarette aus der Tasche, hält sie vor Noas Gesicht und lässt sie von den Sternen segnen. Ihr Feuerzeug leuchtet auf, und Loth räuchert sich die schlechte Laune aus dem Körper. Reicht die Zigarette weiter an Noa, die einmal zögerlich zieht.

      Jetzt schiebt Loth die Zigarette behutsam zurück in ihre Hosentasche. Sie raucht nicht im Wald. Nicht im Sommer.

      Noa bemerkt, dass ihre Hose beim Hocken nass geworden ist. Die Knie sind kühl. Sie schaut noch einmal in den Bach. Dunkles Laub, wenige glattgewaschene Steine überspült von dem klaren Wasser.

      Elija fällt ihr um den Hals.

      Habe meinen Schuh repariert!, quietscht sie. Elijas Körper ist warm. Wärmer als jeder andere Körper, den Noa je gefühlt hat. Elija ist weich. An jeder Stelle, und egal, wo man sie berührt, spürt man ihren zittrigen Tonus. Elija hält nie still. Ihr Atmen sammelt sich in Noas Ohr. Das klingt wie Thermalbadrauschen.

      Du hast deinen Schuh repariert?, wiederholt Noa überdeutlich.

      Hast du es jetzt doch hinbekommen?, fragt Loth und schaut skeptisch auf den Schuh.

      Guck, guck, macht Elija, streckt das Bein aus und hält den Schuh in die Höhe.

      Was ist das denn für ein Knoten?, lacht Noa bewundernd.

      Elija-Knoten! Elija klatscht begeistert in die Hände. Loth verdreht die Augen.

      Sie schaut über das Moor. Morgennebelschwaden hängen darüber. Schlucken die Bäume im Hintergrund. Der Bach glänzt. Loth holt ihre Sonnenbrille aus dem Rucksack und setzt sie auf. Mit der Brille sieht sie aus wie ein Insekt. Deshalb hat sie sie ausgesucht. Große Facettenaugen, denen nichts entgeht. Augen, aus denen sie herausschauen, in die aber niemand hineinblicken kann.

      Jetzt geht’s los!, jubelt Elija und springt hoch. Bei der Landung wackeln die Planken. Noa und Loth strecken die Arme aus, um in Balance zu bleiben.

      Dann immer geradeaus. Was anderes bleibt uns auch nicht übrig, denkt Noa und schaut auf das Wegstück vor sich.

      Loth hält Abstand zu den Schwestern. Elija läuft voran. Sie ist immer die Langsamste. Kann mit ihren kurzen Beinen und dem schweren Körper nicht so schnell. Ihr Rucksack ist der kleinste. Noa hat Elijas Wasser mit in ihren genommen. Loth trägt die Brote.

      Loth mag es nicht, langsam zu sein. Sie ist immer schnell. Nur wenn sie mit Elija zusammen ist, muss sie Rücksicht nehmen. Vom langsamen Gehen tun ihr schnell die Knie weh. Wach werden kann sie so auch nicht. Sie schaut auf die Gräser, die neben den Planken wachsen. Hellgrün. Eigentlich findet sie die Natur eh langweilig. Deswegen ist sie nach Halle gezogen. Von der patriotischen Hausgemeinschaft mit frischen Eiern und Ziegenmilch auf dem Land in die patriotische Hausgemeinschaft mit Barraum und regelmäßigem Kinoprogramm. In Halle gibt es kein Hellgrün. Zumindest nicht so viel wie auf dem platten Land. In Halle gibt es nicht nur einen Streifen Hellgrün auf dem Boden, einen Streifen Dunkelgrün in der Mitte und einen Streifen Grau am Himmel. Da gibt es mehr als den Nebel am Morgen und einen dicken Baum auf dem Feld. Mehr als die Umrisse einer Kohlekraftanlage am Horizont. Auf dem Land ist Loth jeden Morgen joggen gegangen. Einmal bis zum Rauschen der Autobahn und wieder zurück. In Halle kann sie das nicht mehr machen. Obwohl sie gerne würde. Aber in den Parks ist es zu gefährlich geworden, findet sie und wundert sich, wenn junge Frauen da alleine durchspazieren. Morgens, mittags und abends. Denen kann sie auch nicht helfen, denkt sie dann.

      In Halle sitzt Loth jeden Morgen auf der tiefen Fensterbank. Der erste Kaffee dampft neben ihr. Die Mitbewohner sitzen beim Frühstück in der Küche, bei Haferschleim und Wachwerden. Loth braucht morgens Ruhe, inhaliert Sauerstoff. Ihr Fenster ist geöffnet. Würde sie jemand erschrecken, sie könnte hinausfallen. Auf die Straße knallen und verbluten, ohne es bewusst zu erleben. Durch das Fenster dringen die ersten Stadtgeräusche. Keuchende Autos, Busse, die schniefend die Luft aus den Reifen lassen. Absatzschuhe schlagen auf Kopfsteinpflaster. Hinter der Hochhackigen läuft eine Frau mit verfilzten Haaren. Sie sieht aus wie eine Ureinwohnerin, wie jemand, der sich nicht wäscht, wie Pack eben, findet Loth. Sie schnappt sich die Tasse und schaut lieber dort hinein. Im dunklen Kaffee spiegelt sich ihr Gesicht. Morgens ist sie hübsch.

      Die Ureinwohnerin verschwindet in Richtung Universität. Loth überlegt, ob sie sie schon kennt. Von den Protesten vor der Hausgemeinschaft. Grölende Menschen, die Loth und die anderen als Faschisten, als Mörder und was nicht noch alles beschimpfen. Die Krach machen. Worauf die aus der Gemeinschaft noch mehr Krach machen. Die gelben Fahnen hissen, mit dem schwarzen Symbol, und Parolen rufen. Auf Latein. An solchen Tagen wirbelt Loth durchs ganze Haus, vlogt aus dem Gemeinschaftsraum heraus, postet wild in die Welt. Im Haus gibt es nur morgens Stille. Und dann, wenn die Linken zu beschäftigt sind, die Gemeinschaft zu stören.

      Der Bus hält wenige Meter von der Haustür entfernt. An der Haltestelle haben sich schon Leute versammelt. Alte, die nichts mehr mitkriegen. Junge, die nichts mehr mitkriegen wollen, und Mittelalte, die hier nichts zu suchen haben.

      Überall Studierende, aggressive Meinungsfaschisten, findet Loth. Alle gleichgeschaltet und verstrahlt. In lumpiger Kleidung oder in durchschnittlichen Jeans mit Rucksäcken und Beuteln streunen sie die Straße entlang, vergeuden ihren Tag in dunklen Hörsälen und jammern


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