Elijas Lied. Amanda Lasker-Berlin

Elijas Lied - Amanda Lasker-Berlin


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abbekommt. Ihren gelben Schnabel reckt sie in die Höhe, ihren Körper plustert sie auf, lärmt in das Geschäft. Noa will nicht an der Möwe vorbeigehen, schaut in die Bäckerei. Aus dem Kaffeeautomaten tropft hellbraune Brühe in Pappbecher, in der Selbstbedienungsauslage schwitzt das belegte Brot Remoulade aus. Noa hat Hunger. Die Möwe bemerkt sie, läuft auf sie zu, mit Geschrei und ausgestreckten Flügeln. Noa rudert zurück, stolpert rückwärts, findet mit ihren Absätzen keinen Halt. Ihre Knie knicken ein, der Oberkörper fällt nach vorn, erschreckt die Möwe. Sie fliegt weg, und Noa liegt auf dem Bürgersteig. Ein alter Mann schaut sie verwundert an, als sie sich aufrappelt. In ihrem Knöchel zieht es. Beim Gehen merkt sie, dass sie humpelt. Sie läuft an der Bäckerei vorbei. Heute kein Brötchen mit Ei und Remoulade und keinen Milchkaffee dazu. Alle haben ihren Sturz gesehen, alle beobachtet, wie die Möwe sie fast angefallen hätte, denkt Noa und verflucht ihre Schuhe.

      Im Glashaus zieht sie die Arbeitsschuhe an. Turnschuhe, dazu eine weiße Hose und ein Kittelchen, eine Haube, unter der die roten Haare versteckt werden müssen. Lange desinfiziert sie die Hände. Sorgfältig schmiert sie jeden Finger ein, lässt keine Hautstelle aus.

      Die anderen stehen schon an den Töpfen. Überwachen, wie das Tiefkühlessen auftaut. Wie aus Blöcken Suppe wird und aus Klumpen Kartoffelbrei.

      Sie nickt zur Begrüßung. Hier spricht man nicht. Außer wenn das Gehalt nicht überwiesen wurde oder ein neuer Mitarbeiter eingearbeitet werden muss. Noa liest die Namen von den Schildern auf der Brust ab, wenn sie eine Frage hat. Meistens gibt es keine Fragen. Was man wissen muss, steht auf der Tageskarte. Der, der als Erstes da ist, nimmt sich die beste Aufgabe. Deshalb schafft Noa es oft, sich den Salat zu sichern. Wenn sie bei Akim übernachtet hat, bleiben nur noch die Fische übrig.

      Um das Fleisch kümmert sich immer die alte Frau. Von Antidepressiva ist sie aufgequollen. Ihre Wangen hängen herunter, ihre Augen liegen unter Fleischlappen. Noa fragt sich manchmal, ob sie überhaupt etwas sehen kann. Der Alten passiert es öfter, dass sie vor Tischkanten läuft, sie weigert sich, die Teller zu befüllen. Lieber schlägt sie mit dem Holzhämmerchen auf aufgetaute Schnitzel.

      An der Spülmaschine arbeitet das junge Mädchen, das jeden Freitag um dreizehn Uhr in Ohnmacht fällt. Es darf dann früher gehen. Nicht nach Hause. Es betont jedes Mal, dass es kein Zuhause sei, in dem es da wohne, sondern eine Übergangslösung. Eine Art Kaserne. Noa fragt nicht weiter. Das Mädchen ist bleich. Das Mädchen hat keinen Schulabschluss, glaubt Noa. Zumindest kann es nicht sonderlich gut schreiben, und das Zählen gelingt nur selten. Am Spargel steht der Alte. Der, der am liebsten in den Töpfen rührt und Angst bekommt, wenn etwas am Topfboden anbrennt. Weil er so alt ist, rührt er mit einer Hand und stützt sich mit der anderen auf der Arbeitsfläche ab, bis er sich das Blut abklemmt. Dann schüttelt er so lange, bis wieder Blut reinfließt.

      Wenn Noa an ihm vorbeischlurft, hört sie ihn murmeln. Vom Weltuntergang, von der Übernahme anderer Kräfte, vom neuen Zeitalter, das ihn nicht mehr brauche und die anderen schon gar nicht. Ein Zeitalter, in dem es keinen Spargel und keine Töpfe mehr gebe. Der Alte hat Angst, in der Kantine zu sterben, mit dem Kopf in das brodelnde Wasser zu fallen. Tot zu sein, noch bevor sein Gehirn verkocht ist. Der dampfende Gedanke ist das, worauf ich in meinem Leben noch warte, murmelt er Noa zu. Sie steht hinter ihm, schaut in den Spargeltopf. Wie weiße Fingerchen schwimmen die Stangen herum. Noa schnappt sich eine Zange. Dann geht sie zum Salat.

      Noa dreht sich um und läuft ein Stück rückwärts. Dabei muss sie darauf achten, nicht gegen Elija zu stoßen. Noa spürt Loth in ihrem Rücken.

      Kannst du nicht normal laufen?, fragt Loth wenig interessiert und pflückt noch ein wenig Gras. Noa antwortet nicht, betrachtet wieder den Himmel. Die Fichtenspitzen stechen in das helle Blau. Ein Vogel kreist weit über dem Moor. Geschmeidig schraubt er sich höher und höher, wird ein immer kleinerer Punkt zwischen den mickrigen Wolken.

      Du stößt gleich gegen Elija, pass mal auf, murrt Loth.

      Noa läuft weiter rückwärts.

      Kannst du das nicht, Loth?

      Kann ich, aber ich will nicht. Ist doch bescheuert. Wenn man ordentlich laufen kann, muss man ja nicht behindert laufen.

      Ich würde vielleicht mal überlegen, welche Wörter ich benutze, sagt Noa zu Loth.

      Ich weiß, dass ich behindert bin, sagt Elija. Sie bleibt stehen. Noa stolpert in sie hinein. Elija fängt sie ab.

      Und ich würde das nächste Mal schauen, wo ich hinlaufe, damit ich meine Schwester nicht verletze, sagt Loth spitz.

      Loth hakt sich bei Elija unter und führt sie schneller durch das Moor.

      Da sieht man es wieder, beginnt sie. Die Noa läuft dich einfach so über den Haufen.

      Nicht mit Absicht, versucht Elija zu sagen. Aber das Wort Absicht konnte sie noch nie richtig aussprechen.

      Jetzt haben wir uns, Elija, schwafelt Loth theatral und so laut, dass Noa es mehr als gut verstehen kann. Da brauchen wir deine rücksichtslose Schwester nicht. Wir zwei Invalidinnen, wir halten zusammen.

      Als Noa das Wort Invalidinnen hört, wird sie wütend, holt auf, um nah hinter den beiden zu laufen. Sie weiß, wie Loth beim Sprechen riecht. Penibel sauber gehaltener Atem. Zahnpasta mit Minzgeschmack und Mundwasser. Nichts, was nach Loth riecht. Nichts, das mehr ist als steril.

      Das Laufen ist für Elija anstrengend. Sie hat nicht so viel Ausdauer, und eigentlich wissen Loth und Noa das. Manchmal ist ihnen das aber egal. Und das weiß Elija auch. Sie stützt sich bei Loth ab.

      Auf den sperrigen Knochen liegt ihr Arm unangenehm auf. Ob man blaue Flecken bekommt, wenn man Loth zu lange berührt?

      Elija mag nicht, dass Loth nach gar nichts riecht. Nicht nach Schweiß, nicht nach Parfüm. Einfach nur nach T-Shirt-Stoff und Wasser. Vielleicht benutzt sie nur Oma-Seife und anonymes Waschmittel.

      Elijas Durst wird stärker.

      Morgens wacht sie jedes Mal auf, weil sie trinken muss. Neben ihrem Bett steht eine kleine Flasche. Sie ist halb gefüllt. Unten ruht das Wasser, und darüber fängt Elija die ersten Sonnenstrahlen. Sie glitzern in den Raum. Zum Schlafen dunkelt Elija das Zimmer nie ab. Sie mag, wenn sich der Tag Schritt für Schritt ausbreiten kann.

      Wenn sie unter der Dusche steht und das Wasser auf ihren Kopf prasselt, streckt sie die Zunge raus und fängt ein paar Tropfen. Die schlingt sie gierig hinunter. Vom ersten Geschmack am Morgen hängt ab, ob es ein harter oder ein weicher Tag wird. Von der Größe der Tropfen, ob er schnell wird oder langsam. Elija liebt schnelle Tage, und deshalb hat sie die Brause so eingestellt, dass nur feine Tropfen hinauspurzeln.

      Müde hängen die Brüste auf den großen Bauch. Sie mag es, sich von oben anzuschauen und die Fußspitzen hervorblitzen zu sehen. Zum Wachwerden trampelt sie in die kleine Pfütze in der Duschtasse. Das Wasser springt einmal nach oben, bevor es in die Kanalisation jagt. Elija lacht spitz.

      Was ist?, fragt Mio.

      Elija hört ihn nicht. Das Wasser ist zu laut. Es scheppert an ihren Ohren vorbei, schlägt auf die Schultern, poltert die Körperkurven hinunter. Vor den Augen macht es alles verschwommen. Elija kneift die Augen zu.

      Ist alles gut? Mio schiebt den Vorhang zur Seite. Das Wasser spritzt in sein Gesicht.

      Elija erschrickt, zuckt zusammen, lacht dann laut auf. Mios Gesicht ist voller Rasierschaum, nicht nur an den Wangen und am Kinn, sondern auch an der Stirn. Sie klatscht in die Hände, springt kurz hoch und rutscht beim Landen fast aus.

      Pass auf, sagt Mio und hält sie fest.

      Nichts passiert. Komm.

      Ich bin schon angezogen.

      Mio hat sein Gemütlichkeitsoberteil an und seine Jeans.

      Kannst du wieder ausziehen. Elija grinst frech. Das hilft immer. Schnell dreht sie das Wasser aus. Mio schlüpft aus der Kleidung, steigt zu Elija in die Dusche. Sie macht das Wasser wieder an. Warm läuft es an ihren Beinen entlang. Sie sehen sich nicht an, sie wissen so gut, wie


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