Elijas Lied. Amanda Lasker-Berlin
das einzige Argument dafür sein, denkt sie. Atmet die Dämpfe ein. Davon wird sie satt, und ihr wird etwas übel. Noa schnibbelt weiter. Schaut nicht hoch, bis ihr das Messer aus der Hand rutscht, runterfällt, sie hebt es auf, blickt umher. Am Kaffeeautomaten steht Akim, er achtet nicht darauf, wie das Instantpulver mit Wasser in die Tasse läuft. Er sucht den Dunst nach Noa ab.
Sie lächelt, weiß aber nicht, ob er es sieht. Sie will nicht, dass er sie fragt: Was machst du heute Abend? Diese Diskussion soll nicht losgehen.
Akim tritt näher an die Scheibe, hinter denen die Muffins liegen. Er sucht sich einen aus, wartet, bedient zu werden. Eigentlich ist das heute nicht Noas Aufgabe. Sie geht trotzdem zu ihm. Er grinst.
Ich muss mit einem Kunden zu Mittag essen, haucht er. Aber abends habe ich Zeit.
Noa nimmt den Muffin vorsichtig aus der Auslage.
Ich muss arbeiten.
Sie setzt den Muffin auf einen Teller, legt eine gemusterte Serviette dazu und trägt ihn zur Kasse.
Ach, so nennst du das, murrt er, hält seine Karte an das Lesegerät. Es piept, bucht den Betrag ab.
Ja, so nenne ich das, sagt Noa schroff.
Und wen machst du glücklich?
Noa sieht, wie Akim seine Schultern anspannt, wie sein Gesicht hart wird. Wie jedes Mal, wenn sie über Noas richtigen Beruf reden.
Du hättest es am liebsten, wenn ich hier den ganzen Tag Muffins verkaufen würde, faucht sie leise. Sie will nicht, dass die anderen etwas mitbekommen. Sie will sich vorstellen, dass die anderen nicht wissen, was da zwischen ihr und Akim ist. Dass sie nicht denken: Von der Kantine in die Chefetage. Aber das denken sie eh schon.
Nein, lügt Akim. Ich will nur …
Ich will jetzt nicht darüber reden, Akim.
Und ich würde dich gerne heute Abend sehen.
Ich kann zu dir kommen, nachdem ich fertig bin, schlägt Noa vor.
Akim muss nichts sagen, nicht den Kopf schütteln. Er streckt die Hand nach ihr aus. Sie weicht zurück.
Mach’s gut, zischt er, und sie nickt.
Zehn. Sechsundzwanzig
Das Moor erstreckt sich weiter, als die Schwestern gedacht hätten. Loth fährt mit dem Finger den Weg ab, den sie gelaufen sind. Merkt, dass sie einen Umweg gemacht haben, dass es eine Abkürzung gegeben hätte. Die haben sie übersehen. Und jetzt geht es nur noch die Holzplanken entlang. Immer die Holzplanken entlang, mal etwas gerader direkt am kleinen Bach, dann gewundener. Loth geht schneller. Sie will dieses Moor nicht mehr sehen.
Sie trauert dem Moor von früher hinterher. Dem aus der Kindheit. Das war doch ein anderes, oder nicht? Loth hätte gedacht, dass wenigstens die Natur bleibt, wie sie ist. Oder sich nur langsam verändert. Dass mal ein Baum stirbt und ein neuer wächst. Aber nicht, dass sich die Farben so austauschen und die Größenverhältnisse.
In ihrem alten Kinderzimmer hängt ein Bild vom Toten Meer. Zeigt die Schwestern als Kinder, wie sie auf der Wasseroberfläche treiben, mit Zeitungen. Loth weiß, dass das Meer geschrumpft ist und das Moor sich hier ausgebreitet hat. Dass irgendwelche Forscher da wieder einen Zusammenhang sehen. Diese Forscher, die behaupten, dass alles irgendwie aufeinander wirkt. Aber Loth kann das nicht glauben. Dieses Moor steht doch nur für sich allein. Hat nichts mit dem Moor drei Berge weiter zu tun und auch nichts mit dem Toten Meer. Und auch nicht mit dem Moor, in dem Loth eigentlich sein möchte.
Vielleicht ist es auch gar nicht das Moor, durch das sie früher gelaufen sind. Vielleicht haben die Eltern sie angelogen. Dieses Moor hier mit einem anderen verwechselt, den Namen im Fotoalbum verkehrt zugeordnet.
In diesem Moor ist sie zum ersten Mal. So muss es sein. Sie und die Schwestern gehen gar nicht die alte Route, die alte Wanderung, die sie mit den Eltern gemacht haben. Das hier ist ein ganz neuer Pfad. Nur dass Elija und Noa es nicht merken. Elija und Noa denken, sie kommen zurück. Aber das stimmt nicht, denkt Loth und ist sich sicher.
Die Eltern lügen oft, oder nicht? Warum sollten sie dann bei einem Moor ehrlich sein!
Die Eltern, die sich mit Loth auf das Sofa setzen und sich ihren Plan anhören. Den Plan von der Wanderung zu dritt. Den Plan, noch einmal Schwestern zu sein. Den Plan, zu dritt auf den Berg zu steigen. Und die Eltern lächeln und freuen sich, und der Vater tätschelt Loths Hand, durchsucht danach alle Fotoalben nach Hinweisen und den Keller nach den alten Reiseführen. Und die Mutter schaut Loth lange an und sagt dann: Ich finde es gut, dass du das mit Noa und Elija machen möchtest. Ihr seid Geschwister.
Und Loth isst Kuchen und trinkt Kaffee mit Milch und wartet, bis der Vater ihr die Reiseführer in die Hand drückt. Sie blättert sie durch. Die Routen sind mit Klebezetteln markiert. Die Mutter schreibt ihr die Telefonnummern von Elija und von Noa auf und warnt sie vor. Sei nicht enttäuscht, wenn die beiden vielleicht nicht mitkommen möchten.
Die werden schon wollen, sagt Loth und weiß, dass sie überzeugend sein kann.
Jetzt stapft sie durch das Moor. Wütend und jeden Schritt hassend. Der Vater hat sie belogen, glaubt sie. Der hat ihr irgendwelche anderen Karten gegeben. Der hat sie angelogen, der will nicht, dass die drei noch einmal zusammen sind, wie sie das als Kinder waren. Der will, dass es Loth schlecht geht. Loth ist sich sicher, und Loth hasst den grellen Tag, und Loth schreit in sich hinein: Was wollen wir in diesem Moor?
Zehn. Achtunddreißig
Elija findet die Umgebung trüb. Obwohl so schönes Wetter ist, ist es ihr im Moor zu eintönig. Sie sieht Loths Umrisse einige Meter vor ihr. Elija schnauft, versucht, schneller zu sein. In ihren Seiten sticht es. Sie atmet unregelmäßig.
In der Theatergruppe ist sie die mit der meisten Ausdauer.
Elija steht im Probenraum. Dunkler Tanzboden und eine hohe Decke, keine Fenster in den Wänden. Nur die Scheinwerfer beleuchten die Gruppe. In einem Kreis liegen sie auf dem Boden. Elija mag es, den festen Untergrund zu spüren, all ihre Kraft hineinzudrücken. Der Boden gibt einfach nicht nach. Er hält sie.
Elija spiegelt Mio, Mio spiegelt Lena, und Lena spiegelt Nino. Komplett synchron bewegt sich der Kreis über den Boden. Konzentrierte Bewegungen, die Augen weit aufgerissen, keine Regung wird verpasst. Elija schaut nicht auf Mios Körper, nur in seine Augen. Darin kann sie sehen, welchen Körperteil er als nächsten verändern wird. Sein Bein streckt sich, wird höher als sein Kopf, Elija ist gelenkiger, könnte das Bein weiter anheben. Aber sie lässt es. Darum geht es jetzt nicht. Vom Scheinwerferlicht fühlt Elija sich beschützt. Es legt sich um sie und die Gruppe. Als Kreis rollen sie sich zur Seite. Verlieren dabei kurz die Form, kommen wieder zusammen. Mio beginnt mit dem Aufstehen. Erst die Knie durchstrecken, den Oberkörper aufrichten. Dann stehen sie alle, Mio lässt den Kopf hängen, beendet so den Kontakt.
Die Gruppe atmet aus, sie lösen sich voneinander.
Elija schaut zu Kassandra, der Regisseurin. Sie lächelt, kommt zu ihnen in den Kreis. Eine kurze Trinkpause. Dann geht es weiter.
Zehn. Sechsundvierzig
Ein hohes Tor aus Holz. Dahinter beginnt ein Weg. Der Bach biegt ab, schlängelt sich weiter durch das Moor.
Die Schwestern treten von den Planken auf betonierten Boden. Ein leerer Parkplatz. An vielen Stellen ist der Beton aufgeplatzt. Die ersten Birken zwängen sich aus den Spalten. Am Rand des Parkplatzes stehen hohe Bäume. Noa hebt die Arme, streckt sie aus. Versucht, bis an die Wipfel zu kommen, lacht, als sie es nicht schafft.
In ihr ist es ganz ruhig. Sie versucht, sich an die Zeit vor dem Moor zu erinnern. Der Morgen, das Aufwachen. Alles scheint so lange her zu sein. Genau wie Loths Anruf vor einem halben Jahr. Die Frage, ob sie Lust hat auf eine Wanderung, und Noa murmelt: Das muss ich mir erst überlegen. Und nimmt sich zwei Monate Zeit zum Grübeln, bis sie Ja sagt, obwohl sie eigentlich Nein denkt. In Noa ist es still. Ihr Herz pocht gleichmäßig. Sie sieht sich um. Ist plötzlich froh, dass Elija da ist. Und auch Loth. Gerne würde sie sie umarmen. Aber das würde Loth zu sehr durcheinanderbringen.