Elijas Lied. Amanda Lasker-Berlin
Beobachtet Elija halb interessiert.
Im Moor, zwischen all den hellen, schmalen Stängeln, sieht Elijas Körper massiv aus. Ihre kurzen Beine, ihr gedrungener Oberkörper. Der Kopf fast ohne Hals. Das stumpfe Haar wird vom Wind angehoben, nach wenigen Sekunden wieder fallen gelassen. Ganz woanders, als es losgeflogen ist. Das Licht betont Elijas Umrisse, gibt ihr einen Schein.
Noa springt auf.
Ist sie da wirklich reingelaufen?, fragt sie Loth schrill.
Loth zuckt kühl die Achseln.
Noa ruft Elija zu: Komm sofort zurück!
Noa geht nah an den Rand der Planken. Elijas Fußspuren liegen noch tief im Schlamm. Noa versucht zu erkennen, ob das Moor Elijas Sohlen schon gepackt hat. Aber das Gras ist zu hoch.
Elija, ruft Noa. Sind deine Schuhe schon eingesunken?
Nur ein bisschen.
Dann komm jetzt wieder zurück, in Ordnung?
Nein, antwortet Elija fest. Ich will meinen Text üben.
Elija zieht sich hoch, steht aufrecht, drückt den Oberkörper zum Himmel. Das Moor hält ihre Füße. Elija streckt ihre Arme aus, schreit in die Wolken: Ich bin Hagar. Und ich stehe in der Wüste. Ich bin eine Sklavin. Das heißt, ich bin anders. Und ich habe einen Sohn. Ismael. Und das heißt: Gott hört.
Die Worte verlieren sich zwischen den Gräsern, zwischen den Stämmen. Kommen nicht bis in den Himmel, glaubt Elija. Schaut konzentriert hoch. Vielleicht sieht sie die Worte ja doch irgendwo im Morgenblau.
Elija sackt tiefer in das Moor. Ob die Knöchel schon voller Schlamm sind?
Noa macht den ersten Schritt auf die Wiese. Unter ihren Füßen fühlt sich das Gras fest an, legt sich zwischen Sohle und Moor. Sie weiß, dass das nicht lange halten wird.
Elija, ruft sie. Komm wieder her.
Aber Elija wirbelt ihre Arme durch die Luft. So wie sie es im Theater zum Aufwärmen macht. Sie kreist die Schultern, damit sie Flügel werden, sie beugt die Knie, knickt den Rumpf. Auf einer Bühne muss man kein Mensch sein. Da kann man das sein, was die Natur aus einem gemacht hat, findet sie. Elija lehnt ihren Rücken nach hinten. Ihre Haarspitzen berühren erst das Wollgras, dann den Schlamm. Noa wusste nicht, dass Elija so beweglich ist. Und Noa weiß nicht, wie sie Elija wieder auf die Planken bekommen soll.
Die Haarspitzen saugen sich voll. Aus dem schütteren Braun wird tiefes Schwarz.
Loth schließt die Augen, rollt sich auf der Bank ein, vielleicht wäre es Zeit, noch ein bisschen zu schlafen.
Wie zu Hause, wenn sie sich aus dem Zimmer schleicht. Die Kameraden alle bei der Arbeit. Oder in den Büros im Obergeschoss. Sie hat sich das Good-Night-Left-Side-Shirt hochgeknotet. Ihre Hüftknochen sind zu sehen, der Bauchnabel, der sich nach außen stülpt. In ihm hängt ein Piercing. Ein Halbmond, in dem in Messer steckt. Manchmal malt Loth mit roter Farbe Blutstropfen daneben. Leise schleicht sie in die Küche, nimmt sich noch einen Kaffee. Das Erdgeschoss ist verlassen, dunkel. Die Fensterläden von außen geschlossen, nur wenig Licht kämpft sich herein. In der Küche ist keine Spur von dem Frühstück zu sehen, das die Kameraden hatten. Nur neben dem Mülleimer wenige Krümel Brot. Loth holt den Handfeger und scharrt sie auf. Die Spülmaschine brummt, kratzt die Teereste aus den Tassen, die Butterränder von den Tellern. Loth lehnt sich dagegen. Sie mag, wie die Maschine vibriert. Der Raum ist groß, aber die Wände stehen viel zu nah aneinander. Loth hält sich nie lange in der Küche auf, auch nicht im Gemeinschaftszimmer. Die werden immer enger, je länger sie dort steht. Schwache Beleuchtung, und trotzdem wirft alles einen Schatten. Vielleicht von den Kerzen, den letzten echten Glühbirnen. Die Möbel sind spitzkantig, ständig stößt Loth sich. Manchmal taumelt sie mehr durch das Haus, als dass sie läuft. Sie weiß nicht, warum das so ist. Vielleicht, weil die Stadt, in der das Haus steht, so schief ist. Weil da etwas geebnet werden muss. Wenn Loth im Keller steht, hört sie, wie die Mäuse unter dem Zement wühlen. Gänge graben, damit das Haus zusammenstürzt. Loth sieht sich mit einem Sauregurkenglas in der Hand im Keller stehen, darunter eine wühlende Maus, und dann das Haus zusammenfallen. All die Etagen, das Erdgeschoss, die Büroräume, das schwere Dach stürzen auf sie, und sie kann sich keinen Zentimeter bewegen. Nicht mal so viel, dass sie sich den Tod greifen könnte. Sie sieht sich daliegen, Knochentrümmer, neben kaputten Möbeln und zersplitterten Steinen. Ihr Piercing löst sich aus dem Nabel und rutscht in die Erde. Es ist begraben. Sie nicht.
Loth wird schwindelig, sie streckt die Arme nach hinten, stützt sich auf der Spülmaschine ab. Die ruckelt, gibt keinen Halt.
Einsam?, Hanno lehnt im Türrahmen, schaut zu Loth. Sie zuckt zusammen.
Nein, sagt sie matt.
Ich bin aber einsam. Hanno kommt auf sie zu, lehnt sich an den Küchentisch.
Hast du nichts zu tun?, fragt Loth.
Hannos helle Augen mustern sie. Im hartgeschnittenen Gesicht leuchten sie hervor. An den Wangen wächst ihm ein kontrollierter Bart. Die Haare sind gescheitelt, gegelt. Werden sich den ganzen Tag kein bisschen bewegen. Erst wenn er unter der Dusche steht, können sie sich befreien, ausatmen und locker herunterhängen.
Doch, schon, sagt er kess. Der Aktionismus steht an erster Stelle, nicht wahr?
Loth sieht sich im Raum um, sucht etwas, womit sie ihn ablenken kann. Aber seine Augen bleiben starr auf ihrem Körper. Die angedeuteten Brüste, der flache Bauch, die Knochen, die an fast jeder Stelle hervorstehen. Das Piercing. Hanno will es in den Mund nehmen, erkennt Loth an seinen Augen. Sie stellt sich vor, wie er vor ihr niederkniet, ihre Oberschenkel berührt, den Nabel küsst und mit der Zunge über den Bauch fährt. Sie stellt sich vor, wie er sie anbetet und seine Augen sie bitten, ihn auszuhalten.
Hanno bleibt stehen.
Und wie sieht es mit deinem Aktionismus heute aus?, fragt sie.
Ach, ich habe gerade ganz private Ziele. Er beugt sich zu ihr vor.
Loth lehnt sich zurück. Drückt sich gegen die Spülmaschine.
Hanno hebt seine Hand und streicht eine ihrer Haarsträhnen zurück.
Loth, murmelt er verträumt. Schön, dass du eingezogen bist.
Sie lächelt, ihr Körper entspannt sich nicht. Sie mustert ihn. Der hellblaue Hemdkragen, der unter dem Pullover hervorlugt, die braune Stoffhose. Daran findet sie keine Information über ihn. Auch nicht in seinem Gesicht, nicht in der Art, wie er sie berührt.
Eine Weile hält Hanno inne. Seine Hand an ihrem Gesicht. Ihre kalten Wangenknochen und seine fleischigen Finger.
Dann weicht er zurück.
Der Aktionismus, du verstehst, sagt er flapsig, dreht sich weg, nimmt eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Er geht.
Und Loth atmet aus. Die Küche ist enger geworden, der Atem hat gerade noch genug Platz, um aus der Lunge zu kommen. Es wird heiß, schnell schnappt Loth nach der letzten Luft. Aber es ist nur verbrauchter Atem. Sie legt die Hand auf ihren Hals. Das hat sie gelernt, schon vor Jahren, und das soll sie beruhigen. Funktioniert nicht. Räume werden nicht davon größer, dass Hände auf Körperstellen liegen. Das ist doch klar. Loth macht die Augen zu. Die Spülmaschine fiept. Der Raum dreht sich. Loth hört, wie das saubere Geschirr nach ihr schreit, schrill und scheppernd. Das zieht durch den ganzen Kopf. Erschüttert das Gehirn.
Loth reißt die Augen wieder auf. Wütend öffnet sie die Maschine. Das Geschirr dampft noch. Ignorierend, dass es heiß ist, reißt sie Teller für Teller heraus, stellt sie in die Schränke. Als die Spülmaschine leer ist, flieht sie aus dem Zimmer. Sie braucht Luft.
Neun. Vierundzwanzig
Noa steht neben Elija. Mitten im Moor. Die Füße tief im Schlamm. Bis unter ihnen fester Grund kommt, sind es viele Meter. Eine Torfschicht über der anderen, und nichts, was Halt verspricht. Noa stellt sich vor, wie sie übereinanderliegen, die Brauntöne. Wie sie fest schlummern, durch nichts gestört werden. Außer durch sickerndes Wasser, bei der Schneeschmelze. Der Wind wischt