Tunnel über der Spree. Hans Christoph Buch
war der einzige mir bekannte DDR-Schriftsteller, der durch die Offenlegung seiner Stasi-Akte nicht beschmutzt, sondern reingewaschen wurde, weil er kein Spitzel gewesen war.
Schlesinger ist die einzige mir bekannte Person, die in einer Berliner Kneipe ein Eisbein in die Küche zurückgehen ließ mit der Begründung, es sei nicht fett genug.
Schlesinger war der einzige Revolutionstourist, der im von Contras verminten Dschungel von Nicaragua Kaffee und Kuchen verlangte – Gerichte, die es dort nicht mal in Friedenszeiten gibt.
Wie Heiner Müller rauchte Schlesinger bis zum letzten Atemzug – auf dem Nachttisch an seinem Sterbebett lag eine angebrochene Schachtel Roth-Händle.
Notiz zu Uwe Johnson
Um meine erste Begegnung mit Uwe Johnson zu schildern, muss ich mich zurückversetzen in den Spätherbst des Jahres 1963 – vielleicht war es auch Anfang 1964 – als Johnson im Literarischen Colloquium Berlin, damals noch in der Carmerstraße, nicht weit vom Savignyplatz, Prosaschreiben unterrichtete. Walter Höllerer hatte ein Dutzend angehende Autoren nach Westberlin eingeladen, um an einem von der Ford-Stiftung finanzierten Creative-Writing-Seminar teilzunehmen. Johnson gab nur ein kurzes Gastspiel. Der damals knapp dreißigjährige Autor der Mutmaßungen über Jakob und des Dritten Buchs über Achim war, ähnlich wie der scheue und wortkarge Peter Weiss, mit seinem eigenen Werk beschäftigt und litt sichtlich unter der ihm nicht gemäßen Rolle eines Präzeptors oder Vermittlers, die Günter Grass und Peter Rühmkorf mit Lust und Verve spielten. Der blonde Hüne mit der Nappalederjacke, von seinen Leipziger Kommilitonen Ossian genannt, schien sich körperlich unwohl zu fühlen unter den nur wenig jüngeren Autoren, die Ansporn und Ermutigung für ihre eigene Arbeit oder geistreiche Aperçus von ihm erwarteten. Er schwieg hartnäckig und hielt sich an seiner Pfeife fest, die wie die Schreibmaschine zum unverzichtbaren Accessoire eines Literaten gehörte. Meine Frage, ob ein zeitgenössischer Schriftsteller sich unbedingt für die Fahrpläne der Deutschen Reichsbahn, die Gangschaltung eines Rennrads oder das Frühwarnsystem der Nato interessieren müsse, statt sich wie Kafka oder Novalis von der Außenwelt zurückzuziehen in eine traumhafte Innenwelt, beantwortete Johnson kurz und bündig mit NEIN, ohne sein apodiktisches Urteil zu begründen. Dass er mit Einsprüchen gegen den Boykott der Berliner S-Bahn beschäftigt war, wusste ich damals nicht, und es hätte mich, auch wenn ich es gewusst hätte, nicht sonderlich interessiert.
Anfang der siebziger Jahre zog ich von Wilmersdorf nach Berlin-Friedenau, wo ich mit Nicolas Born im selben Haus wohnte, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Uwe Johnson und zeitweise auch Max Frisch. Wir trafen Johnson gelegentlich im Bundeseck, einer für ihre Hässlichkeit berühmten Eckkneipe, wo sich nach Lesungen im nahgelegenen Buchhändlerkeller eine Gruppe von Literaten versammelte, zu der neben Grass auch dessen Lektor Klaus Röhler gehörte. Johnson und Röhler soffen sich gegenseitig unter den Tisch und, im Gegensatz zum proletarischen Zeitgeist der siebziger Jahre, siezten sie einander dabei. Mittwochs war Markt in Friedenau, und Uwe Johnson war schon vormittags in einer Spelunke neben dem Rathaus anzutreffen, an deren Theke er den über Nacht abgesunkenen Alkoholpegel auffüllte; abends frequentierte er eine Kneipe in der Rheinstraße, deren Wirt keine Ahnung hatte, dass sein wortkarger Stammgast ein weltberühmter Schriftsteller war. Zusammen mit Nicolas Born besuchte ich Johnson in dessen Wohnung – Atelier ist ein besserer Ausdruck dafür – in der Stierstraße. An der Wand hing ein Stadtplan von Großberlin, und überall waren Messtischblätter ausgebreitet, wie Generalstabskarten mit farbigen Punkten und Strichen markiert. Johnson und Grass hatten sich über irgendetwas zerstritten; jahrelang herrschte Funkstille zwischen beiden, bis Günter Grass den früheren Freund überredete, ihn zu einer privaten Lesung nach Ostberlin zu begleiten. Das konspirative Treffen fand in der Wohnung von Krista und Hans Joachim Schädlich in Köpenick statt; außer Nicolas Born und mir waren Günter Kunert, Rainer und Sarah Kirsch sowie Bernd Jentzsch anwesend.
Uwe Johnson schwieg zumeist, aber er war gefürchtet für ins Schwarze treffende Bemerkungen, mit denen er nicht nur ein literarisches Werk, sondern auch dessen Verfasser demontierte, etwa wenn er einen Text als Nachruf charakterisierte und sich darüber mokierte, dass der Autor noch am Leben sei. Als Sarah Kirsch wissen wollte, warum ihre Anwesenheit beim sogenannten Friedensdialog in der Westberliner Akademie der Künste unerwünscht war, antwortete Johnson sarkastisch, nicht jedermann sei zum Five o’clock tea bei der Königin von England eingeladen. Zum letzten Mal sah ich ihn ein Jahr vor seinem Tod bei dem erwähnten Schriftstellertreffen, wo Johnson souverän, aber mit pedantischer Akribie die Diskussion leitete und das Bekenntnis des DDR-Autors Erik Neutsch, er stimme voll und ganz mit der Politik seiner Partei und Regierung überein, lakonisch kommentierte mit dem Satz: »Das ist bekannt.«
Bei der von Helen Wolff geleiteten Trauerfeier für Uwe Johnson im New Yorker Goethe-Institut saß der Bankier Abs in der ersten Reihe, und erst nachträglich wurde mir klar, dass eine gleichnamige Romanfigur in den Mutmaßungen über Jakob eine zentrale Rolle spielt.
Alles in allem habe ich Uwe Johnson, trotz wiederholter Begegnungen, nur flüchtig gekannt. Seine Person ist mir fremder geblieben als sein Werk, das mit unverstellter Stimme spricht und die Barrieren überwindet, hinter denen dieser spröde und verletzliche Mensch sich zu seinen Lebzeiten verschanzt hat.
II. EIN ZEITALTER WIRD BESICHTIGT
Der Nussknacker
Hommage an Günter Grass
1
Welch ein großmächtiger Kiefer! Und dieses Gehege von Zähnen!
Zwischen die Backen herein nimmt er, was alles zur Hand,
und zerkracht es und weist schon die faul’ oder trockenen Kerne,
leere Schalen, den Wurm – flieht, hört ihr knirschen den Grass!
Diese satirischen Verse dichtete Johannes Bobrowski, nachdem er bei der Gruppe 47 Günter Grass begegnet war. Der Vierzeiler ist mehr als ein Literatenulk: Er charakterisiert in zweifacher Hinsicht den Autor der Blechtrommel und späteren Nobelpreisträger und bringt dessen Kampfeslust auf den Punkt, die Grass’ echte und eingebildete Gegner zu spüren bekamen. Darüber hinaus benennt er ein physiognomisches Detail, die Progenie, zu Deutsch Unterbiss, die Grass mit seinem Schnauzbart kaschierte: laut Wikipedia ein Erkennungsmerkmal von Genies und Wahnsinnigen, Pornodarstellern und Polizisten, Zauberkünstlern und Diktatoren – doch das nur in Klammern. Beides, der Unterbiss und das aggressive Temperament, sind zwei Seiten derselben Sache, und der Schnauzbart wurde ebenso zum Markenzeichen von Günter Grass wie die Blechtrommel, mit der sein zwergwüchsiger Protagonist sich Aufmerksamkeit verschafft. Dass Oskar Matzerath – schon der Name ist Programm – mit schrillem Diskant Gläser zersingt, passte zur Selbstvermarktung des Autors als kaschubischer Rowdy und Provokateur, der nicht nur den Literaturbetrieb, sondern auch die deutsche Politik aufmischte. Schnauzbart, Cordjacke und selbstgedrehte Zigaretten gehörten zum Image des Nonkonformisten wie auch gezielte Verstöße gegen Religion, Moral und guten Geschmack im Text seines Romans. Doch der gegen die Blechtrommel erhobene Vorwurf der Blasphemie und Pornographie, der zur Aberkennung des Bremer Literaturpreises führte, ist aus heutiger Sicht nicht nachzuvollziehen. Günter Grass galt als Schmuddelkind, das mit Behagen im Dreck herumstocherte und dem Ekel kulinarische Effekte abgewann wie in der Schilderung eines von Aalen wimmelnden Pferdekopfs, und er war Welten entfernt von der Tristesse der frühen Nachkriegsliteratur. Das änderte sich erst, als er sich der politischen Vernunft verschrieb und für Willy Brandt in den Wahlkampf zog. Während Grass die Werbetrommel rührte für die ESPEDE, wurde er vom Studentenprotest links überholt, und die Kulturrevolution von 1968 – Drogen, Sex und Rock ’n’ Roll – ließ seine Provokationen harmlos erscheinen. Im Konflikt mit der jüngeren Generation sah er alt aus, und seine Aussage, den Vietnamkrieg könne er nicht beurteilen, weil er kein Vietnamesisch spreche, war ebenso peinlich wie die Schweinskopfsülze, die er dem Beat-Poeten, Juden und Vegetarier Allen Ginsberg auftischte.
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Es war schwer, fast sogar unmöglich, mit Günter Grass befreundet zu sein, weil er sich mit subalternen