Tunnel über der Spree. Hans Christoph Buch

Tunnel über der Spree - Hans Christoph Buch


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Gefolgschaft verlangte: Wie im Fähnlein der sieben Aufrechten gab Grass die Richtung vor, und der Rest der Truppe folgte nach, als habe der Dienst in der Wehrmacht sein Verständnis von Befehl und Gehorsam geprägt – die mit siebzehn erfolgte Einziehung zur Waffen-SS war damals noch nicht bekannt. Alle großen Schriftsteller, mit denen Grass befreundet war, stieß er früher oder später vor den Kopf, von Max Frisch bis zu Heinrich Böll, und die beredte Klage, sein Freund Uwe Johnson fehle ihm, hatte einen schalen Beigeschmack, denn beide wohnten in Berlin-Friedenau fast Tür an Tür, wechselten jahrelang aber kein Wort. Hinzu kommt, dass er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit Kollegen ungebetene Ratschläge gab: »Wer schreibt den großen Roman über den blauen Himmel über der Ruhr?«, sagte Grass im Literarischen Colloquium mit Blick auf Nicolas Born, der aus Essen kam und stotternd darlegte, dass er andere Prioritäten habe – »blauer Himmel über der Ruhr« war ein Wahlkampfslogan der SPD. »Und wer schreibt den großen Roman über das Umkippen des Bodensees?« Bei diesen Worten fixierte er mich, der ich in Bonn und Marseille aufgewachsen war und die Bodensee-Region nur vom Hörensagen kannte. Ich verwies stotternd auf den am Bodensee wohnhaften Martin Walser, doch den hatte er schon vergeblich gefragt. Das war im Winter 1963/64 in Westberlin. Kurz zuvor war ich Grass in Saulgau erstmals begegnet, wo er mich in Schutz nahm gegen die vernichtende Kritik der Koryphäen Marcel Reich-Ranicki und Walter Jens.

      3

      Günter Grass ist tot – er starb am 13. April, meinem Geburtstag, und erst jetzt kann ich ermessen, was er für mich und meine Generation bedeutet hat. Grass war eine Vaterfigur, die ein halbes Jahrhundert lang der deutschen Literatur ihren Stempel aufgedrückt und die Wahrnehmung der Bundesrepublik im In- und Ausland geprägt hat. Der Schatten, den dieser Übervater warf, war übergroß, und vielleicht erklärt das, warum ich mich seinem Einfluss entzog und nicht in seine Fußstapfen trat, obwohl er trotzdem bestimmend blieb. Dabei denke ich an seine moralisch-politische Haltung, nicht an den barock verschnörkelten Stil und die mäandernde Erzählweise, die kaum Nachahmer fanden, während seine mit Selbstherrlichkeit gepaarte Rechthaberei eher zum Widerspruch reizte als zur Zustimmung. Doch selbst dort, wo er sich vergaloppierte mit Vorurteilen gegen abstrakte Kunst und postmoderne Literatur, Computer und Handys oder gegen Angela Merkel, die er »Petzliese« nannte, waren seine Irrtümer getragen von bürgerschaftlichem Engagement, das nicht aus dem Kopf, sondern aus dem Bauch, nein: von Herzen kam und deshalb Respekt verdient.

      Auf dem Campus der Freien Universität wurde Grass ausgebuht, als er im Juni 1967, nach den Schüssen auf Benno Ohnesorg, für das Existenzrecht Israels plädierte, das er kurz vor dem Sechstagekrieg besucht hatte. Das Pfeifkonzert der Studenten gellt mir noch jetzt in den Ohren. Aber das war harmlos verglichen mit der Entrüstung, die ihm entgegenschlug, als er vor Israels Atombombe warnte in einem Gedicht, das eher einem Leitartikel ähnelte. Wie im Gleichnis vom Schmetterlingsflügel, der einen Orkan verursacht, lösten die prosaisch klingenden Verse eine Medienkampagne aus. Doch die vermeintliche Gleichsetzung Israels mit dem Iran rechtfertigt es nicht, Grass als Antisemiten an den Pranger zu stellen, und es spricht für Martin Walser, dass er sich bei einer Diskussion im Springer-Verlag weigerte, den Freund und Kollegen in Grund und Boden zu verdammen.

      All das wiederum war ein Sturm im Wasserglas verglichen mit der geballten Empörung, die Grass traf, als er in seiner Autobiographie Vom Häuten der Zwiebel seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS gestand – im Gespräch mit Klaus Wagenbach soll er dies schon früher angedeutet haben. Doch selbst wenn Grass ein von der NS-Ideologie verführter Kindersoldat war, drängt sich der Verdacht auf, dass er die Wahrheit für sich behielt, weil sie seiner Anwartschaft auf den Nobelpreis geschadet hätte – ein taktisches Kalkül, das den moralischen Anspruch des Autors konterkariert.

      Unabhängig davon ist zu unterscheiden zwischen Grass als öffentlicher Person, die wie ein heidnischer Donnergott Blitze schleuderte, verletzend grob und übellaunig sein konnte, und der Privatperson, die höflich, zuvorkommend und aufmerksam, ja liebenswert war, ein perfekter Gastgeber und begnadeter Koch. Dazu gehört, dass er notleidenden Kollegen schnell und unbürokratisch half mit privaten Darlehen, Stipendien und von ihm gestifteten Literaturpreisen, ohne sich seiner guten Taten zu rühmen.

      Literarisch war Günter Grass kein Vorbild für mich, obwohl er mir näherstand als etwa Heinrich Böll, der mir eher wie ein weiser Großvater erschien. Was mich als angehenden Autor faszinierte, war das Frühwerk von Peter Weiss, vom Schatten des Körpers des Kutschers bis zu seinem Drama Marat/Sade, das Grass mit Die Plebejer proben den Aufstand vergeblich zu toppen versuchte. Der Autor der Blechtrommel war selbst ein Plebejer, kein klassenbewusster Proletarier, sondern ein Kleinbürger, der den Kolonialwarenladen nicht verleugnete, für den er Schulden eingetrieben hatte, und zugleich ein genialer Vermarkter des eigenen Ruhms. »Dein Name muss jede Woche in der Zeitung stehen – egal womit«, sagte er in der Paris Bar bei einem Steak Minute, zu dem er mich einlud, nachdem ich ihm klargemacht hatte, dass und wie ich die Blechtrommel zu überbieten gedachte.

      Unter der Ägide von Günter Grass schrieb ich im Sommer 1965 Wahlreden und Slogans für Willy Brandt – zusammen mit Nicolas Born, Hubert Fichte und anderen Autoren, aber 1968 trennten sich unsere Wege: Grass plädierte für Reformen, während ich, Hans Magnus Enzensberger folgend, für die Weltrevolution optierte, die unter dem Motto Schreibmaschinen für Vietnam im Berliner Bundeseck tagte – ein Massenwahn, der selbst kluge Köpfe ergriff. In seinem Tagebuch einer Schnecke hat Grass Nicolas Born und mich mit Hohn und Spott karikiert.

      Die Verstimmung währte nicht lange, denn bald darauf sahen wir uns wieder bei privaten Lesungen in Ostberlin, die Staat und Partei in Verwirrung stürzten, weil sie weder erlaubt noch verboten waren. Unsere Gespräche wurden abgehört, doch die Stasi wurde nicht schlau daraus, weil sie von Literatur handelten – Politik blieb außen vor. Doch das Versprechen des SED-Vorsitzenden, in Kunst und Literatur gäbe es fortan keine Tabus, schien ein Versprecher zu sein, denn der Honeymoon von Geist und Macht endete mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns, die einen Exodus der DDR-Literatur nach sich zog – unsere Gesprächspartner fanden sich nolens volens im Westen wieder.

      Bei privaten Treffen in Ostberlin las Grass aus Der Butt und Das Treffen in Telgte, zwei Texte, die mir bis heute gut gefallen, während ich mit der Rättin und dem Wende-Roman Ein weites Feld nichts anfangen konnte – letzterer schien mir gründlich missraten. Mit der Novelle Im Krebsgang über den Untergang der Wilhelm Gustloff fand Grass zu alter Form zurück, und sein Roman über Grimms Wörterbuch harrt einer Wiederentdeckung.

      Nach seiner Übersiedlung von Berlin nach Lübeck sahen wir uns nur noch sporadisch: Bei sogenannten »Friedensgesprächen« mit DDR-Autoren, die ihre Treue zur SED bekundeten. Oder bei einer Diskussion mit Wolfgang Thierse in der Akademie der Künste, wo ich, aus dem Grenzgebiet Pakistan-Afghanistan zurückgekehrt, von Grass zurechtgewiesen wurde, weil er keinen Widerspruch vertrug. Sowie, last but not least, in seinem Landhaus an der Algarve, wo er sich mit einem gebratenen Butt dafür revanchierte, dass ich Jahre zuvor in New Yorks Chinatown die Zeche bezahlt hatte, weil Grass wie immer kein Geld bei sich hatte. Das Knacken, mit dem er die Schwanzflosse des Butts zwischen den Kiefern zermalmte, nahm das Geräusch vorweg, das aus seinem Grab dringt, wenn er, wie in seinem letzten Willen angedroht, unter der Erde Nüsse knackt.

      Nachmittag eines Fauns

       Zu Gast bei Martin Walser

      Er sieht aus wie Bismarck, nur ohne dessen eisgrauen Schnurrbart, und seine sonst volltönende Stimme klingt brüchig und heiser, obwohl Bismarcks Stimme – das geht aus einem kürzlich entdeckten Tondokument hervor – flach und blechern klang. Seine buschigen Augenbrauen erinnern an Breschnew, aber hier hören die Vergleiche auch schon auf. Die Rede ist von Martin Walser, dem ich auf der Terrasse seines Hauses in Nussdorf gegenübersitze, und statt den Ausblick auf den vom Wind bewegten Bodensee zu genießen, muss ich erzählen, was mich hierher verschlagen hat.

      Es war im Sommer 2012, und ich hatte mich selbst eingeladen, um Martin Walser Dank abzustatten für die Herausgabe von Vorzeichen zwei, einer Anthologie junger, damals noch unbekannter Autoren, die meine ersten, unverlangt eingesandten Texte enthielt. Das ist über ein halbes Jahrhundert her, und es wäre nicht der Rede wert, hätte


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