Frühe Aphasiebehandlung. Jürgen Steiner
antwortfähig,
• gesprächsimpulsfähig und
• gesprächsgestaltungsfähig zu sein.
Die sechs Stufen können auch mit der Dreiteilung emotionale, kontaktive und informative Kompetenz für Gespräche zusammengefasst werden (vgl. Steiner 2010).
Eine weitere Vereinfachung des Konstruktes Dialogkompetenz ist die Reduzierung des Gesprächsablaufs auf Rhythmus (Tempo), Klima und Information (vgl. Steiner 2010). Gespräche unter erschwerten Bedingungen gelingen, wenn
• der Rhythmus träge ist durch Reduzierung des Tempos,
• emotionale Stressoren erkannt und vermieden werden und die Ebenbürtigkeit aufrechterhalten wird und
• die Ansprüche an Korrektheit sowie an Eindeutigkeit und Relevanz der Information gemindert werden.
In der Regel wird die Therapeutin mehr Energie auf Gesprächs-Förderer, also Strategien, die Verständigung unterstützen, legen als auf Gesprächs-Hemmnisse. Dies ist bereits bei der Beschreibung der Symptomatik wichtig.
Mit Strategien im Gespräch ist gemeint, bewusst zu kommunizieren, ohne die Authentizität zu verlieren. Beispiele in Form von Merksätzen können sein:
• Kommunikation mit allen Mitteln ist erlaubt.
• Das Verstehen will über Signale oder über Worte gesichert werden.
• Wir achten aufeinander – träge Turns sind erwünscht.
• Die Aufrechterhaltung der Ebenbürtigkeit ist wichtiger als Information.
• Missverständnisse brauchen Geduld oder werden vertagt.
Gelingende Gespräche sind mit Aphasie möglich, so wie misslingende Gespräche auch ohne Aphasie möglich sind. Der Wille zur Kooperation, ein ausgewogener Sprecher-Hörer-Anteil, das Bearbeiten von Missverständnissen, Verantwortung für das Thema oder für Themenwechsel oder Achtsamkeit der begleitenden Emotionen in Gesprächen sind Punkte, die hilfreich sind im Umgang miteinander. Wenn unter erschwerten kommunikativen Bedingungen strategisches und authentisches Verhalten zusammenkommen, hat Verständigung mehr Chancen zu gelingen.
Aufgrund der enormen Vielfalt der Symptome in den drei sich überschneidenden Dimensionen Basisfunktionen, Sprachabruf und Dialog schlagen wir im folgenden Kapitel Diagnostik ein Verfahren vor, das je nach Institution, nach Phase im Rahmen der Akutrehabilitation und je nach individuellem Einzelfall optionale Bausteine für die Indikationsklärung und für weitere therapeutische Entscheidungen bereithält.
3.5 Mehrsprachigkeit
Migration ist ein reguläres gesellschaftliches Phänomen. Die Flüchtlingsdebatte hat einen prominenten Stellenwert in der Diskussion, wie sich die Gesellschaft verändert. Globalisierung und Digitalisierung führen zu einer Vereinheitlichung und zu einem Näherrücken der Länder. Kultur ist zu einem großen Teil Sprachkultur. Multikulturalität bedeutet ein multilinguales Zusammenleben.
Für alle Arbeitsbereiche der Logopädie, also auch für die frühe Aphasiebehandlung, ist es gut, die verschiedenen Sprachen zu ordnen:
• Die Muttersprache (L1) spricht der Sprachnutzer ohne jede Übersetzungsleistung.
• Die Bildungssprache (L2 = Schriftdeutsch) ist vorgeschrieben in der Schule und in Teilbereichen des öffentlichen Lebens und ist teils nicht wählbar.
• Die Umgebungssprache (L3 = z. B. Schweizerdeutsch, teils = L1) ist die erwartbare Sprache der Umwelt.
• Der Begriff Familiensprachen ordnet, wer mit wem in welcher Sprache im häuslichen Milieu spricht,
• Die Landessprachen sind behördlich definiert.
• Eine Fremdsprache ist eine Verkehrssprache zur Verständigung, die in der Schule oder später gelernt wird.
Auch eine Vielzahl von Menschen ohne Migrationshintergrund ist damit mindestens zweisprachig.
Wenn der Grad der Vertrautheit mit der Sprache, die Bedeutung für die Alltagskommunikation und die emotionale Verbundenheit mit der Sprache hoch ist, sollten wir von Primärsprache sprechen. Das kann eine Sprache sein oder es sind mehrere; das kann die Muttersprache sein, aber nicht zwingend. Zwingend ist aber auf jeden Fall, sich im familiären, im partnerschaftlichen, im beruflichen und im öffentlichen Alltag zurechtzufinden. Von daher haben auch mehrere Sekundärsprachen eventuell eine hohe Bedeutung für den Betroffenen und die Mitbetroffenen nach einer Aphasie.
In der Geschichte der Aphasiologie ist immer wieder gefragt worden, wie mehrere Sprachen im Gehirn gespeichert sind (vgl. Eibl 2019a), um daraus abzuleiten, inwiefern der Verlust von sprachlichen Leistungen einer Gesetzmäßigkeit folge. Hierzu gibt es noch heute zwei Thesen, die beide ihre Berechtigung haben:
• Die früh gelernte Sprache bleibt teils eher erhalten.
• Die vertraute, emotional bedeutsame, im Alltag benutzte Sprache bleibt teils eher erhalten.
Die Generalisierung, dass die Muttersprache zwingend die emotional bedeutsamste, die umgebungsrelevanteste, gebrauchshäufigste und die resistentere Sprache bei Menschen mit bi- oder multilingualem Hintergrund sei, ist in jedem Falle nicht haltbar. Möglicherweise gibt es ein übergreifendes Sprachwissen als Basis bzw. Verbindungsklammer für alle erlernten Sprachen (common underlying competence). Dieses Sprachwissen steht der Performanz in allen Sprachen zur Verfügung. Es fungiert als gemeinsame metasprachliche Wissensbasis, die die Primär- und Sekundärsprache(n) unterstützt.
Erwartbar sind bezüglich des Sprachabrufs, der in der klassischen linguistisch orientierten Aphasietherapie im Zentrum der Bemühungen steht, Fehlleistungen, die sich durch Sprachvermischung erklären lassen (interlinguale Störprozesse). Zu dieser Vermischung kann es auf phonologischer, semantisch-lexikalischer und morphosyntaktischer Ebene kommen, und es zeigen sich Auslassungen, Ersetzungen, Umstellungen und Hinzufügungen verschiedener linguistischer Einheiten aus zwei oder eben aus mehreren Sprachen.
Nach Paradis (2004) ist davon auszugehen, dass wir im Kontext einer Bilingualität eine parallele Rückbildung (beide Sprachen erholen sich) in drei Viertel der Fälle erwarten dürfen. Bei den anderen Patienten erfolgt die Rückbildung für beide Sprachen unterschiedlich (differentielle Rückbildung). In wenigen Fällen erholt sich nur eine Sprache und die andere Sprache stagniert in der Rückbildung oder die Kompetenz verschlechtert sich, aber eben nur für diese eine Sprache.
Im Rahmen der akuten Aphasien ist davon auszugehen, dass sehr viele Patienten mehrere Sprachen sprechen, dass im deutschsprachigen Raum etwa jeder achte Fall (für Deutschland und Österreich) bzw. jeder vierte Fall (für die Schweiz) von Aphasie Menschen betrifft, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, und dass eine Reihe von diesen Patienten nur bedingt sicher im