Frühe Aphasiebehandlung. Jürgen Steiner

Frühe Aphasiebehandlung - Jürgen Steiner


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nicht wahrnehmen, ist es sinnvoll, sie dabei zu beobachten, wie schriftliche Einverständniserklärungen, die für medizinische Interventionen zwingend sind, gelesen und verstanden werden. Die Einverständniserklärung wird indirekt zu einer Beobachtung des Textverständnisses als Indikator einer möglichen Restaphasie.

      image Remission image

      Der deutlichste Unterschied zwischen chronischen und akuten Patienten dürften die schnellen Veränderungen der Symptomatik sein. Meist kommt es in den ersten Tagen zu deutlichen Besserungen (vgl. Biniek 1997 sowie Nobis-Bosch et al. 2013). Je kürzer eine Aphasie besteht, desto größer sind die Remissionen. Dies ist auch für die Prognose wichtig. Gerade in den ersten drei Tagen können sich auch schwere Aphasien binnen weniger Stunden komplett zurückbilden. Biniek (1997) stellte dementsprechend fest, dass der Schweregrad am vierten Tag post Onset zu den wichtigsten prognostischen Faktoren gehört: Besteht am vierten Tag noch eine schwere Aphasie, ist eine vollständige Rückbildung sehr unwahrscheinlich.

      image Fluktuation der Symptome image

      Die Verlässlichkeit der Diagnostik ist in der sehr frühen Akutphase (Tag 0–4) sehr gering, nimmt dann zu und ist zum fortgeschrittenen Zeitpunkt der späten Akutphase (Tag 15–Woche 4 bzw. 6) deutlich sicherer. Zielsetzungen auf Aktivitäts- bzw. Partizipationsebene sowie im Hinblick auf ein systematisches Vorgehen in der Therapie sind hier möglich. Es ist unvermeidbar, sich in der sehr frühen Akutphase auf eine grobe Diagnostik zu beschränken und die Ansprüche an die Fachlichkeit zu reduzieren. Der übliche Lehrsatz, dass eine Therapie nur auf der Grundlage einer ausführlichen Diagnostik zu planen sei, muss für den Kontext akute Aphasien relativiert und für die Tage 0–4 nach dem Ereignis außer Kraft gesetzt werden. Lediglich die Frage der Indikation sollte für leichte Aphasien seriös angegangen werden. Die ersten Tage sind demnach durch eine Fokussierung therapeutischer Intervention gekennzeichnet, die auf Eindrücken, Einschätzungen und informellen Schnellprüfungen beruht. Entsprechend stellen wir im Kapitel Diagnostik ein Assessment der diagnostischen Optionen im Rahmen der Akut-Aphasie vor, das mit geringem Zeitaufwand zu einem Bild der Situation kommt.

      image Relativierung der Zahlen zur Prognose image

      Genaue Zahlen über Rückbildungsprognosen sind nicht eindeutig anzugeben, da einerseits die relevanten Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und andererseits akute Aphasien erstmals beim Eintritt in die Klinik und nicht auf dem Weg dorthin standardisiert erfasst werden. Aufgrund der Zeitspanne, die zwischen dem Ereignis und der Erstdiagnose liegt, können wir davon ausgehen, dass einige Patienten mit späterem Status »keine Aphasie« zunächst kurzfristig sehr wohl aphasisch sind, dann aber eine beschleunigte vollständige Restitution erfahren. Studien zur Rückbildung akuter Aphasien beginnen erst ab der Eingangsdiagnostik. Von daher ist von einer positiven Dunkelziffer auszugehen.

      image Prävalenz, Inzidenz und Alter image

      Die Prävalenz, also die Zahl der aktuell Betroffenen, beträgt, bezogen auf Deutschland, ca. 100.000 Menschen. Die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen (Inzidenz) liegt bei ca. 50.000 Menschen. Die Aphasie nimmt aber nur den zweiten Rang logopädisch relevanter neurologischer Erkrankungen der Altersgruppe unter 65 ein: Eine Dysarthrie ereignet sich fast viermal so häufig. Eibl (2019a, 281) beziffert die Inzidenz auf 380.000 Fälle jährlich. Je älter der Patient ist, desto häufiger kommt eine Demenz ins Spiel. Da 50 % der Aphasiepatienten über 70 Jahre alt sind und sich die Prävalenz der Demenz in Fünfjahresschritten ab dem 65. Lebensjahr verdoppelt, ereignet sich ein Apoplex teilweise im Rahmen einer bereits bestehenden Demenz oder ein Apoplex beschleunigt eventuell als aktuelles vaskuläres Ereignis ein bisher diskret oder eventuell unerkannt gebliebenes Cognitive Mild Impairment zu einer Demenz. Rechnet man die 15 % Jungdiagnostizierten mit Demenz für die Inzidenz ein (300.000 diagnostizierte Fälle pro Jahr), so ergibt sich eine Zahl der jährlichen Neuerkrankungen, die sechsfach höher ist als die der Aphasie.

      Schluckstörungen werden in ihrer Häufigkeit tendenziell wie die Häufigkeit der Dysarthrien unterschätzt. In Deutschland liegt die Häufigkeit von Schluckstörungen bei der Gruppe der über 55-Jährigen bei über 20 %. Diese Zahl bezieht sich aber auf die gesamte Altersspanne und auf alle, auch nicht-neurogene, Verursachungen. Bei etwa jedem zweiten Schlaganfall-Patienten treten vorübergehende oder bleibende Dysphagien auf. In der akuten Situation sind über zwei Drittel der Schlaganfallpatienten betroffen. Meier-Lenschow (2014) spricht von 65–90 % der Apoplex-Patienten. Geht man von ca. 270.000 Schlaganfällen und 100.000 Aphasien jährlich aus, ist die Dysphagie eineinhalb bis zweifach häufiger.

      image Komplette Rückbildungen und Outcome image

      Die Beantwortung der Frage, wann eine Aphasie im frühen Verlauf der Rehabilitation nicht mehr besteht, hängt davon ab, wie bzw. wie differenziert der Status keine Aphasie festgestellt wird. Es gibt eine Differenz zwischen einer oberflächlich betrachtet unauffällig wirkenden Spontansprache, dem Ergebnis in einem Sprachabruf-Test, der von realen Kommunikationssituationen abstrahiert, und der subjektiven Wahrnehmung des Patienten. Sprachfähigkeit bezieht sich auf Sprachabruf, Dialogfähigkeit, den Umgang mit Schriftsprache und die Nutzung digitaler Medien zur Kommunikation. Nur wenn der Patient in allen Bereichen in der Beobachtung, in der Testung und in der Selbstbeurteilung unauffällig ist, kann der Status »keine Aphasie« zugeschrieben werden. Umgekehrt heißt das: Im Zweifel ist die Zuschreibung Aphasie oder Restaphasie auch dann gerechtfertigt, wenn der Patient subjektiv über Sprachprobleme klagt.

      Auch die Zahlen, wie sehr sich im Verlauf einer zunächst eindeutig festgestellten Aphasie sich diese deutlich bessert, sollten mit einer gewissen Vorsicht behandelt werden. Die Grundlage der Outcome-Studien ist jeweils eine unterschiedliche Diagnostik, die zu nicht direkt vergleichbaren Studienergebnissen führt. Bei Maas et al. (2010) zeigte sich zum Beispiel ein sehr hoher positiver Outcome mit 74 % Rückbildung, wobei hier der erste Untersuchungszeitpunkt innerhalb von zwölf Stunden nach Ereignis lag. Aus heutiger Sicht können wir insgesamt von einer oft gut verlaufenden Remission ausgehen, da immer bessere, zeitnah eingesetzte medizinisch-therapeutische Interventionen flächendeckend in zertifizierten Stroke Units zum Einsatz kommen. Gemeint sind damit systemische intravenöse Thrombolysetherapie, mechanische Thrombektomie sowie beide Verfahren in Kombination, was als Standardtherapie bei großen Hirngefäßverschlüssen beim akuten ischämischen Schlaganfall, gemäß Leitlinien 2016, empfohlen wird (vgl. Simon & Kriegel 2019, 30 f.). Eibl (2019a, 176) schätzt die Zahl der Rückbildungen auf ca. 50.000 Menschen innerhalb des ersten Jahres nach Ereignis; das wäre die Hälfte der jährlichen Neuerkrankungen.

      3.2 Beeinträchtigte Basisfunktionen als Teilsymptomatik bei akuten Aphasien

      Mit Basisfunktionen meinen wir die mit der Sprachfähigkeit korrespondierenden kognitiv amnestischen Hirnfunktionen. Beeinträchtigte Basisfunktionen sind ein Teil der vielfältigen Begleitstörungen, auf die zunächst kurz eingegangen werden soll.

      image vielfältige Begleitstörungen image

      Die vielfältigen Begleitstörungen lassen sich am besten ordnen durch Zuweisung zu den entsprechenden hauptsächlich zuständigen Professionen. Zu nennen sind neurogen mitverursachte

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