Frühe Aphasiebehandlung. Jürgen Steiner

Frühe Aphasiebehandlung - Jürgen Steiner


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In nationalen und internationalen Leitlinien zur Aphasie-Therapie wird zumeist festgehalten: In der akuten Phase ist bei gegebener kognitiver und emotionaler Verfassung des Betroffenen eine intensive logopädische Intervention in einer dem Schweregrad der Aphasie angemessenen Anzahl an therapeutischen Sitzungen so früh wie möglich indiziert; in der postakuten Phase bis ungefähr einem Jahr nach dem Akutereignis richtet sich die Frequenz nach dem jeweiligen individuellen Verlauf des Betroffenen; auch in der folgenden chronischen Phase werden mit periodisch angewandter, zeitlich begrenzter intensiver Aphasie-Therapie von mehreren Wochen noch signifikante Verbesserungen erzielt, sofern eine Lernfähigkeit und Motivation beim Betroffenen gegeben ist. Die klinische Erfahrung der letzten Jahrzehnte lehrt uns, dass Aphasie-Therapie unter gegeben kognitiven Ressourcen und optimalen psychosozialen Verhältnissen des Betroffenen keinen Endpunkt kennt. Wert ist es, bei nachgewiesenen laufenden Fortschritten und konkreten, realistischen therapeutischen Zielsetzungen periodisch weitere zeitlich begrenzte intensive Therapiephasen zu indizieren, um die Kommunikation zu optimieren und somit die weitere aktive Teilnahme am sozialen Leben unter Einbezug der sozialen Umgebung zu forcieren.

      Auch wenn das Setting im stationären Bereich weitgehend zufriedenstellend hinsichtlich Intensität und Dauer ist, so ist die Frequenz der Aphasie-Therapie im ambulanten Bereich vielfach unzureichend. Nach der Aphasie-Behandlung im stationären Bereich mit einem intensiven therapeutischen Setting suchen viele Betroffene eine einfache Heimtherapie, um die wiedergewonnen sprachlichen Funktionen weiter auszubauen. Nachgewiesen ist, dass die Kombination von einem sinnvollen Funktions- und Strategietraining mit psychosozialer Unterstützung durch Angehörige den Transfer des Therapieerfolgs in den Alltag optimieren kann.

      Schnell zu etablieren als zusätzliches Aphasie-Heimtherapie wäre neben der logopädischen Aphasie-Therapie zuhause die bereits in Institutionen additiv angewandte nicht invasive interventionelle Therapie der transkraniellen Gleichstromtherapie – ähnlich der funktionellen elektrischen Stimulation in der motorischen Rehabilitation.

      Auch sollten bestehende logopädische Therapieprogramme wie multisensorische Lern-Tools, etabliert zum selbständigen Wieder-Erlernen von Sprache – am Computer oder am Tablet – spielerischer gestaltet werden und mit Belohnungsprozessen versehen werden, welche die Motivation des selbständigen Lernens der Betroffenen forcieren.

      Erste Ansätze zeigen, dass Apps im Zuge der Aphasie-Therapie eine beratende und unterstützende Funktion haben können. Noch wenig verbreitet sind Aphasie-Apps mit einer Vielzahl an Aufgaben wie Übungen zum Sprachverständnis, zur Wortfindung auf Wort- und Satzebene, zum Lesen und Schreiben, zum Ergänzen von Sätzen und Wörtern sowie diverse Grammatikübungen, welche dem Leistungsvermögen des Betroffenen in verschiedenen Schwierigkeitsgraden stets neu angepasst werden können. Da durch haptische Therapie 90 % der Merkleistung gegeben ist, sollte dieses Wissen in der Entwicklung zukünftiger Aphasie-Apps einfließen.

      Die Welle der Digitalisierung und der digitalen Transformation wird auch vor der modernen Aphasie-Therapie nicht Halt machen. Die Option einer telerehabilitativen Online-Aphasie-Therapie, welche vor allen Dingen Betroffenen in der chronischen Phase eine hochfrequente und intensive Aphasie-Therapie zuhause ermöglicht, befindet sich noch in den Anfangsschuhen.

      Aufgabe der Forschung in der Aphasie-Therapie wird es in Zukunft sein, neue Therapiemethoden und spezifisch konzipiertes Therapiematerial folgend dem Konzept der interaktions-, emotions- und motivationsfokussierten Aphasie-Therapie zu entwickeln und zu etablieren. Tele-Aphasie-Therapie wird nicht Ersatz der physischen logopädischen Aphasie-Therapie sein, sondern eine additive therapeutische Strategie in der modernen diversen Aphasie-Behandlung im Einzel- und Gruppensetting.

      2 Akute Aphasien – ein besonderes Arbeitsgebiet

      Simone Jehle & Jürgen Steiner

      Das Arbeitsgebiet akute Aphasie ist ein Teil des Arbeitsgebietes Aphasie. Allgemeines Wissen über Aphasie ist die Basis zum Verstehen und Handeln für Aphasietherapeuten in der Akutphase. Grundlagen der Ätiologie, Prognose, aphasische Symptome usw. sollen in diesem Buch nicht dargestellt werden. Hier liegen sehr gute Einführungen vor, die wir voraussetzen (vgl. stellvertretend Tesak 2006; Huber et al. 2013, Schneider et al. 2014).

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      Die Einführungen zur Aphasie sowie jene Abschnitte der Lehrbücher, Lexika, Handbücher, Kompendien und Leitfäden für die Logopädie, die Aphasie zum Thema haben (vgl. stellvertretend Bartels & Siegmüller 2011; Grohnfeldt 2007; Grohnfeldt 2014), zeigen, dass die Besonderheiten der akuten Phase eher am Rande erwähnt werden. Dies gilt dann auch für die Leitlinien (vgl. Ziegler 2000).

      Modelle und Konzepte für die jeweilige Phase der Fallbearbeitung (vgl. Steiner 2020) sowie Qualitätsvorstellungen, die für die postakute Phase wichtig sind, können nur bedingt für die Akutsituation angewandt werden. Tools für die Kontexterfassung, Diagnostik, Therapie und Beratung sowie Evaluation für die postakute Phase sind nur bedingt für die akute Phase relevant. Meier & Wiederkehr (2019) verweisen darauf, dass die Recherche zu Logopädie bezogenen Qualitätsvorstellungen oder Handlungsempfehlungen auf den Ebenen international, national und institutionell für die Akutphase der Aphasiebehandlung sehr bescheidene Ergebnisse zutage fördert.

      Orientierung geben Nobis-Bosch et al. (2013). Hier werden die Phasen der Aphasiebehandlung sinnvoll eingeteilt in

      • sehr frühe Akutphase (Tag 0–4),

      • frühe Akutphase (Tag 5–14),

      • späte Akutphase (Tag 15–Woche 4 bzw. 6),

      • frühe Postakut-Phase (ab 5. bzw. 7. Woche),

      • späte Postakut-Phase (bis 1 Jahr).

      Des Weiteren geben Nobis-Bosch et al. (2013) einen ausführlichen Überblick zu klinischen Grundlagen, zur ICF in der Rehabilitation bei akuter Aphasie sowie deren logopädische Diagnostik und Therapie. Das Ganze wird im Rahmen der Therapie durch konkrete Fallbeispiele aller Schweregrade praxisnah abgerundet. Leider wird die alltagswichtige Textebene komplett vernachlässigt. Diese ist im Klinikalltag insbesondere deshalb wichtig, da vermeintlich leichtaphasische Patienten Einwilligungen in invasive Behandlungen oder Diagnostiken selbst unterschreiben müssen, was nicht selten ein komplexes Textverständnis voraussetzt.

      Die Intention dieses Buches ist, auf der Grundlage von Nobis-Bosch et al., die Sonderstellung der akuten Aphasie im Allgemeinen und im Besonderen in Diagnostik und Therapie, unter Berücksichtigung der Dreiteilung Basisfunktionen – Sprachabruf – Dialog, alltagsnah und realistisch darzustellen.

      In Anlehnung an die Definition der Aphasie in Steiner (2016) lässt sich die Situation der akuten Aphasie wie folgt beschreiben: Aphasie verändert die Lebenssituation eines Betroffenen drastisch. Der plötzliche Eintritt verschiedener, teilweise weitreichender Probleme wird von den Betroffenen und Mitbetroffenen als bedrohlich erlebt. Der Verlust der Sprachfähigkeit ist ein Teil der Problematik. Er ist zu sehen im Gesamtkontext interagierender körperlicher, psychischer und sozialer Beeinträchtigungen.

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      Aphasietherapie in dieser akuten Phase ist Teil des Gesamtkontextes zur aktuellen Stabilisierung des Patienten und zur Vorbereitung weiterführender Maßnahmen. Die logopädische Intervention kann je nach Art und Ausmaß sehr unterschiedlich aussehen, je nachdem, auf welchen Ebenen welche Störfaktoren wie interagieren. Diese bilden die Hintergrundprämissen des Handelns. Mit Ebenen der Störfaktoren ist gemeint:

      • Basisfunktionen: Sprache abzurufen und mit Sprache zu handeln setzt eine größtenteils intakte Informationsverarbeitung bzw. Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, (geteilte) Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis einschließlich Kontrollfunktionen (exekutive Funktionen) voraus.

      • Sprachabruf: Unterschiedliche Elemente (Phonem, Graphem,


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