Frühe Aphasiebehandlung. Jürgen Steiner

Frühe Aphasiebehandlung - Jürgen Steiner


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werden. Störprozesse können in verschiedenen Modalitäten (Verstehens-, Hervorbringungs-, Nachahmungs- und Umformungsleistungen) unterschiedlich stark ausgeprägt sein.

      • Dialog: Für die Verständigung braucht es den automatisierten Umgang mit verschiedenen linguistischen Einheiten, um sich auf Wort-, Satz- und Textebene bewegen zu können. Für gelingende Gespräche braucht es darüber hinaus Organisation und Kooperation mit einem Gegenüber.

      • Begleitstörungen : Nach einem Ereignis, das eine Hirnschädigung verursacht, gibt es eine Hierarchie der Maßnahmen: Die Medizin nimmt den Auftrag wahr, den lebenserhaltenden Maßnahmen und der Verhinderung eines neuen Ereignisses (Schlaganfall) oberste Priorität einzuräumen. Für die Logopädie steht die Aphasietherapie im zweiten Rang, wenn eine routinemäßige Abklärung möglicher Schluckstörungen Hinweise auf eine Dysphagie liefert.

      image Herausforderung image

      Die Interventionsplanung der Aphasietherapie in der Akutphase erfolgt unter erschwerten Bedingungen. Gleichzeitig haben Entscheidungen ein hohes Gewicht, weil die Erstdiagnose und der Bericht zur Übergabe für eine eventuelle Weiterbehandlung die Weichen stellen. Die erschwerten Bedingungen zeigen sich durch

      • die fluktuierende, komplexe Symptomatik mit vielfältigen neuropsychologischen Begleit-Symptomen; als Standard-Begleitung kann von einem teils instabilen medizinischen Status, einer reduzierten Belastbarkeit und einer reduzierten Aufmerksamkeit ausgegangen werden;

      • die schwierige Logistik einer möglichst intensiv zu planenden Intervention vor dem Hintergrund einer variierenden und bzw. oder schwer einschätzbaren Belastbarkeit und täglich anfallenden medizinischen Untersuchungen mit Priorität;

      • die limitierte (Zeit-)Dauer des Aufenthaltes, die nur eine orientierende Erfassung von Kontext und Diagnostik als Grundlage für Therapieplanung und -umsetzung ermöglicht;

      • den Zeitdruck für das Gesamtteam, der den notwendigen interdisziplinären Austausch erschwert;

      • den durch Zeitmangel schwer einlösbaren Anspruch einer guten Übergabe an die Weiterbehandlung;

      • die sehr anspruchsvolle Situation, kompetent hinsichtlich kommunikativer Anpassung zu beraten oder auch Hinweise zur Aktivierung für die Mitbetroffenen zu geben, da diese schockbedingt in ihrer Aufnahmefähigkeit eingeschränkt sind;

      • die erhöhten Anforderungen hinsichtlich der Dokumentation, die seitens der Kostenträger mit den Kriterien eindeutig und umfassend versehen sind. Der Hintergrund ist, dass Veränderungen erkannt, kommuniziert und dokumentiert werden sollen – zumal Therapeutenwechsel im Kontext der Stroke Unit durch die Maßgabe der täglichen Behandlung die Normalität sind;

      • die Schwierigkeit, auch leichte Aphasien mit diskreter Problematik bei oft falscher Selbsteinschätzung des Patienten zu erkennen; gerade hier besteht die Gefahr, dass Betroffene durch das Netz fallen und eine notwendige Weiterbehandlung nicht initiiert oder verzögert wird. Dies gilt auch für passagere Aphasien mit vorübergehender Problematik. Erschwerend kommt hinzu, dass man aus Sicht der Akutphase gar nicht vorhersagen kann, welches Symptom passager sein wird.

      Die erschwerten Bedingungen nehmen Einfluss auf das Bearbeiten der Situation durch die Therapeutin, auf das Zusammenarbeiten der Professionen und auf das Verarbeiten der Betroffenen.

      image Problem der nicht erkannten aphasische Symptomatik image

      Den zuletzt genannten Punkt möchten wir noch einmal hervorheben. Gerade Patienten, die leicht betroffen sind bzw. deren diskrete Symptomatik sich vor allem durch subjektives Klagen einer Leistungseinbuße zeigt, sollten sehr ernst genommen werden. Unter dem Druck vieler Behandlungstermine bei knapp zur Verfügung stehender Zeit werden solche Patienten aber teils nur oberflächlich untersucht und stellen dann erst beim Wiedereintritt ins Berufsleben fest, dass sie doch erhebliche Defizite haben. Ein Beispiel für solch ein schlecht zu erkennendes Defizit ist eine Störung des Textverständnisses, die kein Akuttest prüft und damit eventuell unerkannt bleibt, aber im Berufsleben sowie Alltag (z. B. Dokumente von Versicherungen) eben hochrelevant sein kann. Gerade diese Patienten sind nur wenige Tage im Krankenhaus und für sie ist aufgrund fehlender, schlecht dokumentierter oder nicht diagnostizierter Defizite keine Anschlussheilbehandlung geplant. Im Entlass-Arztbrief wird Logopädie als nicht (mehr) nötig eingestuft. Wenn der Patient seinem Hausarzt über Probleme berichtet, wird dieser aus Kompetenzgründen zum Neurologen überweisen, der den Patienten erst nach mehreren Monaten zum Termin bittet. Wenn der Neurologe dann Logopädie verordnet, muss er dies durch Revision des Abschlussberichtes tun. Auf jeden Fall geht wertvolle Zeit verloren.

      Ein ähnliches Problem kann bei einer karotisassoziierten TIA (transischämische Attacke) oder PRIND (prolongiertes reversibles ischämisches neurologisches Defizit) mit passagerer Symptomatik auftreten. Nicht selten wird dann bei unbeeinträchtigter Spontansprache der Patient mit der Dokumentation keine Aphasie aus der Behandlung entlassen, ohne dass die Schriftsprache getestet wurde. Nachfolgend wird der Patient einer Carotis-OP unterzogen, wobei es postoperativ zum Apoplex kommen könnte. Nachfolgender Untersucher kann nun nicht mit Sicherheit sagen, ob die nunmehr bestehende Agraphie durch die Operation kam oder bereits nach der passageren Aphasie noch bestand, da die Schriftsprache initial nicht abgetestet wurde. Dies wäre allerdings enorm wichtig, um weitere entscheidende medizinisch-diagnostische und/oder therapeutische Handlungen einleiten zu können. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass sich manche Störungen zunächst gar nicht objektivieren lassen und nur durch Alltagssituationen ans Licht kommen. Hiermit sind unter anderem Kommunikationsprobleme in Konferenzsituationen gemeint.

      image medizinisches Wissen als Holschuld image

      Eine weitere Besonderheit der Arbeit in der Akutphase der Rehabilitation ist, dass spezifisches medizinisches Wissen gefragt ist, das als Voraussetzung für jede Therapie zum Wissensfundus gehören muss. Als Beispiel sei hier der Komplex Tonus, Haltung bzw. Lagerung genannt. Sie spielen bei der Aphasie aufgrund einer eventuell begleitenden Parese häufig eine Rolle. In der akuten Phase ist dieser Komplex aber nicht nur unter anderem zu beachten, sondern von immenser Bedeutung, weil er Wachheit und Aufmerksamkeit beeinflusst und somit Therapie erst ermöglicht. Die Patientenleistung gegenüber vielen Anforderungen ist dann deutlich besser. Zum Wissen über Lagerung gehört auch, dass bestimmte Aktionen zur Lagerung kontraindiziert sein können. Patienten nach der Goldstandardbehandlung des schweren ischämischen Schlaganfalls (siehe Leitlinie der DGN, 2016) oder der mechanischen Thrombektomie (ca. 16.000 von 250.000 Pat. = 6,4 % jährlich in Deutschland) dürfen nicht oder nur in geringem Umfang verändert gelagert werden. Dies gilt in der Regel für die ersten 24 Stunden. Bei Patienten, deren Apoplex einen Sturz auslöste, können in der Folge Wirbelkörperfrakturen bestehen oder abklärungsbedürftig sein. Weitere Patienten erhielten eventuell eine externe Ventrikeldrainage, die nach veränderter Kopflagerung neu kalibriert werden muss. Auch in diesen Fällen gibt es eine entsprechende Kontraindikation. Die Ärzte sollten hier warnende Instruktionen geben; gleichzeitig müssen Logopädinnen und Logopäden davon ausgehen, dass sie in der informativen Holschuld sind. Auch Anleitung zum Umgang mit medizinischen Gerätschaften gehört zu dieser Holschuld. Die Beispiele zeigen, dass in der Akutphase besonderes Hintergrundwissen unabdingbar ist.

      Folgende Bereiche, die nicht in die klassische Logopädieausbildung gehören, fallen gemäß den Vorgaben der Deutschen Schlaganfallgesellschaft ebenfalls in den Aufgabenbereich von Sprachtherapeuten, die auf einer Stroke Unit arbeiten. Wenn logopädische Praxen eine Stroke Unit oder auch eine Reha-Klinik als externer Anbieter mitversorgen, ist dies zu berücksichtigen. Die Zertifizierungsrichtlinien setzen entsprechende Fortbildungen und aktuelles Wissen voraus:

      • Medizinproduktegesetz,

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