Frühe Aphasiebehandlung. Jürgen Steiner

Frühe Aphasiebehandlung - Jürgen Steiner


Скачать книгу
Niveaus der Wort-, Satz- und Textebene sich die Betroffenen in den beiden Sprachsystemen (Laut- und Schriftsprache) und den einzelnen Modalitäten bewegen können. Andererseits ist wichtig, welche kommunikativen Strategien für gelingende Gespräche (Organisation und Kooperation) als Ressource beider Gesprächspartner zu berücksichtigen bzw. zu bearbeiten sind. Verständigung findet in einer Umwelt, also mit Sekundärbetroffenen und anderen Bezugspersonen statt.

      • Die Voraussetzung für eine Einschätzung der individuellen Kommunikationsmöglichkeiten bildet das Hintergrundwissen über die Sprachbiografie des Patienten. Eventuell sind Muttersprache, Bildungssprache, Familien- bzw. Partnerschaftssprache und Alltags-Umwelt-Sprache verschieden (vgl. Steiner 2018a).

      • Um eine individuell neu zu definierende Gesundheit (mit Einschränkungen) wieder zu erlangen, ist die Rückgewinnung der Teilhabe und Aktivität am familiären, sozialen und beruflichen Leben entscheidend.

      • Zurechtfinden im Alltag und damit auch Zurechtfinden im Krankenhaus-Alltag ist eines der ersten Ziele.

      Aphasiediagnostik, -therapie und -evaluation beziehen sich auf der Grundlage dieser beschreibenden Definition nicht nur auf die Analyse, Bearbeitung und Beurteilung der sprachlichen Modalitäten. Über die linguistischen Fragestellungen hinaus hat es die Aphasietherapeutin und der Aphasietherapeut mit einem hochkomplexen, multidisziplinären Arbeitsfeld zu tun. Im multidisziplinären Team sind diagnostische und therapeutische Prozesse des Nebeneinanders, Nacheinanders und Miteinanders gut abzustimmen.

      image Phasenmodell image

      Eine Einteilung in die Phasen akut, postakut und chronisch hat sich in der Fachwelt etabliert. Die Akutsituation muss aber noch einmal in weitere unterscheidbare Phasen unterteilt werden. Als akut werden die ersten 4–6 Wochen nach der Erkrankung bezeichnet (vgl. Nobis-Bosch et al. 2013). Die sinnvolle Unterteilung der akuten Phase in sehr frühe (Tag 0–4), frühe (Tag 5–14) und späte Akutphase (Tag 15–Woche 4 bzw. 6) ist bedeutsam, da die Fokussierung des Behandlerteams unterschiedlich ist. Die Phase postakut beginnt dann ab der 5. bzw. 7. Woche.

      In der akuten Phase spielt anerkanntermaßen die Spontanremission, also die Erholung des Gehirns im Sinne der physischen Selbstorganisation, eine wichtige Rolle. Auch ist unstrittig, dass diese von Beginn an durch Therapie unterstützt werden sollte. Als Lehrbuchwissen hat sich etabliert, dass die drei Haupt-Phasen mit prinzipiell verschiedenen Ansätzen verbunden sind: Stellvertretend weisen Huber et al. (2013) der akuten Phase Aktivierung, der postakuten Phase störungsspezifische Übungen und der chronischen Phase Konsolidierung zu. Damit könnte indirekt vermutet werden, dass sich die akute Phase allgemein, die postakute Phase fokussiert und die chronische Phase wiederum allgemein in Richtung Alltagskommunikation (Gruppentherapie und Beratung) bzw. Transfer (Selbsthilfegruppe) ausrichten. Diese Vermutung möchten wir aber relativieren. Die Facetten Basisfunktionen, Sprachabruf und Dialog sowie die Berücksichtigung weiterer Personen außer dem Primärbetroffenen (andere Patienten, primäre Gesprächspartner, Umfeld) spielen in unterschiedlichen Settings, nämlich Einzeltherapie, Gruppentherapie, Coaching und Beratung, in jeder Phase eine Rolle. Konkrete Hinweise zur Beratung oder zur Gruppentherapie bereits in der Akutphase werden in Kapitel 6 gegeben (vgl. hierzu auch Masoud et al. 2016).

      Auf der Grundlage der oben mit zehn Punkten beschriebenen Definition der Aphasie lassen sich die Besonderheiten in der sehr frühen bzw. frühen akuten Phase herausarbeiten.

      • Aphasie ist für die Primärbetroffenen ein plötzlich eintretender Absturz aus der Lebensroutine, wobei der Kontext Hirnschädigung zu einer großen Verunsicherung, zu Angst und Scham führt.

      • Die Erstsituation wird als lebensbedrohlich erlebt.

      • Die Störung der Sprachspeicherungs- und Sprachabrufprozesse sind tagesformabhängig und unterliegen einem teilweise rasanten Prozess der Spontanremission, womit die Symptomatik nicht in ein verlässliches Bild mündet.

      • Die Störung der Basisfunktionen (geteilte Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, Konzentration und Gedächtnis) kann dominieren; die geminderte Belastbarkeit muss berücksichtigt werden.

      • Aphasietherapie in der sehr frühen bzw. frühen Akutphase heißt Therapie im Krankenzimmer bzw. am Krankenbett.

      • Die Dialogpartner sind in höchstem Maße besorgt und im (kommunikativen) Verhalten verunsichert.

      • Untersuchungen und Maßnahmen zur Lebenserhaltung und zur Stabilisierung der Situation, um ein Folgeereignis zu verhindern, haben unbedingte Priorität.

      • Die Abklärung der Dysphagie, die meist routinemäßig vorgesehen ist, hat Vorrang vor der Untersuchung und Behandlung der Aphasie.

      • Vom Erstkontakt über die Kontexterfassung und Diagnostik im interprofessionellen Austausch bis zu therapeutischen Entscheidungen steht wenig Zeit zur Verfügung. Akutbehandlung ist Behandlung unter Zeitdruck.

      • Hilfen für die Verständnissicherung (Behandlerteam) und das gelingende Gespräch (mitbetroffene Angehörige) sind sofortiger Bestandteil der Therapie.

      • Die Prognose ist prinzipiell offen; Fragen zu Wiedereingliederung und einer individuell neu zu definierenden Gesundheit (mit Einschränkungen) müssen verschoben werden. Dafür ist Hoffnunggeben gefragt.

      • Eine kollegiale Beratung zur Kommunikation unter erschwerten Bedingungen im Krankenhaus-Alltag ist eine Aufgabe der Logopädie.

      • In einem hochkomplexen Arbeitsfeld mit einem extremen Beschleunigungsfaktor sind Teamprozess, Intervision und Supervision in Richtung einer Qualitätsdefinition, die für die jeweilige Institution anschlussfähig ist, in hohem Maße gefragt.

      image Schweregrad image

      Akute Aphasien werden häufig mit schweren oder nicht-klassifizierbaren Aphasien in Verbindung gebracht. Auch eine geringe Belastbarkeit wird als genereller Faktor assoziiert (vgl. Nobis Bosch et al. 2013, Bley 2002 sowie Bauer 2001). Betrachtet man die Prozentränge des Aphasie Schnelltestes (Kroker 2006), stellt man fest, dass diese sich ziemlich gleichmäßig über die gesamte Skala der Rohwerte verteilen und sich nicht bei schwersten Störungen häufen. Das heißt, dass alle Schweregrade in der Akutphase einer Aphasie zu beobachten sind und nicht nur schwere Aphasien vorliegen. Kroker (2006) zeigte, dass von 76 Aphasiepatienten, die im Laufe eines Jahres auf der Saarbrücker Stroke Unit behandelt wurden, knapp ein Drittel (32 %) den Status Restaphasie hatten. Die Zuordnung akut gleich schwere Beeinträchtigung kann demnach so nicht aufrechterhalten werden.

      image Prozentränge image

      Der Schweregrad der Aphasie kann sinnvoll als Prozentrang angegeben werden (vgl. Kroker 2006 sowie Kalbe et al. 2010), da Prozentränge interdisziplinär gut verständlich sind. Im Aphasie Schnelltest, AST (Kroker 2006), kann zusätzlich eine Tendenz ermittelt werden, ob zum Beispiel die expressiven Leistungen den rezeptiven entsprechen oder ob sich Divergenzen zeigen.

      image Plädoyer image

      Die Abklärung und Behandlung sehr leichter Aphasien bzw. die Begleitung von Patienten mit Sprachproblemen, die zunächst einmal nur von Patienten subjektiv erlebt und mit klassischen Mitteln der Beobachtung und Diagnostik nicht bzw. nicht sofort bestätigt werden können, sind wichtig. Diese Patienten werden häufig vernachlässigt, obwohl gerade sie die beste Chance auf berufliche Rehabilitation und Rückkehr in den regulären Alltag haben. Bei Pederson et al. (2004) wurden leichte Aphasien auf der Stroke Unit 1995 gar


Скачать книгу