106. Ausgabe der allmende – Zeitschrift für Literatur. Группа авторов

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aber nicht so breit.

      E: Naja, 9/11 hat schon auch ziemlich viele herausgelockt, ich kann mich erinnern, was ich für Diskussionen hatte mit Leuten, die ich bis zu diesem Zeitpunkt für ziemlich vernünftig und gescheit hielt. Da sind wir wieder beim Parameter für eine Verschwörungstheorie. Wie das haarklein aufgezogen wird, diese Leute machen sich ja auch viel Mühe. Diese Gräben, die aufgehen, nehme ich jetzt schon auch wahr, aber ich erlebe dasselbe wie vor 30 Jahren beispielsweise bei Diskussionen um Haider. Den haben damals schon irgendwelche Verwandten gewählt und dann hat man einfach beschlossen, diese Diskussionen nicht zu führen. Das hat keinen Sinn, vor allem mit Leuten, mit denen du weiterhin Kontakt haben willst oder musst, weil es deine Verwandten sind. Dann sprichst du das einfach nicht mehr an.

      P: Früher gab es lauter politikmüde Menschen und jetzt lauter Leute, die extrem politisiert sind, viel mehr Leute, die eine politische Meinung haben.

      K: Ich glaube tatsächlich, dass es immer diese Fronten gab. Dass wir es nur wirklich verlernt haben, in der man nachher noch miteinander Mittagessen gehen konnte. Heute hat man eine Harmoniepädagogik. Auseinandersetzungen werden krampfhaft vermieden.

      P: Unter Freunden geht die Streitkultur noch, unter Fremden nicht mehr.

      B: Heute muss man als Medium unabhängig sein, ob das stimmt oder nicht, ist eine ganz andere Frage. Früher gab’s die »Arbeiterzeitung« und das konservative Pendant, dann war das vorbei. Jetzt ist man nur mehr abhängig von denen, die ökonomisch dahinterstehen und das Medium besitzen und damit Rendite erzielen wollen. Und jetzt kommt durch Social Media die Parteipresse auf eine ganz andere Weise wieder zurück.

      E: Das ist zwangsläufig wahrscheinlich ein neues Phänomen, da heute jeder mit jedem kommunizieren kann. Diese Anonymität gab es früher nicht. Die Frage ist jetzt: Wie weit diffundiert das eigentlich in die Realität hinein, dass man jetzt die Möglichkeit hat, relativ ungestraft medial jemanden anzugreifen. Das hat man früher nämlich auch getan, nur am Stammtisch oder am Dorfplatz. Nur halt nicht in der Breite. Ich bin nicht ganz sicher, ob es so etwas anderes ist als früher. Die Skalierung ist eine ganz andere, aber die Mechanismen sind eigentlich dieselben.

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      Die Wiener Autorin Vea Kaiser bittet regelmäßig Kolleginnen und Kollegen ins Ristorante Rossini, um aktuelle Probleme und Entwicklungen der Literaturwelt zu diskutieren. Das vorliegende Gespräch fand im Oktober 2020 statt und wurde für die allmende von Dorothea Sichrovsky verschriftlicht.

      B: Die ersten großen politischen Diskussionen meines Lebens hatte ich so mit 16, 17 unter Freunden. Die Frage auf dem Land, als die FPÖ groß wurde, war damals: Geht man zum Bundesheer oder nicht. Du bist ein Vaterlandsverräter, und wenn jemand deine Mutter oder Tochter vergewaltigen will, würdest du dann nicht mit der Waffe in der Hand … Das waren damals Diskussionen, die waren ernst, die waren unversöhnlich.

      E: Der Unterschied ist vielleicht, dass man in dieser medialen Diskussion fast alle Schranken fallen lässt. Was macht man dann mit Menschen im persönlichen Umfeld, die, wenn man sich die Bemerkungen wegdenkt, eigentlich ganz nett sind?

      P: Da ist es doch durchaus möglich, einen Nachmittag zu verbringen.

      E: Es gibt immer noch einen ganz massiven Unterschied zwischen diesem online-Gezanke und dem persönlichen Kontakt. In dem Augenblick, wo du einem Menschen gegenüberstehst, würde ich sogar behaupten, dass man sich heute in den Diskussionen weniger den Schädel einschlägt, sondern lieber sagt: Dann gehen wir auf keinen Kaffee mehr.

      K: Wir werden aber in jedem Fall weiterhin miteinander auf einen Kaffee gehen. Danke, dass Ihr Euch Zeit genommen habt.

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      VEA KAISER, geboren 1988 in St. Pölten, studierte Klassische Philologie (Schwerpunkt Altgriechische Dichtung) und veröffentlichte bisher drei Romane, zuletzt: Rückwärtswalzer oder Die Manen der Familie Prischinger (2019).

       www.veakaiser.de

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      CLEMENS BERGER, geboren 1979 in Güssing, studierte Philosophie und Publizistik. Er veröffentlichte zahlreiche Erzählungsbände, Essays, Theaterstücke und sechs Romane, kürzlich erschien sein Roman Der Präsident (2020).

       www.clemensberger.at

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      MARS ELSBERG, geboren 1967 in Wien, zählt seit seinem 2012 erschienen Thriller Blackout. Morgen ist es zu spät zu den meist verkauften deutschsprachigen Autoren. Zuletzt erschien der Thriller Gier – Wie weit würdest du gehen? (2019).

       www.marcelsberg.com

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      URSULA POZNANSKI, geboren 1968 in Wien, schrieb zahlreiche Kinder- und Jugendbücher, die bei den Leser*innen euphorische Begeisterung auslösen. Zuletzt erschienen der Thriller Vanitas. Grau wie Asche und die Dystopie Cryptos (2020).

       www.ursula-poznanski.de

      JAN WAGNER

      de vita caroli quarti

       »Herr, steht auf, der jüngste Tag bricht an, denn die ganze Welt ist voller Heuschrecken!«

      wir ritten bis nach pulkau, um das ende

      der welt nicht zu verpassen, und schon mittags

      fiel nacht auf uns herab – als würde

      alles was ist in einen sack gesteckt,

      verschnürt. von fernher drang das fiepen

      der glocken aus den dörfern zu uns durch.

      ein lärm, der jedes selbstgespräch

      erstickte, jedes stoßgebet, ein tosen,

      ein schwarzer schneesturm, selbst als schon ein teil

      gelandet war (wenngleich der himmel

      nicht wiederkehrte) – wie das kratzen

      von tausenden von federn auf papier,

      ein rasendes skriptorium. die pferde,

      bis zu den knien in insekten, wiehernd,

      und diese selbst ein staunenswertes uhrwerk

      dem hunger, eine gierige mechanik.

      wir standen ratlos da,

      jeder von uns geplündert wie ein rom.

      ob da noch vögel waren? keine vögel,

      kaum licht. und jedes schwein und jeder köter,

      der sie zu fressen wagte, in sich aufnahm,

      krepierte binnen stunden.

      drei jahre wird es gehen.

      drei jahre mit dem krachenden harsch

      von flügeln unter den füßen und von panzern,

      die ganze schöpfung gegen uns gerüstet,

      ein lebendes kettenhemd auf jedem

      feld, herr. sie vermehren sich des nachts

      wie dunkle wünsche, unnatürliche

      gedanken; wir erheben uns am morgen,

      kahl wie die erde, wie geschändet, herr.


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