Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

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ein und die Werte normalisieren sich. 130/80. Alles gut? Mitnichten, denn es bleiben viele Fragen offen.

      Warum hat sein Hausarzt Max überhaupt ein Medikament verschrieben? Nun, erhöhter Blutdruck korreliert mit dem Auftreten von Herzinfarkt oder Schlaganfall. Diese und andere mögliche Komplikationen von einem erhöhten Blutdruck sollten vermieden werden.

      Aber sein Hausarzt kann ihm weder mit Gewissheit sagen, ob er tatsächlich seine Blutdruckmedikation braucht, noch, ob er davon profitieren wird. Der Arzt hat klinische Studien im Kopf, die mit verschiedenen Blutdruckmitteln durchgeführt wurden und zeigen, dass unter der Medikation tatsächlich weniger Herzinfarkte beziehungsweise Schlaganfälle auftraten. Bei kritischer Betrachtung fällt allerdings auf, dass nur ein kleiner Prozentsatz der Patienten mit erhöhtem Blutdruck tatsächlich einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erleidet. Von diesen Herzinfarkten oder Schlaganfällen kann eine Senkung des Blutdrucks allerdings nur einen kleinen Teil verhindern. Das heißt, die meisten Patienten haben zwar einen erhöhten Blutdruck, aber überhaupt kein Risiko, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden. Und die Patienten, die tatsächlich einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben und hohen Blutdruck hatten, konnte die Behandlung mit einem Blutdruckmittel letztlich nicht schützen.

      Andererseits kann der Hausarzt Max aber auch nicht davon abraten, sein Blutdruckmittel weiter zu nehmen, denn er hat keine Alternativen. Nichts zu verschreiben würde das Risiko bedeuten, dass Max zufälligerweise einer der wenigen Patienten ist, die einen Herzinfarkt oder Schlaganfall bekommen – was durch die Einnahme eines Blutdruckmittels hätte verhindert werden können.

      Aber der Arzt hat noch ein viel größeres Problem: Nur bei circa fünf Prozent aller Patienten mit Bluthochdruck kann man eine Ursache finden. Das sind dann Patienten, bei denen eines der Blutgefäße, welche die Niere mit Blut versorgen, verengt ist, wodurch die Niere Hormone ausschüttet, die zu einer Erhöhung des Blutdrucks führen.

      Bei Max ist das anders. Abgesehen davon, dass der Blutdruck erhöht ist, lässt sich keine weitere Diagnose stellen und die Indikation zur Verschreibung des Blutdruckmittels bleibt allein der Blutdruck. Damit ist Max keine Ausnahme. Im Gegenteil, er gehört zur großen Masse anderer Patienten mit erhöhtem Blutdruck, circa 90 bis 95 Prozent, bei denen die Diagnose wie bei Max lautet: primäre Hypertonie. Das klingt recht wissenschaftlich, heißt aber nicht anderes als: „Sie haben erhöhten Blutdruck, aber wir wissen nicht, warum.“ Und wenn die eigentliche Ursache, warum der Bluthochdruck erhöht ist, nicht bekannt ist, verbleibt behandlungstechnisch lediglich die Möglichkeit, das Symptom verschwinden zu lassen.

      So verschreibt der Hausarzt Max gemäß den therapeutischen Leitlinien völlig korrekt das Blutdruckmittel regelmäßig weiter. Über die Jahre als chronischer Bluthochdruckpatient setzt Max ein bisschen Hüftgold an, bewegt sich nicht mehr so viel und sein Blutdruck steigt wieder, trotz der Therapie. Der Arzt verschreibt ihm ein zweites Blutdruckmittel und schließlich ein drittes und der Blutdruck sinkt wieder. Eines der Mittel steht im Verdacht, weißen Hautkrebs zu verursachen, ein anderes verursacht bei Max erstmals in seinem Leben Potenzprobleme. So tauscht sein Arzt schließlich beide neuen Mittel gegen zwei andere aus. Zwar sind Max diese vielen Tabletten lästig, aber ihm wird auch bewusst, dass er nun wirklich chronisch krank und ein Risikopatient ist. Er würde sich so sehr wünschen, sein Bluthochdruck verschwände, dass er quasi davon geheilt wäre, aber das scheint nicht möglich. So hofft er denn, dass er wenigstens von einem Herzinfarkt oder Schlaganfall verschont bleibt.

      Es scheint ja auch keine Alternative zu geben, ein anderer Arzt sagt das Gleiche und zwei Freunden von Max geht es genauso wie ihm, auch sie nehmen dauerhaft Blutdruckmedikamente. Da kann man wohl nichts machen?

      TEIL I

image VOM ENDE DER MEDIZIN, WIE WIR SIE KENNEN …

      KAPITEL 1

      SPÄT DRAN

      Liebe Leserin, lieber Leser, ich freue mich, dass Sie sich die Zeit nehmen, mich auf eine Reise zu begleiten. Ich verspreche Ihnen, es wird sich lohnen. Es geht um Medizin und Gesundheit, aber um weit mehr als das. Es geht um die weltweit nächste große gesellschaftliche und wirtschaftliche Revolution, an deren Anfang wir jetzt stehen. Und diese Revolution hat sogar schon begonnen, ist unmittelbar für Sie relevant. Große Worte, denken Sie sich vielleicht. Was kann damit gemeint sein?

      Es geht mir um etwas von der Dimension, wie sie der russische Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew in der bekanntesten Theorie zu Konjunkturzyklen mit den sogenannten Kondratjew-Wellen beobachtet hat. Historische Wachstums- und Entwicklungsphasen unserer Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert lassen sich oft mit Schlüsseltechnologien und Krisen, die diese erforderlich machten, erklären. Große Erfindungen verändern die Welt: das Rad, die Dampfmaschine, die Glühbirne, das Internet. Wie sähe unser Leben ohne sie aus? Große Erfindungen brauchen Zeit; manchmal beflügelt erst eine massive Krise die Einführung einer Innovation. Doch danach ist alles anders.

      So war es zum Beispiel bei der ersten Kondratjew-Welle, der Erfindung der Dampfmaschine. Was folgte, war die sogenannte industrielle Revolution mit dem Bau riesiger Fabriken. Ein neues Zeitalter brach an.

      Dies war jedoch auch das Ende der bis dahin einzigen Form kommerzieller Schifffahrt, nämlich der mit Segelschiffen. Dampfschifffahrt war schneller. Die Einführung maschineller Arbeit auf See bedeutete zudem eine so große und langfristige Effizienzsteigerung, dass sie die Expansion des Reedereigeschäfts ermöglichte. Dessen Ausweitung durch englische, bremische, holländische und belgische Reedereien machte Segelschiffe schließlich nicht länger konkurrenzfähig.

      Doch so leicht gaben sich die Anhänger der Segelschifffahrt nicht geschlagen. Konzepte, von denen Menschen dachten, sie seien für die Ewigkeit, lassen sich nicht so einfach verdrängen. So wie im 20. Jahrhundert einige die Ansicht vertraten, kein Privathaushalt bräuchte einen Computer und das Internet werde eine Episode bleiben oder bestenfalls ein zweitrangiges Hilfsmittel für die analoge Welt. Der deutsche Physiker Max Planck schrieb in seiner „Wissenschaftlichen Selbstbiographie“: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“ Genauso bezweifelten Anhänger der Segelschifffahrt noch lange, dass das Segelschiff von gestern sei.1

      Ähnlich epochal waren die drei weiteren sozioökonomischen Revolutionen, die Kondratjew noch selbst definierte: die Einführung der Stahlgewinnung und der Eisenbahnen, dann der Elektrotechnik und der Chemie, schließlich des Automobils und der Atomkraft. Sogar die Erfindung der Glühlampe war keine schrittweise Weiterentwicklung einer Kerze, sondern etwas komplett Neues. Kerzenbeleuchtung war fortan nur noch Dekoration, Nostalgie.

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      Abb. 1: Die fünf Kondratjew’schen Wellen sozioökonomischer Revolutionen durch Innovationen, die unsere Gesellschaft nachhaltig beeinflusst haben – typischerweise im Abstand von circa zwei Generationen und immer auf eine schwere Krise folgend. Was wird die sechste Welle sein?

      Und seitdem? Die fünfte Welle? Zwar hat diese nicht mehr Kondratjew selbst definiert, aber ich denke, Sie werden mir zustimmen, dass die letzte große Revolution dieser Art, die wir erlebt haben, die Einführung der Informationstechnologie war: Computer, Internet und Smartphone. Ermöglicht wurde dies durch die rasante Geschwindigkeit, mit der Mikroprozessoren schneller und kleiner wurden. Aber nun stehen wir am Ende dieser Revolution. Mit Google, Amazon, Apple und anderen sind mittlerweile sieben von zehn der weltweit wertvollsten Unternehmen keine linearen Industrien mehr, die ein Produkt entwickeln, produzieren und weltweit vertreiben, sondern sogenannte Plattformen, die im Prinzip alles machen können. Darauf komme ich später noch einmal zurück …

      Und jetzt?


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