Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

Geheilt statt behandelt - Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt


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Wellen. Doch diese Stichworte stehen meiner Meinung nach nicht für die nächste große Revolution. Industrie 4.0 ist eine recht bescheidene Innovation; meist wird das Gleiche wie vorher gemacht, nur digitaler. Erneuerbare Energien und die Techniken dafür, um die Klimakatastrophe abzumildern, sind prinzipiell längst vorhanden. Sie müssen nur eingesetzt werden, der Rest ist Management.

      Ich hätte dieses Buch nicht geschrieben und auch meine gesamte wissenschaftliche Arbeit nicht komplett umgekrempelt, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass die sechste Kondratjew-Welle eine komplette Neudefinition von Gesundheit, Krankheit, Vorsorge, Behandlung und Heilung sein wird und dies auf eine maximal demokratische, kostensparende Weise; das bedeutet auch, dass die so entstehende neue Medizin keine Luxusmedizin der reichen Industrienationen und ihrer Bürger sein wird, sondern allen Menschen zugutekommen kann.

      Aber wie bei allen Kondratjew-Wellen wird all dies nicht passieren, nur weil neue Technologien aufgekommen sind, sondern weil uns die gewaltige Krise der gegenwärtigen Medizin und unseres Gesundheitssystems gar keine andere Wahl lässt. Auch werden große Widerstände zu überwinden sein, so wie dies Max Planck beschrieben hat. Sie mögen sich jetzt fragen: „Krise? Welche Krise?“ Lesen Sie weiter …

      Krise, welche Krise?

      Mein Buch besteht zunächst aus zwei Teilen – einer negativen Gegenwartsbeschreibung und einer positiven Zukunftsvorhersage. Zu Beginn geht es also um das Negative, die Krise, die erst den Handlungsdruck erzeugt, um dann in der Zukunft die radikale Veränderung der Medizin zu bewirken. Enthält der zweite Teil reine Zukunftsmusik? Nein. Denn zum Glück sind wir ja schon am Anfang der revolutionären Weiter- oder Neuentwicklung der Medizin, sodass ich Ihnen viele Beispiele dafür aufzeigen kann, wie die aktuellen Schwächen und Fehler korrigiert werden können. Um Ihnen nicht das Gefühl zu geben, Sie hätten lediglich einen Vorgeschmack auf eine wunderbare, aber noch entfernt liegende Zukunft der Medizin gelesen, folgt zum Schluss ein kleiner, dritter Teil mit konkreten Tipps, die Sie schon jetzt zur Nutzung der bereits verfügbaren Innovationen nutzen beziehungsweise anwenden können; denn die Zukunft hat ja bereits begonnen.

      Im ersten Teil werde ich Ihnen zeigen, dass bisher so gut wie keine Erkrankung hinsichtlich ihrer Ursachen verstanden worden ist. Darum scheiden Frühdiagnosen aus, stattdessen warten wir beziehungsweise werden von ersten Symptomen überrascht. Danach bleibt in der Regel auch nur eine Behandlung der Symptome, die, da wir ja die Krankheitsursachen nicht kennen, unpräzise ist und meist chronisch durchgeführt werden muss. Heilung ausgeschlossen. Oder denken Sie, das Arzneimittel, das Sie chronisch verschrieben bekommen und einnehmen, verschafft Ihnen einen Vorteil? Sie werden überrascht sein: in den allermeisten Fällen nicht. Eventuell spüren Sie sogar nur die Nebenwirkungen.

      Der Zugewinn an Lebenserwartung und Lebensqualität stagniert seit vielen Jahren, obwohl wir immer mehr Geld in unser Gesundheitssystem pumpen, unter anderem auch durch falsche Anreize. Sowohl die Forschung als auch die Pharmaindustrie – früher mal als Big Pharma bezeichnet, als einige davon noch zu den zehn größten Unternehmen der Welt gehörten – stagnieren. Über die Hälfte der veröffentlichen biomedizinischen Forschung stellt sich hinterher als nicht reproduzierbar heraus und dient lediglich dazu, Forscherkarrieren zu ermöglichen. Die pharmazeutische Industrie fährt gegenwärtig gegen die Wand, sie wird in der gegenwärtigen Form innerhalb der nächsten zehn Jahre verschwinden. Der Ansatz, früh mit Prävention zu beginnen, anstatt spät im Laufe eines Krankheitsgeschehens Arzneimittel einzunehmen, bleibt weitgehend ungenutzt, obwohl ein Großteil aller chronischen Erkrankungen durch gesünderen Lebensstil und Umweltfaktoren zu verhindern oder zumindest günstig zu beeinflussen wäre. Eine Ursache ist sicher das mangelnde Wissen um die einfachsten Komponenten eines gesunden Lebensstils. Mangelnde Bildung kostet acht Lebensjahre; ist man zudem noch männlich, reduziert sich die Lebenserwartung noch einmal um sieben Jahre. Und das Erschreckende ist: Beides addiert sich. Ungebildete Männer leben 15 Jahre kürzer als gebildete Frauen. Stimmen Sie mir also zu, dass wir eine Krise haben?

      Bevor ich mit Ihnen in die Details gehe, möchte ich vorweg noch eine Bemerkung machen, die mir sehr am Herzen liegt. Ich werde nachfolgend viel Kritik üben und diese auch belegen, aber verstehen Sie das bitte nicht als pauschale Verurteilung aller Ärzte, Wissenschaftler und Industrieforscher. Die weitaus meisten Ärzte, bis auf einige wenige schwarze Schafe, wollen ausschließlich und absolut das Beste für ihre Patienten und tun auch das Menschenmögliche hierfür. Sie können aber nur das tun, was medizinisch überhaupt möglich ist. Wenn die Diagnosen und möglichen Therapien so unpräzise sind, wie sie nun mal sind, kann auch der engagierteste Arzt dies nicht ändern. Auch die Pharmaindustrie kann nur dann präzise Arzneimittel entwickeln, wenn es präzise Krankheitsdefinitionen gibt. Wenn der Forschungsbetrieb so läuft, wie er läuft, dann kann ein einzelner Wissenschaftler ihn nicht so einfach ändern, ohne aus dem System herauszufallen – und schon gar nicht ein junger Nachwuchswissenschaftler.

      Wofür ich aber kein Verständnis haben werde: Wenn nach (!) der Lektüre dieses Buches diejenigen, die wesentliche Entscheidungen in der biomedizinischen Forschung, an Hochschulen und im Gesundheitssystem treffen können – und ich werde Ross und Reiter benennen –, danach noch immer behaupten, wir könnten so weitermachen wie bisher; dann handeln sie wider besseres Wissen. Ich möchte also im Gesundheitssystem und der biomedizinischen Forschung etwas Wesentliches bewegen beziehungsweise einen nachhaltigen Anstoß geben. Lassen Sie uns daher in die Details gehen.

      Wir haben ein Krankheitssystem

      Wenn wir ehrlich sind, haben wir gegenwärtig kein Gesundheitssystem, sondern ein Krankheitssystem. Der Versicherungsfall tritt in der Regel erst ein, wenn Symptome auftreten und eine Erkrankung besteht. Die Symptome werden dann behandelt, meist chronisch.

      In der Regel ist es so, dass plötzlich – wie im Prolog beschrieben – ein Messwert, den der Arzt routinemäßig feststellt, nicht mehr im Normalbereich liegt, und das mehrmals. Zum Beispiel wird ein erhöhter Blutdruck gemessen oder die Cholesterinwerte sind erhöht oder der Blutzucker. Gespürt hat der Patient bisher nichts, hat sich eigentlich kerngesund gefühlt und nun das. Er würde sich ja noch immer gesund fühlen, wenn ihm der Arzt nicht sagen würde, er sei jetzt ein Patient.

      Es kann aber auch sein, dass Sie aus völliger Gesundheit heraus plötzlich Symptome bei sich bemerken oder erste Beschwerden haben, zum Beispiel plötzliche Herzschmerzen bei Belastung. Oder Sie merken, Sie bekommen nicht mehr so gut Luft, zum Beispiel im Frühjahr beim Pollenflug oder in der Kälte. Oder das Joggen oder sogar das Treppensteigen gehen nicht mehr so richtig und Sie müssen immer öfter langsam machen oder eine Pause einlegen. Oder die Schulter, die Hüfte oder das Knie tun immer häufiger weh.

      Und wie lautet dann die Diagnose? Meist genauso wie die Symptome: Der Blutdruck ist erhöht, also lautet die Diagnose Bluthochdruck oder – auf Latein, aber nicht genauer – primäre Hypertonie; ist das Cholesterin erhöht, lautet die Diagnose Hypercholesterinämie, was nichts anderes bedeutet, als dass das Cholesterin im Blut erhöht ist, nur auf Latein. Oder Sie kommen schnell außer Atem, weil ihr Herz schwächer ist; dann lautet die Diagnose Herzinsuffizienz, was nichts anderes bedeutet, als dass Ihr Herz nicht mehr gut funktioniert. Oder Sie bekommen sogar im Ruhezustand schlecht Luft, weil die Atemwege verengt sind; dann kann die Diagnose Asthma bronchiale lauten, was nichts anderes bedeutet, als dass die Bronchien verengt sind und Sie schlechter Luft bekommen – aber das wussten Sie ja schon.

      Ich nehme gern das Auto als bildhaften Vergleich. Das liegt ein bisschen daran, dass wir Deutschen – vor allem wir Männer – uns so liebevoll um unser Auto kümmern, es öfter zur Wartung bringen und pflegen als uns selbst – aber uns so gut wie nie zum „Check-up Mann“ bringen, wie das mein Kollege Christoph Pies in seinem sehr empfehlenswerten Buch nennt. Stellen Sie sich also vor, Sie gehen mit Ihrem Auto in die Werkstatt, weil schon zum dritten Mal in den vergangenen Monaten die Scheinwerfer ausgefallen sind. Nach einer eingehenden Inspektion des Autos diagnostiziert der Werkstattmeister einen chronischen Scheinwerferdefekt. Da würden Sie doch verblüfft gucken und nachbohren, ob die Diagnose nicht ein wenig genauer gestellt werden könnte, denn dass die Scheinwerfer ständig kaputtgingen, wüssten Sie ja schon selbst. Dazu bräuchten Sie nicht in die Werkstatt zu kommen. Was Sie interessiert, ist, warum das ständig


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