Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

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      Es gibt aber einen weiteren Trick, um diesen inzwischen mehr und mehr publik gewordenen Nachteil aus dem Fokus zu nehmen und die Risikoverminderung durch ein Arzneimittel marketingtechnisch schönzurechnen. Und ich denke, dass auch so mancher Arzt darauf schon reingefallen ist. Leider müssen wir dazu noch etwas mehr in die Trickkiste der Mathematik greifen. Folgen Sie mir, es lohnt sich.

      Absolutes und relatives Risiko

      Mit einer Arzneitherapie will ich oft nicht nur ein Symptom beseitigen, sondern ein damit assoziiertes Risiko langfristig senken. Nun gibt es zwei Arten, wie man dieses Risiko darstellen kann: absolut und relativ.

      Bei kontrollierten klinischen Studien medizinischer Interventionen (Medikamente, Operationen und so weiter) gibt es immer einen möglichst patientenrelevanten Endpunkt, das heißt, dass gemessen werden kann, ob die Intervention im Vergleich zur Standardtherapie besser war oder nicht. Im dramatischsten Fall kann das sein: weniger Todesfälle oder – wie in der Abbildung 4 – keinen Herzinfarkt oder keinen Schlaganfall zu erleiden.

      In den Informationen, die gern auch von der pharmazeutischen Industrie verwendet werden, wird oft ein anderer Wert berechnet und kommuniziert, der weitaus beeindruckendere Zahlen hergibt: die Relative Risiko-Reduktion (RRR). In Abbildung 4 habe ich die Zahlen ein wenig vereinfacht, um sie leichter umrechnen zu können. Gehen wir von einer NNT von 1:50 für das Vermeiden eines Todesfalls aus. Das bedeutet in Prozent, dass zwei Prozent aller behandelten Patienten tatsächlich einen Vorteil haben, weil sie nicht sterben. Nun sterben ja glücklicherweise die allerwenigsten Patienten im Laufe einer klinischen Studie. Nehmen wir einmal an, es sind – ohne Behandlung – von 100 Patienten normalerweise zehn, die sterben, und nun – mit Behandlung – zwei weniger, also nur acht, die noch sterben. Zwei Prozent ist dann die Absolute Risiko-Reduktion (ARR). Klingt nicht besonders beeindruckend, ist aber ehrlich und bezieht alle Patienten ein, die mit dem Medikament behandelt wurden. 98 Prozent der Patienten haben demnach keinen Vorteil: 90 Prozent wären sowieso nicht gestorben und acht Prozent sind trotz des Medikaments gestorben.

      Nun lässt sich aber auch ein anderer Wert berechnen, der nicht grundsätzlich falsch ist, aber irreführend verwendet werden kann und oft so verwendet wird, die Relative Risiko-Reduktion (RRR). Hierzu schaut man sich nur die Todesfälle an und ignoriert alle anderen Patienten, die das Medikament auch noch, aber sinnloserweise genommen haben. Ohne Therapie sind demnach zehn gestorben, mit Therapie nur acht, also eine beeindruckender klingende 20-prozentige Reduktion dieses relativen – das heißt nur auf die Todesfälle bezogenen – Risikos (RRR). Nicht falsch, aber maximal geschönt.

      Abb. 4: Relative (RRR) und Absolute Risiko-Reduktion (ARR) einer Therapie. 100 Patienten werden behandelt. Unbehandelt (weiße Balken) würden zehn sterben, behandelt (schwarze Balken) nur acht. Zwei von 100 (zwei Prozent) leben dank der Therapie weiter, haben also einen Vorteil. Das Absolute Risiko (ARR) wurde um zwei Prozent reduziert; die NNT ist 50. Acht sterben aber trotzdem; 90 hätten so oder so weitergelebt; macht zusammen 98 Prozent der Patienten, die keinen Vorteil haben. Schaut man sich jedoch nur die zehn Todesfälle an, wird diese Zahl durch die Behandlung um 20 Prozent von zehn auf acht relativ reduziert (RRR).

      Das Problem mit dieser Art von Beschreibung ist, dass sie zwar mathematisch und semantisch korrekt, aber zutiefst irreführend ist. Das liegt daran, dass ja beide, Patient und Arzt, vor Beginn einer Behandlung nicht wissen können, ob einem Patienten durch die Behandlung geholfen, ob er geschädigt oder gar nicht beeinflusst wird. Wenn in einem Gespräch mit einem Patienten die RRR verwendet wird, um zu beschreiben, wie wahrscheinlich es ist, dass die Therapie Erfolg hat (das heißt, es reduziert in obigem Beispiel die Chance, zu sterben, um 20 Prozent), dann haben wir die viel größere Wahrscheinlichkeit (das heißt 98 Prozent, wie wir oben berechnet haben), dass ein Patient keinen Vorteil haben wird, ignoriert.

      Personen oder Gruppen, die ein kommerzielles Gewinnmotiv haben, können so versuchen, einen Patienten in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen. An dieser Stelle wäre die NNT am wertvollsten, nämlich als Instrument zur Standardisierung der Kommunikation. Die NNT verwendet nur die ARR. Wenn Patienten und Ärzte die NNT verwenden, gibt es keine Täuschung oder Übertreibung hinsichtlich der zu erwartenden Wirkung. Hat man einmal die Berechnung und das Konzept der NNT verstanden, ist sie leicht anzuwenden. Aber so offensichtlich sinnvoll, wie die NNT ist, so wenig wird sie leider im täglichen medizinischen Alltag benutzt. Viele Ärzte sind sogar überrascht, wie hoch die NNT für die von ihnen routinemäßig verschriebenen Arzneimittel ist – obwohl doch jeder Arzt klinische Studien richtig lesen und kritisch interpretieren können sollte.

      Nun fehlt noch eine weitere Komplikation für all diese Überlegungen: der Wechsel von relativ künstlichen Studiendaten zu sogenannten Real-World-Daten, also Daten mit Relevanz für ganz normale Patienten wie Sie, nicht nur die, die für die Zulassungsstudie der Industrie handverlesen wurden. Diese Daten können naturgemäß erst nach der Zulassung in sogenannten Nachbeobachtungsstudien erhoben werden, wenn das neue Arzneimittel im täglichen Alltag eingesetzt wird, also bei „normalen“ Patienten und nicht bei denen, die für eine Zulassungsstudie der Industrie ausgewählt und hinsichtlich der Arzneimitteldosierung optimal eingestellt wurden. Unter diesen sogenannten „Real World“-Bedingungen können sich dann die Risikoreduktion (ARR) und die NNT noch deutlich verschlechtern, oft sogar so weit, dass ein neues Arzneimittel als „ohne jeglichen Nutzen gegenüber der vorher schon existierenden Standardtherapie“ nachbeurteilt und manchmal sogar, wenn zum Beispiel vorher nicht beobachtete Nebenwirkungen hinzukommen, wieder vom Markt genommen wird.

      Dies droht insbesondere dann, wenn es schon eine wirksame Therapie (ein Arzneimittel oder eine Operation) gibt. Dann muss nämlich jede neue Therapie (neues Arzneimittel oder neue Operationstechnik) einen Zusatznutzen zu der bereits bestehenden aufzeigen, entweder eine stärkere erwünschte Wirkung oder deutlich weniger unerwünschte Nebenwirkungen. Bei unseren gegenwärtig so unpräzisen Krankheitsdefinitionen, deren Ursachen meist nicht bekannt sind, weswegen in der Regel nur Symptome behandelt werden, ist das sehr schwer zu erreichen. So müssen oftmals Tausende von Patienten in eine solche Studie eingeschlossen werden, um kleinste Prozentzahlen an absolutem (!) Zusatznutzen zu zeigen. Verfolgt man nach der Zulassung des Arzneimittels, ob dieser Nutzen auch bei normalen Patienten erhalten bleibt, kann es vorkommen, dass nichts mehr von dem Nutzen übrig bleibt. Manchmal überwiegt sogar der Schaden und das Arzneimittel muss wieder vom Markt genommen werden. Kommt das selten vor? Erstaunlicherweise nein. Es ist sogar eher die Regel …

      Neue Arzneimittel meist ohne jeden Nutzen

      Mit der Reform des Arzneimittelmarktgesetzes hat Deutschland 2011 die frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel eingeführt. Ziel ist es, festzustellen, ob ein neues Arzneimittel einen Zusatznutzen gegenüber der Standardversorgung hat. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), das Hauptentscheidungsgremium in der gesetzlichen Krankenversicherung, ist für das Bewertungsverfahren zuständig und entscheidet letztlich über den Zusatznutzen. Er legt die Regelversorgung auf der Grundlage gesetzlich festgelegter Kriterien fest. Nach diesen Kriterien ist die Regelversorgung eine genehmigte und erstattete Maßnahme, für die ein Nutzen nach den Standards der evidenzbasierten Medizin (das heißt überwiegend auf der Grundlage von Studien mit patientenrelevanten Endpunkten) nachgewiesen ist.

      Der Zusatznutzen eines neuen Medikaments wird in erster Linie durch einen direkten oder geeigneten indirekten Vergleich mit der Standardversorgung anhand der Endpunkte Sterblichkeit, Krankheitshäufigkeit oder gesundheitsbezogene Lebensqualität bestimmt. Der Nachweis erfordert einen statistisch signifikanten Nutzen für patientenrelevante Endpunkte in einer randomisierten (das heißt unter Verwendung eines Zufallsmechanismus besetzten) kontrollierten Studie oder einen sehr großen Nutzen in einer nicht randomisierten Studie.

      Wenn ein neu zugelassenes Medikament auf den deutschen Markt kommt, muss die verantwortliche Arzneimittelfirma ein standardisiertes Dossier vorlegen, das alle


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