Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

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der Mordserie des Krankenpflegers Niels Högel in Oldenburg und Delmenhorst. Einem Stationsapotheker wäre sein Treiben mit Sicherheit aufgefallen. Während die Apothekerschaft den Vorstoß aus Niedersachsen begrüßt, sind die Krankenhäuser, allen voran die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), gar nicht begeistert.32 Die Regelung sei „verfassungsrechtlich sehr bedenklich“. Es wäre erstaunlich, wenn verbesserte Patientensicherheit verfassungsrechtlich bedenklich wäre. In einem Kritikpunkt hat die DKG allerdings recht. Es ist fraglich, ob man so schnell so viele qualifizierte Apotheker einstellen kann, denn das Pharmaziestudium ist in Deutschland hoffnungslos veraltet. Einen Großteil der Zeit beschäftigen sich die Pharmaziestudenten mit chemischer Analyse und Synthese sowie Pflanzenbiologie; etwas, was sie im späteren beruflichen Alltag so gut wie überhaupt nicht brauchen werden.

      Gut ausgebildete klinische Pharmazeuten kosten nicht nur Geld, sie sind auch fähig, die Symptome einer polypharmazeutischen Verordnungskaskade von denen einer neuen Erkrankung abzugrenzen. Damit entgingen dem Krankenhaus aber Mittel, denn nach dem Finanzierungsprinzip der Krankenhäuser (siehe Kapitel 6 „Falsche Anreize“) bringt jede neue Diagnose neues Geld von den Krankenkassen. Das würde nun entfallen und es würde bei Arzneimittelnebenwirkungen oder Wechselwirkungen einfach das verursachende Medikament abgesetzt oder ausgetauscht, worauf die Symptome der Neben- oder Wechselwirkung (und damit die umsatzbringende Diagnose) verschwänden. Damit würden Klinikapotheker den von der DKG getriggerten Diagnosen- und Vergütungsturbo empfindlich ausbremsen. Lediglich der Patient würde profitieren.

      Der Bundeseinheitliche Medikationsplan (BMP)33 wurde 2016 eingeführt und sollte für den ambulanten Bereich Abhilfe schaffen. Demnach hat jeder Patient, der drei oder mehr Arzneimittel verordnet bekommt, das Recht auf einen Medikationsplan. Doch dieser weist erhebliche Schwächen auf. Patientenbefragungen haben gezeigt, dass viele Patienten die Abkürzungen missverstehen. So wird „Mo“, das im BMP eigentlich für „morgens“ steht, mit „Montag“ verwechselt, „Mi“ mit „Mittwoch“ statt mit „mittags“. Auch die Bezeichnung „zN“ (zur Nacht) wird häufig nicht verstanden. 50 Prozent der Patienten hatten Verständnisschwierigkeiten und 18 Prozent verstanden den Plan auch nach Erklärung durch den Arzt nicht. Hinzu kommt, dass der Medikationsplan für Informationen zur Anwendung nur sehr wenig Platz vorsieht. Zudem wurde, was das Management des Medikationsplans betrifft, eine nicht zu begreifende Fehlentscheidung getroffen. Während die Hausapotheke der ideale Anlaufpunkt für einen solchen Medikationsplan gewesen wäre, da hier auch die Informationen zu den rezeptfrei vom Patienten gekauften Arzneimittel zusammenlaufen, wurde diese Aufgabe den Ärzten übertragen. Hat ein Patient einen Hausarzt und mehrere Fachärzte, geht die Verwirrung los und die Selbstmedikation hängt allein vom Gedächtnis des Patienten ab. Bislang sind Medikationspläne aber alles andere als verbreitet. Nur 23 Prozent der Patienten haben überhaupt einen Medikationsplan und von diesen sind nur 60 Prozent von Ärzten ausgestellt. Die restlichen haben sich die Patienten und Angehörigen selbst gefertigt. Entsprechend unterschiedlich sehen die Pläne aus. Mitunter sind Medikamente doppelt vermerkt – und werden offenbar doppelt eingenommen. Andere Medikamente, die nicht zusammen eingenommen werden sollten, sind zur gleichzeitigen Einnahme aufgeführt. Häufig sind die Einnahmezeiten und auch der Einnahmemodus (vor der Mahlzeit/nach der Mahlzeit) nicht berücksichtigt. Der geplante E-Medikationsplan könnte hier vielleicht die Lösung sein, da er von allen Beteiligten – Arzt, Apotheker und Patient – gleichermaßen einsehbar sein wird.

      Bei so vielen Problemen mit Polypharmazie und Extrakosten im stationären und ambulanten Bereich wundert man sich, warum sich die Krankenkassen nicht gegen diesen kostentreibenden Turbo wehren. Offenbar, weil viele Kassen selbst von ihm profitieren. Wir wissen das seit Herbst 2016, als dem Chef der Techniker Krankenkasse, Dr. Jens Baas, der Kragen platzte und er andere Kassen (gemeint – aber nicht explizit genannt – waren vermutlich die AOKs, die zu den einflussreichsten Playern im Gesundheitslobbyismus gehören) beschuldigte, sie hätten in den vergangenen Jahren bis zu eine Milliarde Euro in „Drückerkolonnen“ investiert, um Ärzte zu mehr und schwereren Diagnosen anzustiften. Das würde diesen Kassen ermöglichen, mehr Geld aus dem Risikostrukturausgleich abzugreifen.34 Einige Kassen, nicht jedoch alle, dementierten diese Beschuldigungen. Wie glaubwürdig diese Dementis sind, lässt sich an der Bereitschaft der Krankenkassen ablesen, Medikationsanalysen durch öffentliche Apotheken, die Verordnungskaskaden detektieren könnten, zu honorieren. Bislang Fehlanzeige.

      Doch Polypharmazie, mehr Nebenwirkungen und dadurch bedingt gelegentliche Krankenhauseinweisungen sind letztlich die geringsten Probleme, die mit „chronisch krank“ assoziiert sind. Chronisch krank zu sein macht einsam, kostet Lebensqualität und Lebensjahre, sodass in einigen Ländern die Lebenserwartung zu sinken beginnt – nicht gerade das, was wir uns vom Fortschritt in der Medizin erhoffen …

      KAPITEL 3

      100 JAHRE UND NICHTS NEUES

      Medizinisch gibt es für „chronisch krank“ oder „Chroniker“ keine einheitliche Definition. Noch nicht einmal die Dauer ist definiert.1 Ist man schon ab einem Jahr des Leidens chronisch krank? Oder doch schon ab sechs Monaten oder erst ab zwei Jahren? Eher stehen chronisch Kranke unter lebenslanger medizinischer Kontrolle und Behandlung.

      Die meisten chronischen Erkrankungen – mit nur wenigen Ausnahmen – sind nicht übertragbar, also nicht ansteckend; es handelt sich damit nicht um Infektionskrankheiten. Ansonsten können ganz unterschiedliche Organe und Körperfunktionen betroffen sein: Gelenke (zum Beispiel Arthrose, Arthritis), Herz (zum Beispiel koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz), Lunge (zum Beispiel Asthma, chronisch obstruktive Lungenkrankheit), Gehirn (psychische Störungen und Demenz), Niere (Diabetes) und im Prinzip alle Organe bei den verschiedenen Krebserkrankungen.

      Krankheiten nicht ursächlich zu verstehen und sie dadurch dauerhaft zu machen, das heißt zu chronifizieren, hat weitaus mehr Implikationen, als dass Arzneimittel dauerhaft eingenommen werden müssen oder auch als die Probleme der Polypharmazie bei mehreren Arzneimitteln. Die Zahl chronisch Erkrankter und das Ausmaß an Multimorbidität – also dem dauerhaften Leiden an mehreren Krankheiten gleichzeitig – kosten Lebensqualität, verkürzen das Leben und bilden inzwischen eine der wesentlichen Grundlagen für Strukturentscheidungen in unserem Gesundheitssystem; dies allerdings mit wenig Erfolg. Der vermeintliche Zuwachs an Lebenserwartung stagniert, ja in einigen Industrieländern sinkt die Lebenserwartung bereits und „mehr Geld“ ist offensichtlich nicht die Antwort. Die Probleme und Ursachen scheinen fundamentaler zu sein.

      Chronisch krank kostet Lebensqualität

      Dramatisch sind für chronisch Kranke und deren Angehörige oft die sozialen und familiären Konsequenzen. Denn sie haben neben dem Arzt sehr unterschiedliche Berührungspunkte mit dem Gesundheitsund Versorgungssystem, von der Pflege bis zum Sozialgericht. Diese sind meist viel häufiger und auch unerfreulicher und belastender als die eines „normalen“ Kranken. Zwar können auch ein Zuviel an Therapie und ständig wechselnde Ansprechpartner im Versorgungssystem erheblich belasten, viel dramatischer sind aber die großen Defizite zum Beispiel bei der Unterstützung psychisch erkrankter Menschen. Der Trend, die an sich erstrebenswerte Deinstitutionalisierung (das heißt die Ausgliederung behinderter Menschen aus der Verwahrung und Separierung in Heimen und Anstalten hin zu einem betreuten Alltag) auch auf psychisch Kranke auszudehnen, dies aber bei einem gleichzeitigen fatalen Mangel an parallelen, unterstützenden Maßnahmen, führt unter anderem zu hohen Arbeitslosenquoten und im Extremfall durch die Verknappung billiger Wohnungen zu Obdachlosigkeit. So treten unter Obdachlosen psychische Erkrankungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sehr viel häufiger auf. 93,2 Prozent haben im Verlauf des Lebens die Kriterien für mindestens eine psychiatrische Diagnose (Persönlichkeitsstörungen ausgenommen) erfüllt.2 Das Projekt Seewolf untersuchte, ob die Obdachlosigkeit die psychische Erkrankung verursachte oder die psychische Erkrankung die Obdachlosigkeit. Bei zwei Dritteln der Befragten bestand das psychische Leiden schon, bevor sie ihr Dach über dem Kopf verloren, im Mittel 6,5 Jahre vorher. Dies legt nahe, dass schlecht versorgte psychisch Kranke überproportional in die Obdachlosigkeit abgleiten. Auch wenn dies ein Extrembeispiel ist,


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