Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

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nur an den Symptomen herumdoktern. Wir hoffen, damit zum Beispiel bei Diabetes, erhöhtem Cholesterol, Bluthochdruck, koronarer Herzkrankheit oder Herzschwäche die lebensbedrohlichen Langzeitkonsequenzen Herzinfarkt und Schlaganfall zu verhindern.

      Wir wissen aber auch, dass diese Erkrankungen nicht ausschließlich genetisch bedingt, also fast schicksalhaft sind. Alle werden durch weitere beeinflussbare oder sogenannte Lebensstilfaktoren beeinflusst oder eventuell erst getriggert. Verschiedene Menschen tragen also unterschiedliche, wahrscheinlich genetisch oder epigenetisch (dazu später mehr) definierte Risiken in sich, deren Ausbruch sie beeinflussen können.

      Es kann natürlich sein, dass Sie so günstige Gene in sich tragen, dass Sie auch beim schlechtesten Lebensstil 100 Jahre alt werden. Und solche Beispiele kennen wir. Helmut Schmidt zum Beispiel rauchte nicht nur Zigaretten, sondern sogar inzwischen verbotene Mentholzigaretten. Er ist mir zumindest nicht als sonderlich sportlich in Erinnerung, wurde aber fast 100 Jahre alt. Sehr alt zu werden ist daher nicht zwingend die Folge einer gesunden Lebensweise. Weder ernähren sich hochbetagte Menschen gesünder noch treiben sie mehr Sport. Auch Nikotin oder Alkohol genießen sie genauso häufig. Dennoch sind solche Lebensgewohnheiten für die meisten von uns keine gute Wahl.

      Das Problem ist im Moment: Wir kennen die „Langlebig-trotzungesundem-Lebensstil-Gene“ leider noch nicht. Es ist wie bei der Wirksamkeit der Arzneimittel. Wir haben im Moment keine Chance, den Menschen herauszufiltern, dem wir sagen können: „Sie können (fast) machen, was Sie wollen, Sie werden auch so 100 Jahre alt.“

      Das Gleiche gilt aber auch umgekehrt. Es gibt auch die Hochrisikomenschen, die man von Jugend an monitoren und coachen und auf deren Lebensstil man streng achten müsste, damit sie eine normale Lebenserwartung genießen können. Ein Hinweis können im Moment ernste Erkrankungen aus der obigen 15er-Gruppe bei Eltern oder Geschwistern sein. Solche Angaben werden auch benutzt, um Risiken für zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen abzuschätzen, aber dies sind, wenn man ehrlich ist, gegenwärtig alles sehr vage und sehr unpräzise individuelle Voraussagen.

      Unbestritten ist jedoch, dass acht Risiken beziehungsweise Formen von Fehlverhalten als wesentliche Auslöser chronischer Erkrankungen gelten.2 Würden alle diese Risiken vermieden, könnten 80 Prozent der Kosten im Gesundheitssystem für chronische Erkrankungen eingespart werden. Von diesen acht sind sieben selbst zu beeinflussende Fehlverhalten (siehe Abbildung 8):

      1.Unzureichender Schlaf

      2.Zu viel Stress beziehungsweise mangelnde Fähigkeit, Stress zu vermeiden oder damit umzugehen

      3.Zu wenig körperliche Fitness

      (Ausdauer, Muskulatur und Beweglichkeit)

      4.Ungesunde Ernährung (zu viel Kalorien, zu wenig pflanzliche Nahrung, zu viel rotes Fleisch, zu viel Zucker)

      5.Übermäßiger Alkoholkonsum

      6.Rauchen

      7.Nichtnutzung medizinischer Angebote und Vorsorgeeinrichtungen

      Lediglich das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein medizinischer Angebote und Vorsorgeeinrichtungen steht außerhalb dessen, was Sie persönlich beeinflussen können. In einigen Ländern können zwei weitere Faktoren hinzukommen, nämlich mangelnde medizinische Versorgung (das sollte in Europa nirgends der Fall sein), aber auch mangelnde Vorsorge und Früherkennung oder mangelnde Nutzung solcher Angebote. Letzteres betrifft in Industrieländern, auch in Deutschland, vor allem Männer, die Vorsorgemuffel sind und derartige Screenings unterproportional nutzen.3

      Durch präventive Lebensstilveränderungen, das heißt die Vermeidung der sechs beeinflussbaren Fehlverhalten plus die Wahrnehmung von Vorsorgeangeboten, kann das Ausbrechen der 15 genannten chronischen Erkrankungen verhindert oder zumindest die Stärke der Ausbildung von Symptomen oder ihr Schweregrad beziehungsweise der gesamte Verlauf gemildert werden.4

      Abb. 8: 80 Prozent der Kosten der wichtigsten 15 chronischen Erkrankungen weltweit lassen sich durch Vermeiden von sieben Fehlverhalten (oben und rechts) und das Vorhandensein und die Nutzung medizinischer Angebote und Vorsorgemöglichkeiten (unten links) verhindern.

      Im Umkehrschluss ist das Vorkommen dieser durch Lebensstil beeinflussbaren chronischen Erkrankungen somit ein wichtiges Maß für den Gesundheitszustand einer Bevölkerung und spiegelt das Vorhandensein und die Wirksamkeit von Präventionsprogrammen wider. Konsequent umgesetzt lässt sich so mit relativ wenig finanziellem Aufwand ein großer Zugewinn an Lebenserwartung und Lebensqualität erzielen.

      Spät dran zu sein mit einer Lebensstiländerung, nämlich erst bei der Diagnose einer Erkrankung oder erst dann, wenn Symptome aufgetreten sind – so wie es bei vielen wohl ist (Mein Blutdruck ist hoch, ich müsste …; Ich muss dringend abnehmen …; Meine Bronchitis wird langsam chronisch, ich muss mit dem Rauchen aufhören …) –, bedeutet auch, dass zu diesem Zeitpunkt echte Prävention nicht mehr möglich ist. Sinnvoll sind die Lebensstilveränderungen aber dann meist immer noch. Besser spät als nie.

      Kaum echte Prävention

      Wie sieht es denn nun aus mit Angebot, Finanzierung und Nutzung von Prävention? Gegenwärtig bezieht sich Prävention fast gar nicht auf den Lebensstil, sondern im Wesentlichen auf Impfungen gegen diverse bakterielle und virale Erreger. Wir erinnern uns, dass die Kontrolle von Infektionskrankheiten nach wie vor der wesentliche Faktor unseres Gewinns an Lebenserwartung darstellt. Hinzu kommt im Alter ein kleines Set an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, die eigentlich nicht mehr als Vorsorge zu bezeichnen sind, da sie ja in der Regel auf das Erkennen eines Frühstadiums eines bereits vorhandenen Tumors ausgerichtet sind. Im wichtigen Alter von 18 bis 35 Jahren, dann, wenn echte Prävention wirklich Sinn machen würde, besteht eine große Lücke. Erst wieder ab 35 Jahren besteht alle drei Jahre das Angebot eines allgemeinen Check-ups (Herz, Kreislauf, Diabetes, Niere, Blutbild). Ab 65 gibt es dann eine Ultraschalluntersuchung zur Früherkennung einer gefährlichen Erweiterung der Bauchschlagader (Aneurysma).

      Im Wesentlichen sind das also alles Impfungen und Früherkennung von Krebs, wobei Männer wie schon gesagt etwas vorsorgefauler sind als Frauen, die allein schon aufgrund der Verpflichtung zu einer körperlichen Untersuchung im Rahmen der Verschreibung der Pille gesundheitlich besser überwacht sind. Bleiben nur die Check-ups beim Hausarzt und die gelegentlichen Besuche beim Zahnarzt (für das Zahnarzt-Bonusheft). Und was bewirken die …?

      Check-ups beim Hausarzt nutzlos

      Die sind überraschenderweise nutzlos. Aber von vorne. Gesundheits-Checks müssen, um sinnvoll zu sein, Krankheitsraten senken und das Leben verlängern. Man möchte meinen, dies sei selbstverständlich, gibt es doch viele theoretische Vorteile. So müsste doch die Erkennung erhöhter Risikofaktoren wie Bluthochdruck oder Cholesterol durch Behandlung zu einer Verringerung der Morbidität und Mortalität führen (na ja, wir hatten ja eigentlich schon besprochen, wie wirksam das ist). Einige Tests können Vorläufer von Krankheiten wie zum Beispiel Krebsvorstufen am Gebärmutterhals aufdecken, deren Behandlung die Entstehung von Krebs verhindern kann. Generell müsste es vorteilhaft sein, Anzeichen oder Symptome einer manifesten Krankheit zu erkennen, die die Person nicht wahrgenommen oder nicht für wichtig erachtet hatte. Manche Menschen verbessern möglicherweise aufgrund von Testergebnissen und Beratung ihren Lebensstil und gesunde Menschen könnten sich beruhigt fühlen.

      Aber wie immer ist es besser, man hat Daten. 2012 veröffentlichte die Nordic Cochrane Collaboration eine Meta-Analyse hierzu.5 Es wurden 17 verschiedene Studien mit insgesamt 251.891 nach Zufallsmethoden ausgewählten beziehungsweise zugeordneten Teilnehmern eingeschlossen, in denen Erwachsene mit und ohne Check-ups verglichen wurden. Studien an sehr alten Patienten wurden nicht berücksichtigt, da ja Vorsorge und nicht Nachsorge untersucht werden sollte. Als Gesundheits-Check wurde


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