Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

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man so etwas überhaupt untersuchen? Ist das nicht offensichtlich sinnvoll? Es wird doch auch überall empfohlen.“ Zudem lassen alle, die Sie kennen, das vermutlich auch bei sich machen. Wie so oft in der Medizin lohnt es sich auch hier, Dogmen zu hinterfragen19 und nicht lockerzulassen, bis Evidenz vorgelegt wird oder nicht.

      Tatsächlich fehlen zuverlässige Belege, welche der möglichen zahnärztlichen Vorsorgemaßnahmen – Mundhygiene-Ratschläge zur Selbstpflege oder professionelle Zahnreinigung und Politur – wirksam und kosteneffektiv sind.20 Dies nahm sich die „Improving the Quality of Dentistry“-Studie (IQuaD) vor21; auf Deutsch die „Verbesserung der Qualität der Zahnmedizin“-Studie. Es war eine bahnbrechende Studie und die größte, die jemals in der Zahnmedizin durchgeführt wurde. Sie war nicht zurückschauend und auf Korrelationen angewiesen (siehe oben), sondern vorausschauend und hatte zum Ziel, herauszufinden, ob zahnärztliche Mundhygiene-Ratschläge zur Selbstpflege beziehungsweise die professionelle Zahnreinigung und Politur funktionieren und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis bieten. Überraschenderweise machte es jedoch nach drei Jahren keinerlei Unterschied bezüglich der Zahnfleischgesundheit, ob vorher professionelle Zahnreinigungen alle sechs oder zwölf Monate oder gar nicht durchgeführt wurden. Es gab sogar keinen Nutzen der Mundhygiene-Ratschläge zur Selbstpflege. Diese Ergebnisse wurden später nochmals bestätigt22, haben aber in deutschen Behandlungsleitlinien keinen Niederschlag gefunden.

      Weil diese Daten die gesamte bisherige zahnärztliche Routinepraxis fundamental infrage stellten, wurde die noch größere INTERVAL-Studie initiiert, die nun über vier statt drei Jahre angelegt ist.23 Warten wir es ab … Bis dahin gehe ich persönlich noch alle zwölf Monate zum zahnärztlichen Check-up. Bezüglich professioneller Zahnreinigungen und Politur werde ich mich allerdings erst einmal zurückhalten.

      Was aber könnte nun echte zahnärztliche Prävention darstellen, wenn der regelmäßige Besuch nur bedingt Sinn macht und Zahnsteinentfernung und Polieren zumindest über drei Jahre gesehen keinen? Zudem sind all diese Maßnahmen keine echte Prävention, sondern – wie schon in der allgemeinärztlichen Routine – lediglich Früherkennung und Behandlung einer der chronischen Erkrankungen Karies und Parodontitis.

      Wollten wir echte Prävention, müssten wir ganz woanders ansetzen, nämlich bei der Bekämpfung der Hauptursache Zucker, der globalen Zuckerindustrie und deren ausgefeilten Unternehmensstrategien zur Förderung des Zuckerkonsums.24 Als die Zuckerindustrie die Rolle von Zucker bei Zahnkaries angesichts der wissenschaftlichen Beweise nicht mehr leugnen konnte (wir fühlen uns an die Tabakindustrie erinnert), entwickelte sie eine nahezu globale Strategie. Um zu vermeiden, dass der Konsum von Zucker eingeschränkt würde, sollte die Aufmerksamkeit auf Interventionen im Bereich der öffentlichen Gesundheit gelenkt werden. Zu den Taktiken gehörte in Zusammenarbeit mit verbündeten Lebensmittelindustrien die Finanzierung von Forschungsarbeiten mit fragwürdigem Potenzial, zum Beispiel über Enzyme zum Abbau von Zahnbelag und ein eher als grotesk einzustufendes Projekt, einen Impfstoff gegen Karies zu entwickeln. Daneben etablierte die Zuckerindustrie in vielen Ländern intensive Beziehungen zu zahnärztlichen Berufsverbänden und den Mitgliedern zahnärztlicher Expertengremien.

      In Deutschland beeinflusst die Zuckerindustrie zahnmedizinische Forschung und Mundgesundheitspolitik zum Beispiel über die „Wirtschaftliche Vereinigung Zucker e.V.“ (WVZ), die zentrale Lobbyorganisation der Zuckerindustrie in Deutschland.25 Unter dem Deckmantel einer unabhängigen wissenschaftlichen Aufklärungskampagne betreibt die Zuckerlobby zum Beispiel den Tarnverein „Informationskreis Mundhygiene und Ernährungsverhalten“ (IME).26 Nach dem Motto, Zucker sei keinesfalls Hauptverursacher von Karies, man müsse sich nur gut die Zähne putzen, bietet der IME Aktionsspiele für Kindergärten an.27 In der „Schmeckt richtig“-Broschüre des WVZ, einem Weißbuch für Zucker, wird behauptet, man könne Zucker unbedenklich essen, entscheidend sei nur die Energiebilanz.28

      Wollen wir also echte zahngesundheitliche Prävention, ist es daher dringend notwendig, den Einfluss der Zuckerindustrie auf Forschung, Politik und Praxis einzudämmen, zum Beispiel durch klare und transparente Richtlinien. Die Zuckerindustrie zu beraten oder von ihr Geld zu empfangen muss eine Mitgliedschaft in zahnärztlichen Leitlinien-Kommissionen streng ausschließen. Bis das Realität wird, können Sie und Ihre Familie aber schon einmal anfangen, weniger Zucker zu essen. Damit tun Sie nicht nur Ihren Zähnen Gutes …

      Diabetes und der Zuckerskandal

      Der zusätzlich zur Zahngesundheit bestehende und noch wichtigere Zusammenhang von Zuckerkonsum mit Diabetes mellitus und seinen lebensbedrohlichen Herz-Kreislauf-Komplikationen ist nämlich inzwischen zweifelsfrei bewiesen. Doch es dauerte lange, sehr sehr lange, bis dies in der Ärzteschaft akzeptiert war. Alles begann mit einem der größten Wissenschaftsskandale aller Zeiten29, der zudem viele Menschenleben gekostet hat.

      Er hängt eng zusammen mit der renommiertesten Universität der Welt, der Harvard University in Boston, USA, und wieder mit der Zuckerindustrie, die es schaffte, bezüglich der ernährungsbedingten Gründe für die nach dem 2. Weltkrieg stark zunehmenden Herz-Kreislauf-Toten vom Zucker auf Fett abzulenken. Die Enthüllungen sind wichtig, weil die Debatte über den relativen Schaden von Zucker und gesättigten Fetten bis heute andauert. Über Jahrzehnte hinweg ermahnten daraufhin Mediziner die Bevölkerung, ihre Fettaufnahme zu reduzieren, was viele Menschen dazu veranlasste, fettarme, aber – und was viele nicht wissen oder nicht beachten – gleichzeitig extrem zuckerreiche Lebensmittel zu konsumieren. Diese sind die eigentliche Ursache der Fettleibigkeits- und Diabeteskrise.

      Aber von vorne. Aufgedeckt wurde der Skandal durch eine Publikation in der Zeitschrift der American Medical Association.30 Sie stützte sich auf Tausende Seiten Korrespondenz und andere Dokumente in den Archiven der Harvard University und anderen Bibliotheken.

      In den 1950er-Jahren traten vor allem bei Männern vermehrt koronare Herzkrankheit und Herzinfarkt auf. Dies veranlasste Studien, ob Ernährungskomponenten hierbei eine wichtige Rolle spielen könnten, darunter Cholesterol, übermäßige Kalorien, Aminosäuren, Fette, Kohlenhydrate, Vitamine und Mineralstoffe. In den 1960er-Jahren hatten zwei prominente Mediziner sich widersprechende Hypothesen zu den Ursachen entwickelt: John Yudkin (Autor des visionären Buchs „Pure, white and deadly“) identifizierte zuckerreiche Ernährung als ursächlich für die hohen Raten von Herzkrankheiten.31 Demgegenüber postulierte Ancel Keys32, Gesamtfett, gesättigtes Fett und Cholesterol seien dafür verantwortlich.

      John Hickson, ein leitender Angestellter der Zuckerindustrie, schlug anderen Firmen derselben Branche einen Plan vor, den alarmierenden Erkenntnissen über Zucker mit industriefinanzierter Forschung entgegenzuwirken, um so die öffentliche Meinung durch Informationsund Gesetzgebungsprogramme zu verändern. 1965 beauftragte Hickson die Harvard-Forscher D. Mark Hegsted, der später Leiter der Abteilung für Ernährung im Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten wurde, wo er 1977 am Entwurf des Vorläufers der Ernährungsrichtlinien der Bundesregierung mitwirkte, und Fredrick J. Stare, den Vorsitzenden der Ernährungsabteilung von Harvard, einen Übersichtsartikel zu schreiben, der die Anti-Zucker-Studien entlarven sollte. Eine Übersichtsarbeit sollte es sein, weil diese – insbesondere, wenn sie in so renommierten (sogenannten „high-impact“) medizinischen Zeitschriften wie dem New England Journal of Medicine erscheinen – die gesamte wissenschaftliche Diskussion prägen beziehungsweise den Stand der Wissenschaft definieren.33 Hickson überwies Hegsted und Stare (ich möchte sie an dieser Stelle nicht mehr Wissenschaftler nennen) insgesamt 6.500 US-Dollar, was heute etwa 50.000 US-Dollar entspricht. Das Geld stammte von einer Handelsgruppe namens Sugar Research Foundation, die heute als Sugar Association bekannt ist. Erst 1984 begann zum Beispiel das New England Journal of Medicine damit, von Autoren zu verlangen, Zahlungen an sie oder ihre Arbeitsgruppen offenzulegen.

      Hickson wählte selbst die Publikationen aus, die besprochen werden sollten, und machte deutlich, dass er wollte, dass das Ergebnis den Zucker „freispricht“. Hegsted beruhigte die Zuckerindustrie-Führungskräfte. „Wir sind uns Ihres besonderen Interesses sehr wohl bewusst“, schrieb er, „und werden darüber so gut wie möglich berichten.“ Während sie an ihrem Artikel arbeiteten,


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