Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt

Geheilt statt behandelt - Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt


Скачать книгу
aber kaum kommunizierte Ergebnis war, dass Gesundheits-Checks nur geringe oder keine Auswirkungen auf die Gesamtmortalität oder die Krebssterblichkeit haben und wahrscheinlich nur geringe oder keine Auswirkungen auf die Herz-Kreislauf-Sterblichkeit (also tödlicher Herzinfarkt oder Schlaganfall). Daher sind allgemeine Check-ups, jedenfalls so, wie sie heutzutage mit den vorhandenen Mitteln durchgeführt werden, wahrscheinlich nicht von Vorteil. Sie sind also mehr ein Ritual zur Gewissensberuhigung.

      Ein Kritikpunkt an dieser sehr großen Analyse war, dass sie einen großen Zeitraum abdeckte und daher alte Daten aus Zeiten, als im Anschluss an die Check-ups eventuell inzwischen veraltete und wenig wirksame Arzneimittel verschrieben wurden, die Aussagen verfälschten. Daher wurde anschließend noch die „Inter99“-Studie über die Wirkung von Gesundheits-Checks in einem modernen Umfeld durchgeführt. Hier wurden Check-ups zusätzlich mit einem individuell zugeschnittenen Interventionsprogramm, Screening auf das Risiko für eine Herzerkrankung und Lebensstilintervention über fünf Jahre kombiniert. Ergebnis nach zehn Jahren: keinerlei Einfluss auf Herzerkrankungen, Schlaganfall oder Sterblichkeit.6

      Was könnten die Gründe sein? Sehr wahrscheinlich ist, dass die Menschen, die überhaupt eine Einladung zu einem Gesundheits-Check annehmen, gesundheitsbewusster sind, tendenziell einen höheren sozioökonomischen Status, ein geringeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eine geringere Sterblichkeit haben. Systematische Gesundheits-Checks erreichen daher möglicherweise diejenigen, die am meisten Prävention benötigen, überhaupt nicht; ein Phänomen, das als „inverse Versorgung“ bezeichnet wird, das heißt, diejenigen, die die Versorgung benötigen, nutzen sie nicht, und diejenigen, die diese kaum benötigen, nutzen sie.7

      Insofern ist große Skepsis gegenüber der jetzigen Check-up-Praxis angesagt. Zudem sind die Möglichkeiten, Messwerte zu erzeugen, fast unbegrenzt: Stoffwechsel-, Hormon-, Ganzkörper-Scans und vieles mehr stehen technisch zur Verfügung, werden angepriesen und durchgeführt, inzwischen auch als durchaus lukrative „Individuelle Gesundheitsleistungen“ – kurz IGeL. Das sind Leistungen, für welche die Krankenkassen in der Bundesrepublik nicht leistungspflichtig sind, die also privat gezahlt werden. Wären sie evidenzbasiert und hätten einen klaren Nutzen, müssten sie von den Krankenkassen übernommen werden. Die allerwenigsten dieser Maßnahmen erfahren eine wissenschaftliche Begleitung und ein Benefit für die Untersuchungsteilnehmer ist häufig – vorsichtig ausgedrückt – unklar.

      Die Tatsache, dass allgemeinärztliche Routine-Check-ups, zumindest für die ohnehin schon gesundheitsbewusste Patientengruppe, die diese gegenwärtig in Anspruch nimmt, keinen deutlichen Nutzen haben, heißt natürlich nicht, dass Ärzte generell Tests und Vorsorgemaßnahmen einstellen sollten, wenn ein Verdacht auf eine Erkrankung besteht. Ein Grund für den fehlenden Nutzen regelmäßiger Check-ups könnte sein, dass gesundheitsbewusste Patienten schon bei den ersten Anzeichen einer Erkrankung den Arzt aufsuchen und deshalb bei einem späteren Check-up nichts mehr Neues zu finden ist.

      Eine Arztgruppe muss aber noch separat erwähnt werden, da diese eigene Check-ups anbietet: die Zahnärzte. Sie als Leser und auch ich hätten hier erwartet, dass diese Form von Check-up beim Zahnarzt über jeden Zweifel erhaben ist. Doch Sie werden so überrascht sein wie ich, als ich zum ersten Mal die Studien hierzu las, die das scheinbar Selbstverständliche sicherheitshalber überprüfen wollten.

      Check-ups beim Zahnarzt nutzlos

      Obwohl Erkrankungen der Zähne weitgehend vermeidbar wären, bestehen sie unvermindert fort. Weltweit am häufigsten und folgenreichsten sind Karies, Parodontitis und Zahnverlust. Wie kann es sein, dass diese trotz aller Früherkennungs- und Therapiemaßnahmen nicht deutlich zurückgehen? Zahnärzte tun sich mit echter Prävention schwer und setzen zu sehr auf Therapie.8 Unklar ist, woran das liegt: an den Zahnärzten selbst (Muss Prävention stärker in der Ausbildung von Ärzten beziehungsweise von zahnmedizinischen Fachangestellten verankert werden?), an der unterschiedlichen Honorierung oder auch an beratungsresistenten Patienten? Wesentliche Risikofaktoren sind auch hier wieder – wie bei den allgemeinärztlichen chronischen Erkrankungen (siehe Abbildung 10) – Ernährung (vor allem Zuckerkonsum), Alkohol- und Tabakkonsum.

      Seit Pierre Fauchard 1746 festlegte9, man müsse alle sechs Monate zum Zahnarzt gehen, ist dies quasi in Stein gemeißelt und ein Eckpfeiler zahnärztlicher Praxis.10 Auch wenn die Empfehlungen bezüglich der optimalen Intervalle von Land zu Land leicht unterschiedlich sind, empfiehlt doch die Mehrzahl aller Zahnärzte daher halbjährliche Besuche zur visuellen Untersuchung und Sondierung, die von den Krankenkassen übernommen werden, um Karies zu entdecken und zu behandeln, sowie eine kostenpflichtige Zahnsteinentfernung und Zahnpolitur, um Parodontose vorzubeugen.

      Erstaunlicherweise gibt es aber keinerlei wissenschaftliche Evidenz, ob diese Routine einen Patientennutzen bringt und ob nicht längere Abstände, zum Beispiel jährlich oder zweijährlich, auch genügen würden.11 Es existieren im Wesentlichen Korrelationen, dass zum Beispiel Kinder, die nur dann zum Zahnarzt gehen, wenn sie Probleme haben, mehr kariöse und gefüllte Zähne haben als Kinder, die regelmäßig zum Zahnarzt gehen, auch ohne Symptome zu haben.12 Auch werden regelmäßigen Zahnarztgängern weniger Zähne gezogen als denjenigen, die nur bei Problemen zum Zahnarzt gehen.13 Auf den ersten Blick klingt es ja auch plausibel, dass diejenigen, die schon vor dem Auftreten von Symptomen zum Routine-Check-up zum Zahnarzt gehen, weniger Zahnerkrankungen haben. Aber Vorsicht! Dies ist nur scheinbar so.

      Es ist einer der größten Fehler, der immer wieder in der Medizin gemacht wird, aus zurückschauenden Korrelationen vorwärtsschauende Schlussfolgerungen über Ursachen und Wirkungen zu ziehen. Genauso wie jede andere chronische, durch ungesunden Lebensstil negativ beeinflusste oder verstärkte Erkrankung weist Mundgesundheit dasselbe soziale Gefälle auf.14 Wohlhabende und sozial Bessergestellte leiden weniger unter Zahnerkrankungen als ärmere und am stärksten benachteiligte Gruppen. Menschen in höheren sozioökonomischen Schichten melden sich auch eher bei einem Zahnarzt an und gehen, auch wenn sie keine Symptome haben, zu zahnärztlichen Check-ups.15 Somit könnte die Korrelation zwischen dem Gang zum Zahnarzt und einem niedrigeren Krankheitsrisiko einfach nur ein soziales oder Bildungsphänomen sein und eher auf generelle Unterschiede im Lebensstil und gesündere, das heißt zum Beispiel zuckerärmere Ernährung, als auf die Wirksamkeit zahnmedizinischer Check-ups zurückzuführen sein.

      Selbst wenn die präventiven Zahnarztbesuche sinnvoll wären, stellt sich immer noch die Frage, ob es der übliche sechsmonatige Abstand sein muss oder auch längere Abstände genügen würden. Die Debatte über die angemessene Intervalldauer zwischen den zahnärztlichen Kontrolluntersuchungen für Patienten in der Primärversorgung wurde erstmals 1977 angestoßen.16 Entscheidend ist ja für den Zahnarzt, zu erkennen und zu intervenieren, bevor Karies unumkehrbar in das Dentin (Zahnbein) fortschreitet. Je nachdem, wie tief Karies im Zahnschmelz sitzt, dauert dies bis zu drei Jahre.17 Zusätzlich gibt es Schwankungen zwischen verschiedenen Patienten und alle Zahnärzte sind auch nicht gleich sorgfältig dabei. Aus alledem ergaben sich Optima für den Zahnarzt-Check-up, die von 13 Monaten bis zu zehn Jahren (!) reichten. Alle sechs Monate war aber in jedem Fall viel zu häufig und unnötig. Sowohl bei Kindern mit Milchzähnen als auch bei Jugendlichen mit bleibenden Zähnen scheint im Schnitt ein zahnärztlicher Check-up alle zwei Jahre optimal. Angesichts der Dauer dieser Debatte und der potenziellen Auswirkungen einer Änderung der Untersuchungsintervalle auf die Kosten und Ergebnisse in der zahnärztlichen Gesundheitsversorgung ist es schwer zu verstehen, dass es nur wenige qualitativ hochwertige und verlässliche Studien hierzu gibt. Die bisher größte multizentrische, randomisierte, kontrollierte „INTERVAL“-Studie soll hierzu etwas mehr Klarheit bringen18, ist aber noch nicht veröffentlicht.

      Anders ist dies bei der zweiten zahnärztlichen Routinemaßnahme, die im Unterscheid zum Check-up in der Regel privat zu zahlen ist, der professionellen Zahnreinigung mit anschließender Politur. Fast die Hälfte der Erwachsenen zeigt Anzeichen einer Zahnfleischerkrankung (Parodontitis), die damit weltweit die häufigste chronische Erkrankung ist – mit erheblichen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen. Sie denken sich jetzt bestimmt, dass die professionelle


Скачать книгу