Geheilt statt behandelt. Prof. Dr. Harald Prof. Dr. Schmidt
Rest der Bevölkerung merkt hiervon allerdings wenig, denn chronisch krank zu sein macht einsam und Einsamkeit hält eine Erkrankung aufrecht oder verstärkt sie.3 Das Risiko der Vereinsamung und sozialen Isolation, zum Beispiel durch Krankheit, hat zudem vielfach ökonomische Ursachen beziehungsweise diese erhöhen das Risiko. Der Anteil an Personen mit wenigen oder keinen sozialen Beziehungen steigt mit fallendem Einkommen. Menschen im unteren Einkommensbereich sind sehr viel weniger in soziale Beziehungsnetzwerke eingebunden als die Durchschnittsbevölkerung.4 Chronische Erkrankungen haben also einen dramatischen bis existenziellen Einfluss auf Lebensqualität und Lebensfreude, was an sich inakzeptabel für unsere Solidargemeinschaft sein sollte – aber leider reichen die Auswirkungen noch weiter …
Chronisch krank verkürzt das Leben
Sie könnten sich fragen: Wieso verkürzt chronisch krank zu sein das Leben, wenn doch unsere Hightechmedizin so viel erreicht hat, insbesondere eine immer weiter steigende Lebenserwartung beziehungsweise sinkende Sterblichkeit? Darüber liest man doch allenthalben. In der Tat sind zumindest in relativ hoch entwickelten Ländern seit 1900 die Sterblichkeit deutlich gesunken und die Lebenserwartung gestiegen (Abbildung 6). Wir sind also gesünder und leben länger. Aber! Worauf ist dies zurückzuführen? Zum allergrößten Teil ist dies ein Ergebnis dessen, dass wir Infektionen vermeiden oder, wenn es zu einer Infektion gekommen ist, diese wirksam behandeln können. Hierzu haben drei Komponenten beigetragen:
1.bessere Hygiene,
2.die Möglichkeit, sich impfen zu lassen, und
3.im Falle einer Infektion Antibiotika.
Rechnet man den Anteil dieser drei Maßnahmen und Therapien heraus, bleibt nicht mehr viel übrig von medizinischer Innovation, eigentlich nichts. Einige Todesursachen haben an Bedeutung verloren, andere – insbesondere diejenigen, die durch chronische Erkrankungen verursacht sind – spielen dafür eine größere Rolle. Rechnet man den Effekt, Infektionen wirksamer vermeiden oder behandeln zu können, heraus, bleibt überraschenderweise seit 1900 keine Verbesserung der Sterblichkeit beziehungsweise Lebenserwartung übrig.5 Der Rückgang der Mortalität durch Infektionskrankheiten verlief parallel zum Rückgang der Gesamtmortalität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Sterblichkeitsrate durch alle sonstigen, nicht infektiösen Ursachen ist erstaunlicherweise seit 1900 konstant, lediglich mit einigen kleinen Schwankungen von Jahr zu Jahr. Wann immer es einen Anstieg der Gesamtsterblichkeit gab, dann erfolgte er im Allgemeinen in denselben Jahren, in denen auch die Sterblichkeitsrate durch Infektionskrankheiten zunahm. Jetzt könnten Sie denken: Wenn Menschen älter werden, kommen neue Erkrankungen wie zum Beispiel Krebs oder Alzheimer hinzu, die dann auch wieder zur Sterblichkeit beitragen. Oder: Früher haben die Menschen keinen Krebs gehabt, weil sie gar nicht so alt wurden, um ihren Krebs zu erleben. Das stimmt jedoch nicht; die Form dieser Kurven ändert sich wenig, wenn die Daten altersbereinigt an die Bevölkerung des Jahres 2000 angepasst werden. Auch die Anpassung der Daten zur Berücksichtigung von Änderungen in der Krankheitsklassifikation (also zum Beispiel weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen, dafür mehr Lungenerkrankungen und Krebsarten) führt nur zu einer geringen Änderung der allgemeinen Form der Kurve.
Abb. 6: Die Sterblichkeitsraten für alle Ursachen (gestrichelte Linie), nicht infektiöse Ursachen (durchgehende Linie) und Infektionskrankheiten (gepunktete Linie) in den USA von 1900 bis 1996.
Die Mortalität durch Infektionskrankheiten ging in den ersten acht Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von 1900 bis 1980 deutlich zurück. Der Rückgang wurde allerdings jäh durch einen katastrophal starken Anstieg der Sterblichkeitsrate unterbrochen, der durch die sogenannte Spanische Grippe von 1918 verursacht wurde. Von 1938 bis 1952 war der Rückgang der Sterblichkeit pro Jahr besonders rasant. Im gesamten 20. Jahrhundert waren Lungenentzündungen und Grippe (Influenza) für die Mehrzahl aller Todesfälle durch Infektionskrankheiten verantwortlich, nach 1945 aber kaum noch Tuberkulose und Lungenentzündungen und Grippe deutlich weniger. In den 1980er- und frühen 1990er-Jahren kam das Auftreten von AIDS hinzu; Ende 1997 erinnerte ein Ausbruch der Vogelgrippe in Hongkong durch den Virusstamm H5N1, von dem bisher nicht bekannt war, dass er Menschen infizieren könnte, daran, dass die pandemische Virusgrippe weiterhin eine Bedrohung darstellt.6 Während sich viele asiatische Staaten daraufhin auf einen ähnlichen Ausbruch mit Vorbeugungs- und Pandemiebekämpfungsszenarien vorbereiteten7, versäumten dies fast alle anderen Länder, was sich ab 2019 in der durch den SARS-CoV-2-Virus verursachten Covid-19-Pandemie rächen sollte.
Zur Prävention komme ich später. Zunächst möchte ich noch festhalten, dass trotz aller vermeintlichen Errungenschaften der Medizin seit 1900 die Sterblichkeit – mit Ausnahme der Todesfälle durch Infektionskrankheiten – nicht (!) gesunken ist. Einige Todesursachen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind in den Hintergrund gerückt, andere, wie Lungen- und Tumorerkrankungen, spielen nun eine größere Rolle; so resultiert im Mittel und als Endergebnis kein Gewinn an Lebenserwartung. Aber es kommt leider noch schlimmer, wenn man nämlich über den Zeitpunkt 1999 hinaus in das 21. Jahrhundert schaut …
Die Sterblichkeit steigt
Nicht nur, dass seit 2000 die Lebenserwartung stagniert, sie beginnt in einigen Industrieländern sogar zu sinken. Die USA und Großbritannien sind hierbei die unrühmlichen „Vorreiter“, aber es wird nicht lange dauern, bis diese Entwicklung auch andere europäische Länder einschließlich Deutschland treffen wird. In den USA ist die Lebenserwartung 2019 im dritten Jahr in Folge zurückgegangen.8 Diese Veränderung machte den jahrzehntelangen medizinischen Fortschritt bei der Verminderung der Sterblichkeit – auch wenn dieser im Wesentlichen auf das enge Gebiet der Hygiene bei Infektionskrankheiten, Impfungen sowie Antibiotika zurückgeht – zunichte.
Die Ursachen hierfür sind teilweise USA-spezifisch. Ein wesentlicher Grund für frühe Todesfälle dort ist nämlich die relativ einzigartige Krise durch die verantwortungslose Verschreibung stark wirksamer Schmerzmittel (die in Deutschland alle unter das Betäubungsmittelgesetz fallen und wesentlich besser reguliert sind), aber auch durch chronischen Alkoholmissbrauch, Selbstmorde, Fettleibigkeit, Diabetes, Bluthochdruck und andere chronische Erkrankungen. Die USA leisten sich zwar das teuerste Gesundheitswesen der Welt, die Bevölkerung ist aber nicht gesünder als anderswo. Im Gegenteil, bezüglich der Lebenserwartung sind die USA im Vergleich zu anderen Industrieländern unteres Mittelmaß.
Erstmals 2013 wurde in Großbritannien bemerkt, dass sich der Anstieg der Lebenserwartung zu verlangsamen begann. 2019 wurde zum ersten Mal in 100 Jahren beobachtet, dass Großbritanniens Einwohner früher zu sterben begannen. Großbritannien hat aktuell die schlechtesten Gesundheitstrends in ganz Westeuropa. Ältere Menschen, Arme und Neugeborene sind am stärksten betroffen. Männer im Alter von 65 Jahren werden mit 86,9 Jahren sterben, früher als bisher mit 87,4 Jahren; Frauen, die heute 65 Jahre alt sind, werden wahrscheinlich mit 89,2 Jahren sterben, ein Rückgang von den bisherigen 89,7 Jahren. Mit anderen Worten: Die Lebenserwartung von Menschen, die ins Rentenalter eintreten, ist um circa sechs Lebensmonate gesunken. Nun könnten Sie denken, dass die Menschen einfach den Höhepunkt ihrer Langlebigkeit erreicht haben. Man könne ja nicht erwarten, dass die Lebenserwartung ewig zunimmt. Den aktuellen Zahlen aus den USA und Großbritannien steht aber gegenüber, dass die Lebenserwartung an vielen anderen Orten der Welt, darunter zum Beispiel Hongkong, das chinesische Festland, Japan und Skandinavien, nicht sinkt und weit über dem Niveau Großbritanniens liegt.
Und Deutschland? Es gibt keinen Grund, sich als Deutscher beruhigt und stolz auf die Schulter zu klopfen. Innerhalb Europas hat Deutschland neben der Schweiz das teuerste Gesundheitswesen. Trotzdem nimmt Deutschland bei der Lebenserwartung im europaweiten Vergleich einen Platz im hinteren Drittel ein; und das gilt auch für die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt.
Noch sind die Zustände in Deutschland nicht wie in den USA. Dort leben ja auch Millionen Menschen ohne Krankenversicherung