YOLO. Paul Sanker

YOLO - Paul Sanker


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der Vermieter im Haus aufkreuzte. Doch nun hatte der Mann ihn erwischt.

      »Herr Wanker, ich mache es kurz.« Braun entnahm der Innentasche seines Jacketts einen Briefumschlag und hielt ihn Henrik entgegen. »Sie sind zwei Monate mit Ihren Mietzahlungen in Verzug.«

      Henrik starrte den Umschlag an, als ob der Milzbrandsporen enthielte. »Herr Braun, es ist mir … es tut mir so leid«, stotterte er. »Meine liebe Mutter musste ins Krankenhaus – schwere Lungenentzündung, die Arme. Der rechte Lungenflügel wurde entfernt. Sie glauben gar nicht, was das alles kostet, diese Arztrechnungen für die Medikamente Penicillin, Aspirin, Kodein und Kokain …«

      »Kokain?« Das Gesicht des Vermieters nahm einen misstrauischen Ausdruck an.

      Henrik redete unbeirrt weiter. »Deshalb hatte ich sogar einen Nebenjob als Zeitungsausträger für ›die Bäckerblume‹ angenommen. Nacht für Nacht habe ich Zeitungen verteilt, bis ich endlich auch das Geld für die ausstehende Miete zusammenhatte.« Henrik schnäuzte gerührt in sein Taschentuch und betrachtete interessiert das Ergebnis, ehe er fortfuhr: »Und dann wurde ich letzte Nacht, kurz vor Ende meiner Tour, von der Russenmafia überfallen.«

      »Russenmafia«, echote Braun.

      »Vielleicht waren es auch Rumänen. Jedenfalls umzingelten mich fünf Kerle – alle Bodybuilder. Zwei konnte ich in die Flucht schlagen, doch die übrigen haben mir von hinten einen Baseballschläger übergezogen. Dann wurde ich besinnungslos. Oh, es hat sooo wehgetan.« Henrik schluchzte jammervoll in sein Taschentuch.

      Herr Braun schien davon wenig beeindruckt zu sein. »In zwei Tagen ist die ausstehende Miete auf meinem Konto oder ich lasse die Wohnung räumen. Guten Tag!« Er warf den Umschlag in den Korridor hinein, drehte sich auf dem Absatz um und stieg eilig die Treppe hinab.

      Henrik bückte sich mühsam, hob den Brief auf und riss missmutig den Umschlag auf. Wo sollte er bloß die darin abverlangten siebenhundert Euro hernehmen?

      Übers Geländer spähte er vorsichtig ins Treppenhaus hinunter. Als er sicher war, dass Braun das Haus verlassen hatte, schrie er: »Verpiss dich, du aufgeblasener Schwachmat!« Danach war ihm wohler.

      Er schlug die Tür hinter sich zu und setzte sich auf die Couch, um nachzudenken, was durchaus nicht einfach war, denn sein Schädel brummte schlimmer als je zuvor. Er musste unbedingt seine Mutter besuchen, um an Geld zu kommen.

      Aber etwas anderes war noch viel wichtiger. Doch was war das gewesen? Wenn er nur endlich wieder hätte klar denken können … Diese verfluchten Kopfschmerzen und diese Übelkeit! Henrik versuchte, sich zu konzentrieren.

      Was, um Himmels willen, lief hier nicht richtig? Irgendetwas hakte ganz gewaltig und war systemisch absolut nicht korrekt.

      Und dann – schlagartig – wurde ihm bewusst, was nicht stimmte: Die Geschichte mit dem Schattenmagier und dem magischen Armreif waren Dinge, die sich im Game abspielten, im Kingdom of Fantasy.

      Aber das Tattoo am Arm des Gothics war ganz klar Real Life, ebenso die Nachricht des verdammten Magiers auf dem Anrufbeantworter.

      Die Grenzen von Realität und Spiel schienen allmählich zu verschwimmen. Was bedeutete das?

      Am Abend saß er dann wieder versöhnt mit Tobi zusammen im Türkenimbiss um die Ecke. Tobi schlang gierig und mit Appetit seine Pizza Diavolo hinunter, während Henrik ihm voll Neid zusah. Er war noch nicht in der Lage, feste Nahrung zu sich zu nehmen. Der Imbissbudenbesitzer konnte ihm nur eine Tasse Instanthühnerbrühe anbieten.

      »Ist ja völlig abgefahren, die Geschichte, die du mir da erzählst, Alter.« Tobi schmatzte hingebungsvoll und stopfte sich das nächste Pizzastück in den Mund. »Und du bist sicher, dass du wirklich mit diesem Druiden am Telefon geplaudert hast?«

      »Ich habe nicht mit ihm geplaudert, du Vollidiot! Er hat auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Verstehst du das jetzt endlich?«

      Tobi blieb vor Schreck der Bissen im Halse stecken, als Henrik ihn so anfuhr, doch nach kurzer Zeit kaute er vergnügt weiter.

      »Und glaub’ mir, diese verlogene Schwuchtelstimme hör’ ich aus jedem Kirchenchor ‘raus«, grummelte Henrik und schlürfte vorsichtig einen winzigen Schluck Brühe. »Die Schlägertypen aus dem Molocco stecken ebenfalls mit dem Kerl unter einer Decke.«

      »Nun ja …«, meinte Tobi unsicher und wischte sich mit dem Handrücken den fettverschmierten Mund ab. Die Pizza war vertilgt. Mit einem letzten bedauernden Blick schob er die leere Schachtel beiseite. Ein winziges Stück Pepperoni klebte weiterhin unbemerkt an seinem Nasenpiercing. »Nun ja … wir könnten Frank mal fragen, ob der was weiß.«

      Henrik horchte auf. »Was hat denn dein Bruder mit der Sache zu tun?«

      Tobi grinste. »Es ist so: Einmal im Monat trifft sich im Molocco eine Gruppe KoF-Spieler zu einer LAN-Party. Die Typen nehmen gemeinsam an Schlachtzügen oder Arenakämpfen teil.«

      Henrik sah den Freund mit offenem Mund ungläubig an. »Und das sagst du mir erst jetzt? Das könnte eine Menge erklären.«

      Tobi stand auf und legte acht Euro auf den Tisch. »Na, dann! Komm, wir besuchen Frank.«

      Henrik schüttelte den Kopf. »Später. Für heute hab’ ich die Nase voll.« Dabei tastete er vorsichtig seine geschwollene und nicht ganz gerade Nase ab. »Ich schlucke noch zwei Aspirin und haue mich danach sofort ins Bett.«

      Die beiden traten auf die Straße hinaus. Tobi sagte: »Geht klar, Alter«, und erkundigte sich: »Sehen wir uns morgen im Game?«

      Henrik hob die Schultern. »Mal sehen. Vielleicht am Abend. Morgen muss ich endlich mal die Krankmeldung bei meinem Chef abgeben. Der ist sowieso schon angepisst. Und dann muss ich zu meiner Mutter und Geld besorgen. Vielleicht kann ich mich am späteren Abend kurz einloggen.«

      »Geht klar, Alter«, meinte Tobi wieder. Er hob grüßend die Hand. Dann machten sich beide auf den Weg nach Hause.

      5 | Besuch bei Mutter

      Nachdem er ausgeschlafen hatte – so gegen Mittag –, suchte Henrik auf direktem Weg seine Mutter auf, denn er war zu der Einsicht gelangt, dass es wichtiger sei, zuerst Geld zu besorgen. Die Krankmeldung bei seinem Arbeitgeber konnte noch warten.

      Sarah Wanker wohnte in einer Reihenhaussiedlung in einem Stadtviertel, in dem vorwiegend Rentner und Angehörige der Mittelschicht lebten. Die Vorgärten waren penibel gepflegt, ohne die Spur eines Unkräutleins.

      Über Sarahs Haustür hing ein kitschiges, handgeschnitztes Willkommensschild aus Holz, das sie aus dem letzten Skiurlaub aus Davos mitgebracht hatte.

      Henrik hatte sich eine halbwegs saubere Hose und ein nicht allzu verknittertes T-Shirt angezogen mit dem Aufdruck »Besser arm dran als Arm ab«. Es ging ihm heute schon deutlich besser. Die Kopfschmerzen hatten nachgelassen und auch die gebrochenen Rippen taten nicht mehr so weh, wenn er tief durchatmete. Trotzdem war ihm nicht wohl in seiner Haut.

      Er verspürte immer eine gewisse Beklommenheit, wenn er die Mutter besuchte. Ihr Verhältnis war – gelinde gesagt – nicht gerade harmonisch. Henrik erschien deshalb nur bei ihr, wenn er Geld brauchte. Die Mutter dagegen machte ihm ständig Vorwürfe wegen seiner Undankbarkeit, Schlampigkeit und Faulheit.

      In Wahrheit interessierten sich beide herzlich wenig füreinander. Sarah Wanker führte ein aufwendiges Leben, kaufte sich unentwegt neue Kleider, ging zur Kosmetikerin und war drei- bis viermal im Jahr auf Reisen. Henrik wusste genau, dass er von der Mutter kein Geld zu erwarten hatte, wenn er sie direkt danach fragte. So ergriff er bei jedem Besuch die Chance, alles zu stehlen, was im Hause nicht niet- und nagelfest war, um es bei Billie oder anderswo zu verkaufen. In letzter Zeit schien seine Mutter jedoch bemerkt zu haben, dass immer wieder mal etwas fehlte. Sie war offenbar misstrauisch geworden und ließ ihn nur noch selten aus den Augen, wenn er bei ihr auftauchte. Diesmal hoffte er inständig auf ihre Bereitschaft, ihm das Geld für die Miete zumindest zu leihen, weil er ja sonst auf der Straße säße.

      Mit einem Kloß im Hals betätigte er die


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