YOLO. Paul Sanker
– knallroter Lippenstift, Rouge auf den Wangen und blauer Lidschatten. Die blonden, mittellangen Haare zierten im Pony drei pinkfarbene Strähnen, die nicht so recht zu ihren achtundvierzig Jahren passen wollten. Den Kopf missbilligend schüttelnd, winkte sie ihn ins Haus. Ihre rot lackierte Fingernägel blitzten auf wie Blutstropfen.
Henrik folgte der Mutter ins Wohnzimmer und blieb dort abrupt stehen, wie ein Tier, das von einem Scheinwerfer geblendet wird. An einem runden Eichentisch saßen die vier Freundinnen Sarah Wankers bei der allwöchentlichen Bridgepartie. Wie hatte er das nur vergessen können? Doch nun war es zu spät, sich zurückzuziehen. Henrik kannte die Frauen schon seit seiner Kindheit. Er hatte diese aufgedonnerten Hexen noch nie leiden können. Das beruhte jedoch auf Gegenseitigkeit. Ihr Alter lag zwischen vierzig und fünfzig Jahren, alle gekleidet in Designerklamotten, mit Gucci- oder MCM-Täschchen – nicht besonders geschmackvoll zusammengestellt, aber auf alle Fälle teuer.
Mit verkniffenen Gesichtern starrten sie ihn an, jede in Lauerposition, zum Sprung bereit, um ihn fertigzumachen.
Da war zunächst Kirsten Stadler – schwarze Kurzhaarfrisur, Ganzkörper-Sonnenbankbräune, perfektes Make-up, äußerst gewagtes Dekolleté, enger schwarzer Lederrock, bis knapp unter die Knie, High Heels. Dann Yvonne Nordmann – schulterlange, weißblond gefärbte Haare, weißes Armani-Kostüm, extrem auf Figur gearbeitet. Beide hatten deutlich ältere Ehemänner geheiratet, die reich wie Hiob und bereits vor zehn beziehungsweise fünfzehn Jahren verstorben waren. Die untröstlichen Witwen bemühten sich seitdem nach besten Kräften, das geerbte Geld unter die Leute zu bringen.
Betty von Werdersmark hatte dagegen das zweifelhafte Glück, dass ihr Mann noch lebte. Graf Roderick von Werdersmark weigerte sich trotz seiner sechsundachtzig Lenze abzutreten. Betty zahlte es ihm heim, indem sie ihrerseits Männerbekanntschaften mit deutlich jüngeren Liebhabern pflegte. Die attraktive, brünette Frau mit dem etwas ausladenden, aber straffen Hintern und den fast zu perfekten Brüsten brauchte vorerst nicht zu befürchten, dass ihr der Nachschub an abwechslungsreichem Frischfleisch im Bett ausgehen werde.
Frau Mai-Lin Kim war unverheiratet und stammte aus Korea. Sie war für ihr Alter noch immer eine exotische Schönheit mit hohen Wangenknochen und dunklen Mandelaugen und die einzige des Kleeblattes, die nicht von einem Freund ausgehalten wurde oder auf ein Erbe zurückgreifen konnte. Auf ihren Beruf angesprochen, nannte sie sich selbst »Körpertherapeutin«. Henrik war ihr einmal aus Neugier heimlich bis zu ihrem Appartement gefolgt. Neben einem roten Klingelknopf befand sich ein Schild mit der Aufschrift: »Mai-Lins Entspannungsmassagen – Tantra. Termine nach Vereinbarung von 20.00 bis 1.00 Uhr, samstags bis 3.00 Uhr.«
Henrik bemerkte noch einen weiteren Gast. Ein schmaler, grauhaariger Mann – vielleicht Anfang sechzig – in blauer Jeans und weißem Hemd saß mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen im Sessel neben dem Bücherschrank und las die Tageszeitung. Als Henrik das Zimmer betreten hatte, waren alle Gespräche schlagartig verstummt. Der Grauhaarige unterbrach seine Lektüre, betrachtete ihn interessiert und – wie es Henrik schien – mit einem ironischen Lächeln.
»Was willst du hier?«, fragte Sarah Wanker ihren Sohn unfreundlich. »Du störst uns beim Bridgebrunch.«
Auf einem zweiten Tisch standen Fingerfoodhäppchen bereit. Das Büfett bot alles, was sich ein verwöhnter Gourmetgaumen nur wünschen konnte – angefangen von Schinken-Melonen-Streifen über Tomaten auf Mozzarella bis zu Lachsschnittchen, Putenbrust und Hähnchenspießen. Auf einer Warmhalteplatte dampfte eine Terrine mit köstlicher Kürbiscremesuppe. Das eine Ende des Tisches wurde durch eine Schüssel Belugakaviar, das andere durch eisgekühlte Austern begrenzt.
Henrik schluckte. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als ihm bewusst wurde, dass die Instantbrühe vom gestrigen Abend das Letzte war, das er zu sich genommen hatte.
Es hatte nicht nur daran gelegen, dass er immer noch nicht vernünftig kauen konnte, auch in seinem Kühlschrank herrschte bis auf ein angebrochenes Glas saurer Gürkchen und eine Tüte Frischmilch, deren Haltbarkeitsdatum seit fünf Tagen abgelaufen war, gähnende Leere. Dies lag wiederum daran, dass er sein letztes Geld für die Taxifahrt vom Krankenhaus nach Hause ausgegeben hatte. Seine ihm noch zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel betrugen exakt achtundsiebzig Cent.
»Und wie du wieder aussiehst!«, nörgelte Sarah Wanker. Angewidert verzog sie das Gesicht und musterte ihren Sohn von oben bis unten. »Konntest du meinen Gästen diesen Anblick nicht ersparen? Treibst dich nachts in zwielichtigen Bars rum, prügelst dich und machst deiner Mutter eine peinliche Szene!«
Gemurmel und Kopfnicken des Kleeblattes. Der Grauhaarige sagte nichts, grinste nur weiter.
»Szene? Was für eine Szene, verdammt noch mal?«, versuchte Henrik sich mit einem Gemisch aus Empörung und Fassungslosigkeit zu verteidigen. »Ich habe doch noch keinen Ton gesagt? Und woher weißt du überhaupt, was in der Nacht vor dem Molocco passiert ist?«
Sarah Wanker schnaufte verächtlich und zündete sich eine Zigarette an. »Zwei Polizisten haben mich informiert. Bauer und Wegner hießen sie, glaube ich.« Betont zielgerichtet stieß sie den Rauch aus und verharrte in einer affektierten Pose.
»Wagner!«, korrigierte Henrik prompt.
»Wie?« Sarah Wanker runzelte unwillig die Stirn und fixierte den Sohn angriffslustig.
»Wagner! So heißt dieser nach Zwiebeln stinkende Schmalspurderrick!«, knurrte Henrik. »Man hat dich also darüber informiert, wie übel ich zugerichtet wurde, aber du hast es nicht für nötig befunden hast, mich im Krankenhaus zu besuchen.«
Nicht, dass er seine Mutter am Krankenbett vermisst hätte, aber die anderen sollten wissen, wie es um ihre Fürsorge wirklich stand.
»Nun übertreib mal nicht so, mein Lieber.« Die stimmliche Tonlage seiner Mutter stieg. Sie lief allmählich zur Hochform auf. »Die netten Polizisten haben mich wohl darüber informiert, dass die paar Schrammen dich nicht umbringen werden. Und außerdem …« sie machte eine Kunstpause, in der sie dem Kleeblatt triumphierend zuzwinkerte, »und außerdem hast du diese Abreibung verdient, wenn du wirklich versucht haben solltest, einen kleinen Jungen zu belästigen.«
Augenblicklich wich die Farbe aus Henriks Gesicht und die Blutergüsse wurden besonders deutlich. Er stand sprachlos und wie vom Donner gerührt.
Frau Stadler entfuhr ein kurzer Aufschrei, dann hielt sie sich ungläubig die Hand vor den Mund.
Frau Nordmann fixierte ihn mit einem Grinsen, das so dreckig war, dass Henrik das Gefühl bekam, sich schleunigst das Gesicht waschen zu müssen.
Mai-Lin Kim zischte Frau von Werdersmark etwas ins Ohr. Henrik glaubte das Wort »Hinterlader« vernommen zu haben.
Der Grauhaarige erhob sich mit einem Auflachen und hielt der Mutter einen Aschenbecher hin, in den sie mit einer Geste, als habe sie soeben einen Gegner erfolgreich zur Strecke gebracht, die Zigarettenasche abklopfte. Dann legte er den Arm um ihre Schulter und beide starrten ihn an wie Präparatoren, die einen Schmetterling aufgespießt hatten.
»Es war kein kleiner Junge, sondern nur Tobi!«, schrie Henrik. Doch noch während dieses Aufschreis begriff er: Das war die falsche Antwort auf die Anschuldigung.
»Er gibt es auch noch zu, das Schwein!«, keifte Frau Nordmann.
»An eine richtige Frau traut sich der Schlappschwanz nicht ran«, höhnte Frau Stadler, schlürfte ordinär eine Auster und drehte den Glibber mit einer obszönen Zungenbewegung im Mund herum.
Mai-Lin kicherte hysterisch und klatschte in die Hände, begeistert über die zweideutige Vorführung.
»Ich … ich … ich meine …«, stotterte Henrik hilflos und rang um Fassung. »Ich meinte, ich habe niemanden belästigt und diesen Schwachkopf Tobi schon gar nicht.«
Niemand hörte ihm zu. Das Kleeblatt redete wild durcheinander und versuchte sich darin zu übertreffen, seine Abscheu Henrik gegenüber zum Ausdruck zu bringen.
Die Mutter und der Grauhaarige schauten sich nur bedeutungsvoll an und sagten kein Wort.
Schließlich erhob