YOLO. Paul Sanker

YOLO - Paul Sanker


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eine virtuelle Welt erschaffen, deren Grafik der Wirklichkeit verblüffend nahe kommt. Der Computer erzeugt immer neue Landstriche, Monster und Lebewesen, sodass das Spiel nie langweilig wird. In früheren Onlinespielen mussten regelmäßig teure und aufwendige Expansions-CDs entwickelt und verkauft werden, um durch Schaffung neuer Landschaften und Quests die User zu animieren, das Game weiterzuspielen. Diese Expansionen erledigt nun das Programm von selbst. Wenn man will, kann man bis in alle Ewigkeit durch die KoF-Welt reisen. Du wirst niemals ihr Ende erreichen.«

      Frank hatte sich in Begeisterung hineingesteigert. Mit glänzenden Augen starrte er auf einen imaginären Punkt an der Decke, die Hände wie ein Prediger erhoben, der seine Zuhörer segnet.

      »Nun komm mal endlich zum G-Punkt, Frankie!« Henrik verlor allmählich die Geduld.

      Der Barkeeper erwachte wie aus einer Trance, das Lächeln erstarb auf seinem Gesicht. Ernüchtert blickte er erst Henrik und dann Tobi an, der seinem Bruder fasziniert und andächtig zugehört hatte. Beschwichtigend winkte er ab.

      »Immer mit der Ruhe, Spaßvogel. Gleich kommt’s. Also, die Fähigkeiten der Spieler vermehren sich von Level zu Level. Durch das Lösen von Quests oder das Töten von Monstern oder Feinden erhält man immer mehr Erfahrungspunkte, bis man ins nächste Level aufsteigt. Das ist natürlich noch nichts Außergewöhnliches. Die Spieler gewinnen nur mehr an Kraft, Geschicklichkeit oder Zaubertalente. Ab Level fünfundneunzig soll es aber tatsächlich außergewöhnlich werden. Es wird berichtet, dass es dann vorkommen kann, dass Dinge aus der KoF-Welt im Real Life auftauchen. Voraussetzung dafür ist allerdings ein bestimmtes Set aus magischen Ausrüstungsgegenständen: Eine Rüstung, ein Helm, ein Schwert, ein Ring und ein Armreif. Wer das komplette Set besitzt, soll über unglaubliche Fähigkeiten verfügen.«

      Tobi pfiff vor Verblüffung durch die Zahnlücke.

      Henrik dachte stirnrunzelnd: Sollte mein Armreif Bestandteil dieses geheimnisvollen Sets sein? Das wäre dann allerdings ein Grund, warum dieser Lord Dragon und der Schattenmagier so scharf auf das Ding sind.

      Frank fuhr in seiner Erzählung fort: »Ob das alles nur Gerede ist oder ob was Wahres dahintersteckt, ist schwer zu sagen. Es ist nicht einfach, über Level neunzig zu kommen. Nur etwa fünf Prozent der Gamer haben das bisher geschafft. Dazu braucht man eine optimale Ausrüstung, die richtigen magischen Waffen und man muss Tag und Nacht vor dem Computer hocken, um wie blöd jede Menge Monster abzuschlachten. Das schaffen aber nur solche Schwachmaten wie du, Wanker.« Frank richtete seinen ausgestreckten Finger auf Henrik, als wolle er ihn anklagen. »Das größere Problem besteht jedoch darin, an die magischen Setgegenstände zu kommen.« Frank rückte mit seinem Kopf näher an die beiden heran und flüsterte: »Bisher existieren erst drei oder vier ernst zu nehmende Berichte, dass Highlevelspieler angeblich für kurze Zeit ein solches Set-Item besessen haben sollen.«

      Gebannt und mit halb geöffnetem Mund hörte Henrik zu.

      Tobi konnte natürlich wieder mal die Klappe nicht halten. »Aber Alter!«, tönte er. »Wieso nur für kurze Zeit? Wenn ich so ein Hammerteil in die Finger kriegte, sorgte ich dafür, dass ich’s behalte. So was kann doch nicht einfach wieder verschwinden.«

      Frank zog bedeutungsvoll eine Augenbraue hoch, grinste süffisant und flüsterte weiter: »Der Gegenstand verschwindet nicht allein – der Besitzer verschwindet mit ihm.«

      »Was heißt das?«, fragte Henrik mit ungläubigem Gesichtsausdruck.

      »Das, was ich sagte, Spacko!« Frank spuckte verärgert auf den Boden. So weit kam es noch. Diese Pappnase zweifelte seine Glaubwürdigkeit an. »Die Typen wurden nie wieder gesehen. Verschwunden ins Nirwana oder Lost in Space, wenn dir das lieber ist, du Klugscheißer.« Er klopfte zur Bekräftigung seiner Worte laut auf den Tisch. »Jedenfalls tauchten die Spielcharaktere nie wieder auf. Vielleicht hatten sie die Schnauze voll von dem Spiel, wollten was anderes machen – Schach, Halma oder Komasaufen. Scheißegal, was weiß ich!« Frank drückte seine Zigarettenkippe auf dem Tisch aus und schnippte sie geschickt hinter den Bartresen.

      Tobi kannte seinen Bruder. Der konnte viel ertragen, nur nicht Zweifel an dem, was er sagte, und Henrik hatte eben diesen wunden Punkt getroffen. Also warf er sich in Positur. »Mensch, Frankie, Henrik und ich finden die Geschichte hammeraffengeil. Nicht Kumpel? Ist doch so?« Dabei knuffte er den Freund wiederum augenzwinkernd gegen die Brust und gestikulierte auffordernd mit den Armen; Na los, mach schon! Klatsch’ Beifall, hieß das.

      Henriks düstere, ungläubige Miene verschwand wie auf ein geheimes Kommando. Schließlich waren sie ja gekommen, um von Frank Informationen zu erhalten. Und vielleicht war in diesem, nach seiner Meinung schwachsinnigen Gebrabbel des Barkeepers doch die eine oder andere brauchbare Message enthalten.

      »Ja, Frank, Tobi hat recht.« Er grinste. »Ich bin ganz spitz drauf, deine Geschichte weiter zu hören.«

      Frank nickte gnädig. Nachdem er sich die nächste Zigarette gedreht hatte, fuhr er fort. »Ja, also … bei dem Set handelt es sich um Gegenstände, die eigentlich nicht für herkömmliche Spieler entwickelt wurden. Sie sollen Peter Winzig persönlich gehören, der sein Programm perfektionierte und dem dabei ein Quantensprung gelungen sein soll – die Möglichkeit, zwischen virtueller und realer Welt zu wechseln. Das bedeutet, dass der Spieler in der Lage ist, körperlich real in der virtuellen Welt zu erscheinen und zu agieren. Aber auch der umgekehrte Weg ist möglich: Gegenstände aus dem Spiel können in unsere Welt gebracht werden.«

      »Na toll, ich piss mir gleich in die Hose vor Begeisterung. So einen Spam habe ich ja noch nie gehört.« Jetzt reagierte Tobi ungläubig und steckte sich als Zeichen der Verachtung den ausgestreckten Mittelfinger in den Mund.

      »Aber es handelt es sich dabei doch nur um Gerüchte«, knurrte Frank. »Vor zwei Jahren stand mal ein Artikel darüber in einem Computerspielemagazin. Angeblich hat es daraufhin entsprechende Nachforschungen vonseiten der Regierung und des Militärs gegeben. Für Letzteres wäre es natürlich interessant, magische Waffen abgreifen zu können. Am Ende verlief die Untersuchung im Sand. Peter Winzig konnte nicht befragt werden, da er wie vom Erdboden verschluckt schien und seine Mitarbeiter und Manager, die dafür sorgten, dass das Spiel im Netz blieb und weiter vermarktet wurde, hatten keine Ahnung, wovon überhaupt gesprochen wurde. Schließlich hielt man das Ganze für einen Werbegag und sprach nicht mehr darüber.«

      Henrik konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Märchen über Reisen in virtuelle Welten der Grund für seinen Stress mit dem Schattenmagier sein sollte. Schon gar nicht vermochte er zu glauben, dass man ihn deswegen zusammengeschlagen hatte. So blöd konnten selbst diese Schwachsinnigen nicht sein, dass die den Humbug für möglich hielten. Doch ein Unbehagen blieb nach Franks Geschichte in Henrik zurück. Er verspürte einen dumpfen Druck in der Magengrube, als er sich an den Spritzer fremden Blutes auf seiner Wange erinnerte, den er sich nach der Schlacht mit den Gnomen in der Teufelsschlucht im Badezimmer abgewischt hatte. Auch fiel ihm das Eichenblatt auf dem Teppich wieder ein, das er nach seinem Ritt durch Sleepysoul dort vorgefunden hatte. Gehörte der Armreif des Schattenmagiers wirklich zu Peter Winzigs sagenhaftem Set?

      Frank riss Henrik abrupt aus seinen Gedanken. »So, Leute, jetzt hab’ ich genug gequatscht.« Der Barkeeper hatte es plötzlich eilig, seine Besucher loszuwerden. »Macht, dass ihr weiterkommt, ich hab’ zu arbeiten.« Er stand auf, scheuchte die beiden aus der Bar und schloss hinter ihnen ab.

      Verdutzt standen Tobi und Henrik auf der Straße herum. »Was hältst du von der Angelegenheit?«, meinte Tobi, während er mit seinem kleinen Finger im Ohr pulte und interessiert das Ergebnis seiner Grabungsarbeiten betrachtete. »Ziemlich abgefahren das Ganze, oder?«

      Henrik nahm die Brille ab und putzte die hoffnungslos verschmierten Gläser mit einem Zipfel seines T-Shirts. »Ich weiß nicht, ob sich dein Bruder nun endgültig die Birne zu Schlamm gekokst hat oder ob mehr an der Sache dran ist«, sagte er nachdenklich. »Auf jeden Fall haben wir nun genug Hintergrundinfos, um Lord Dragon beim Gildentreffen auf den Zahn fühlen zu können.«

      Schließlich machten sich die beiden auf den Heimweg. Sie würden sich bald im Spiel beim Gildentreffen wiedersehen.

      7 | Das Gildentreffen


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