YOLO. Paul Sanker
feuern. Er hatte einen Termin für acht Uhr. Gegen halb neun schlug er in der Praxis auf. Die Arzthelferin am Empfang schaute ihn missbilligend an. »Sie kommen zu spät, Herr Wanker.«
Die gouvernantenhafte Endvierzigerin in der weißen Rüschenbluse und dem karierten Schottenrock tippte mit dem Bleistift auf den Terminkalender und schüttelte empört den Kopf. Das hochgesteckte graue Haar und das braune Kassengestell der Brille, die durch ein dünnes Lederbändchen um den faltigen Hals der Frau vor ständigem Verlegen bewahrt wurde, wirkten so einladend wie ein Schild mit der Aufschrift: Hunde müssen draußen bleiben.
»Aber, Miss Moneypenny, haben Sie doch Mitleid mit einem armen, verzweifelten Patienten. Obwohl ich selber erst kürzlich nur knapp dem Tode entronnen bin, musste ich heute früh um sieben erst meine krebskranke Mutti waschen, bevor ich zu Ihnen kommen konnte. Der Pflegedienst der Caritas hat uns versetzt.« Treuherzig schniefend und mit herunterhängenden Mundwinkeln stand Henrik vor ihr.
»Herr Wanker, ich bin empört!«, fuhr die Arzthelferin auf. »Ihre Mutter ist mir bestens bekannt. Erst gestern hat sie sich ein Rezept für ein Medikament gegen Migräne abgeholt. Also tischen Sie mir nicht ihre erbärmlichen Lügengeschichten auf!« Sie knallte den Bleistift so hart auf den hellen Eichentresen, dass Henrik vor Schreck zusammenzuckte.
»Eih, nun mach mal halblang, du Schreckschraube!«, legte Henrik in üblem Jargon los, drohte mit dem Zeigefinger, hielt aber gehörigen Sicherheitsabstand. »Du wirst vom Geld meiner Krankenkasse bezahlt, merk dir das. Und nun schleich dich zu deinem Doktor House und sag ihm, dass ich ‘ne neue Krankmeldung brauche! Und wenn das nicht klappt, zeige ich euch beide wegen unterlassener Hilfeleistung an, damit ihr’s wisst!«
Mit versteinerter Miene stand die Frau auf; ohne Henrik eines Blickes zu würdigen, verschwand sie im Behandlungszimmer des Arztes. Nach wenigen Minuten kam sie zurück und überreichte ihm die Krankmeldung, dazu einen DIN-A4-Umschlag. »Hier ist Ihre Bescheinigung, Herr Wanker, und dies sind ihre Patientenunterlagen. Der Doktor lässt Ihnen ausrichten, dass Sie sich einen anderen Hausarzt suchen sollen.« Ihr Blick hatte viel Ähnlichkeit mit dem eines Sumpfkrokodils.
Henrik nahm die Unterlagen unbeeindruckt entgegen. »Warum nicht gleich so, Schwester?«, grunzte er. Ein rascher Blick auf das Formular zeigte ihm, dass er noch drei weitere Tage krankgeschrieben war. Zufrieden grinsend verließ er die Praxis.
Das, was nun anstand, war bei Weitem unangenehmer. Er musste seinem Chef die Krankmeldung vorlegen – drei Tage zu spät. War das unter Umständen ein Kündigungsgrund? Er wusste es nicht.
Mit dem Bus fuhr er bis zur Wilhelmstraße. Von da aus lief er noch zehn Minuten zu Fuß bis zu seinem Discounter.
Der Laden war seit einer halben Stunde geöffnet. Henrik hatte gehofft, unbemerkt durch den Verkaufsraum zum Büro des Filialleiters schleichen zu können. Doch als er durch die Eingangstür trat, wurde er von Gerda Finke gesichtet, die an der Kasse saß.
Die zweiunddreißigjährige, alleinerziehende Mutter mit den blond gefärbten Haaren – im Scheitelbereich sah man den schwarzen Haaransatz – warf ihm einen giftigen Blick zu. Ihre unreine Gesichtshaut bedeckte eine dicke Schicht Make-up. »Ach nee! Der gnädige Herr Wanker!«, rief sie. »Kommst du auch noch mal zur Arbeit? Oder willst du dir nur ‘ne Tüte Chips besorgen, damit dein fetter, fauler Hintern vorm Fernseher noch mehr in die Breite geht?«
Henrik wurde knallrot – nicht vor Scham, sondern vor Wut. Er hasste diese dämliche, vorlaute Zicke, die ihn von Anfang an gepiesackt hatte und ihn bei jedem kleinen Fehler beim Chef denunzierte. Er konnte es sich nicht verkneifen, ihr zuzurufen: »Hallo, Schatz. Du weißt doch, dass ich nicht in Billigläden kaufe. Ist nicht gut für den Teint, wie man an dir sieht. Oder ist es gestern Abend wieder spät geworden bei der Fellatio unter Krauses Schreibtisch?« Während er eilig zwischen den Regalen verschwand, hörte er Gerda Finkes wütenden Aufschrei.
Henrik grinste hämisch und beglückwünschte sich selbst zu der schönen Retourkutsche. Er klopfte an die Bürotür des Filialleiters und trat er ein.
Herr Krause war ein vierundfünfzigjähriger, grobschlächtiger Junggeselle mit Glatze und rotem Vollbart, in dem stellenweise bereits graue Haare wuchsen. Wie immer trug er unter dem weißen Kittel einen dunkelblauen Anzug samt schwarzer Krawatte und thronte hinter seinem Schreibtisch, vertieft in die Lektüre der letzten Quartalsbilanz. Mit dem Bleistift, der in seinen dicken, kurzen Wurstfingern zerbrechlich wirkte, unterstrich er soeben einen Posten. Unwillig blickte er auf. Als er den Eintretenden erkannte, runzelte er mit finsterem Gesichtsausdruck die Stirn und forderte ihn mit einer Geste seiner Hand wortlos auf, Platz zu nehmen.
Henrik setzte sich und schob langsam die Krankmeldung über den Tisch.
Krause studierte sie lange und sorgfältig. Dann legte er den gelben Schein beiseite und musterte sein Gegenüber weiterhin schweigend.
Henrik war unbehaglich zumute. Nervös griff er nach einem Kugelschreiber, der in seiner Reichweite lag, schraubte ihn ständig auf und zu, bis dieser plötzlich auseinanderfiel und die Einzelteile zu Boden rollten. Er machte Anstalten, sie aufzuheben, aber da begann Krause endlich zu reden.
»Lassen Sie das, Wanker!«, knurrte er.
Henrik richtete sich auf und saß nun starr wie eine Salzsäule. Mit Unbehagen bemerkte er, dass sich auf seiner Stirn und Oberlippe Schweiß bildete.
Herr Krause erhob sich, trat näher an Henriks Stuhl heran und fixierte seinen Angestellten aus dieser Position mit undurchdringlichem Gesicht. »Dass Sie es wagen, noch einmal ins Geschäft zu kommen, zeugt entweder von großem Mut oder von unübertrefflicher Dreistigkeit!«, legte er dann los, wobei ein Tropfen seines Speichels auf Henriks rechtem Brillenglas landete. »Wie ich Sie kenne, gehe ich eher von der zweiten Möglichkeit aus.«
Henrik setzte zu einer Erwiderung an, doch Krause winkte unwirsch ab. »Schweigen Sie und hören Sie genau zu: Nachdem Sie tagelang unentschuldigt nicht erschienen waren, stand für mich der Entschluss fest, Ihnen fristlos zu kündigen.« Krause hielt Henrik seine zur Faust geballte behaarte Pranke unter die Nase.
Dieser hoffte inständig, dass der Chef nicht wieder zu spucken anfing, denn er befürchtete, davon Herpes zu bekommen. Zu seiner Erleichterung nahm Krause wieder am Schreibtisch Platz, stützte die verschränkten Arme auf den Tisch und sprach nun ruhiger weiter.
»Gestern rief mich Ihre verehrte Frau Mutter an, mit der ich – wie Sie wissen – aufs Herzlichste verbunden bin.« Er kraulte sich mit den Fingern den Bart. »Sie erzählte mir, dass Sie überfallen und zusammengeschlagen wurden, mit einer Gehirnerschütterung und Gedächtnisverlust im Krankenhaus gelegen haben und sich deshalb nicht melden konnten.«
Henrik war ausnahmsweise von seiner Mutter beeindruckt. Die Idee mit dem Gedächtnisverlust hätte glatt von ihm kommen können.
»Also ist die Sache nun für mich erledigt und ich gehe davon aus, dass Sie in drei Tagen wieder pünktlich um acht Uhr im Geschäft erscheinen. Ist das klar, Herr Wanker?«, schloss Krause.
Henrik nickte eifrig.
»Gut. Im Lager warten bereits mehrere Paletten mit Ware auf Sie, die ausgezeichnet und in die Regale geräumt werden müssen.« Krause wies mit der linken Hand zur Tür.
Das war’s! Henrik atmete tief durch und wollte gerade die Tür öffnen, als der Chef ihm zurief: »Übrigens, Wanker …«
Mit Unbehagen drehte Henrik sich um.
Krause grinste schmierig. »Bestellen Sie Ihrer lieben Mutter meine besten Grüße und fragen Sie sie …«, er leckte sich kurz über die Unterlippe, »fragen Sie, ob sie nicht wieder mal meine Latte probieren möchte.«
Henrik wurde schwindlig, er glaubte, gleich umkippen zu müssen. Was redete der Chef da?
Krause lachte dröhnend. »Ja, ja, Wanker! Das hätten Sie nicht gedacht, was? Aber meinen Latte Macchiato macht mir so leicht kein anderer in der Stadt nach!«
Henrik hatte die Nase voll von diesem Blödmann. Er beeilte sich, aus dem Büro zu verschwinden. Hinter sich hörte er Krause dröhnend lachen; er schien sich köstlich