Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki
Tim Tichatzki
Roter Herbst
in Chortitza
Nach einer wahren Geschichte
Für meine Kinder Michel, Lisa und Samir
© 2018 Brunnen Verlag Gießen
Lektorat: Eva-Maria Busch
Umschlagfoto: © Mark Owen/Trevillion Images
Umschlaggestaltung: Jonathan Maul
Innenfoto: privat
Satz: DTP Brunnen
ISBN Buch 978-3-7655-0988-9
ISBN E-Book 978-3-7655-7508-2
Inhalt
Teil 1: Bürgerkrieg (1919–1921)
Teil 2: Fünfjahresplan (1929–1933)
Teil 3: Terrorjahre (1937–1939)
Teil 4: Der große Vaterländische Krieg (1940–1945)
Teil 1
Bürgerkrieg (1919–1921)
Nach dem gewaltsamen Sturz von Zar Nikolaus II. muss die junge bolschewistische Regierung am 3. März 1918 den mit den Mittelmächten ausgehandelten Friedensvertrag von Brest-Litowsk akzeptieren. Die kriegsmüde Bevölkerung braucht dringend eine Atempause, auch wenn dies zur Folge hat, dass die Ukraine fortan unter deutsche Kontrolle fällt. Doch Deutschland verliert den Krieg und zieht seine Soldaten schon ein Jahr später wieder ab. Die „Brotkammer“ Europas wird nun Teil des Sowjetreichs, wo in den folgenden Jahren ein brutaler Bürgerkrieg zwischen Bolschewiken und den Anhängern des ermordeten Zaren tobt.
MG-08/15
Osterwick 1919
Birken säumten die Böschung, so weit das Auge reichte, ohne dass ein einziger Baum es wagte, aus der Reihe zu treten und seine Wurzeln unterhalb der Kammlinie zu schlagen. Wie mit dem Lineal gezogen erstreckte sich dieser schmale, weiß-grüne Streifen entlang der Straße nach Chortitza, bot dem Reisenden eine angenehme Abwechslung in der sonst so kargen Steppenlandschaft.
An keiner Stelle maß das Wäldchen in seiner Breite mehr als hundert Meter. Man hätte es problemlos in wenigen Minuten durchquert, wäre der Boden nicht von derart dichtem Gestrüpp überwuchert gewesen. Von Farnen verdeckte Disteln, die sich bei jedem Schritt im Stoff der Hose verfingen, zwangen den Wanderer, seinen Blick achtsam nach unten zu richten, wollte er nicht ins Straucheln geraten. Und trotz des lichten Baumbestands, für den friedfertigen Laien kaum zu erkennen, eignete sich dieser Ort ganz hervorragend für einen Hinterhalt. Ein Umstand, den die Soldaten des deutschen Kaiserreichs wohl zu nutzen wussten, als sie sich hier verschanzten, um die tiefer gelegene Straße nach Chortitza kontrollieren und jede feindliche Armee unter Beschuss nehmen zu können.
„Ihr Vorrücken würde dadurch für mehrere Stunden verzögert. Im Ernstfall ein großer taktischer Vorteil!“ So erklärten die Offiziere die strategische Bedeutung dieser Position.
Die Gastfreundschaft der Mennoniten1 überraschte die Soldaten, als sie vor über einem Jahr in Osterwick eintrafen. Offensichtlich fühlten sich die Dorfbewohner ihnen auf besondere Weise verbunden, was vielleicht an der gemeinsamen Herkunft oder an dem vertrauten Klang ihrer Sprache lag. Die Siedler unterhielten sich untereinander auf Plautdietsch, einer westpreußischen Mundart, die sie sich trotz der langen Zeit in der Fremde bewahrt hatten. Das erleichterte die Kontaktaufnahme und den Austausch. Die Osterwicker lauschten den Geschichten aus der Heimat aufmerksam. Obwohl kaum einer von ihnen je zuvor in Deutschland war, fühlte es sich für sie an, als schwelgten sie mit den Fremden in gemeinsamen Erinnerungen.
Erst mit der Zeit – als es nichts mehr zu berichten gab – traten die Unterschiede wieder deutlicher zutage. Die Soldaten benahmen sich etwas zu selbstsicher für die Gepflogenheiten der frommen Siedler, manchmal gar etwas herrisch. Sie tranken Alkohol und erzählten sich Witze, die kaum einer von ihnen so recht verstand. Sie lachten dennoch mit, wenn auch nur aus Höflichkeit. Einmal schnappte Willi, der zwölfjährige Sohn der Bergens, einen Witz auf, den er später arglos beim Abendessen erzählte. Er fing sich dafür eine schallende Ohrfeige seines Vaters ein. Besonders die detaillierten Schilderungen der Fronterlebnisse ließen die Mennoniten schaudern, sodass sie den Kontakt fortan immer weiter reduzierten.
Seit sie der Einladung Katharinas der Großen gefolgt waren, die Weiten des riesigen Russischen Reiches zu besiedeln, beanspruchten sie für sich das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Keiner von ihnen hatte je eine Waffe in der Hand gehalten, geschweige denn einen Menschen getötet. Sie wollten in Frieden leben, sich nicht in gewaltsame Auseinandersetzungen – ganz gleich, für welche Seite – hineinziehen lassen.
Sie konzentrierten sich seit jeher nur auf ihre Arbeit. Darauf, das ihnen zugeteilte Land urbar zu machen, sich und ihren Familien eine neue Heimat zu schaffen. Dabei blieben sie meist unter sich, hielten an ihren Sitten, ihrer Sprache und an ihrem Glauben fest, sodass man sie hier in der Ukraine bis heute immer noch als Deutsche bezeichnete. Erst jetzt, wo ihnen die deutschen Soldaten wie ungebetene Gäste erschienen, von denen man sich wünschte, sie schnellstmöglich wieder loszuwerden, erkannten sie, dass sie längst auch keine Deutschen mehr waren.
Nichts konnte Maxim von dem Gedanken abbringen, dass die Soldaten auf ihrem Rückzug etwas zurückgelassen haben mussten. Auch Willi ließ sich von dieser Idee anstecken, wollte unbedingt dabei sein, wenn Maxim sich auf die Suche machte. Doch nun fiel es ihm schwer, mit seinem älteren Freund Schritt zu halten. Er keuchte laut und der Schweiß lief ihm in die Augen.
Obwohl sie nur zwei Jahre trennte, war Willi dem größeren Maxim in allen körperlichen Belangen deutlich unterlegen. Mit seinen schmalen Schultern konnte er sich bald zweimal hinter Maxim verstecken, hatte seine Mutter einmal gesagt. Sie ahnte nicht, wie sehr ihn das verletzte, wünschte er sich doch, auch endlich erwachsener auszusehen. Auf seiner Oberlippe bildete sich erster dunkler Flaum, doch selbst diese Anzeichen von Männlichkeit verblassten angesichts der Tatsache, dass Maxim sich bereits täglich rasieren musste. Es war nicht gerecht, dass man sie immer miteinander verglich, dachte Willi mehr als einmal.
Maxim ging mit großen Schritten voran, trat über das dornige Gestrüpp hinweg und schob die Äste mit ausladenden Armbewegungen beiseite. Willi bemühte sich, den Anschluss nicht zu verlieren. Ständig musste er zurückschnellenden Zweigen ausweichen oder einen Bogen um die Stelle machen, die Maxim gerade noch so leicht übersprungen hatte. Seit einer Stunde durchkämmten sie nun schon das Wäldchen, ohne dabei auf etwas Interessantes gestoßen zu sein. Hier und da ein paar leere Patronenhülsen sowie ein vollständig ausgebrannter Unterstand. Es schien, als ob die Deutschen selbst ihren überhasteten Rückzug gründlich geplant hatten.
Kurz davor, enttäuscht aufzugeben, fiel Willi ein Gebüsch auf, das sich von dem übrigen Grün unterschied. Es sah aus, als sei der Strauch nicht natürlich gewachsen. Willi und Maxim bogen die Zweige zur Seite, trampelten die mannshohen Farne nieder, als sie plötzlich auf etwas Metallenes stießen.