Roter Herbst in Chortitza. Tim Tichatzki
Höfe wurden aufgegeben, weil es nicht mehr genügend Arbeiter gab, um sie weiter zu bewirtschaften. Fabriken mussten ihren Betrieb einstellen, Schulen blieben geschlossen und selbst das Krankenhaus in Chortitza musste seinen Dienst vorübergehend einstellen, weil die Ärzte und Pflegekräfte selbst mit dem Tod rangen. Die wenigen, die noch über genügend Kräfte verfügten, wandten sich hilfesuchend an die Verwandtschaft im Ausland, zogen die beschwerliche Flucht dem sicheren Tod in der Heimat vor. Doch die meisten überlebten die Strapazen einer solchen Reise nicht.
Die Bergens entschieden sich zu bleiben. Sie klammerten sich an die Hoffnung, dass es auch wieder aufwärts mit ihnen gehen würde, wenn die Machnowzi erst einmal abgezogen waren. Doch ihre Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Alle Hilfegesuche an die Regierung verliefen im Sand und es sah nicht so aus, als ob sich jemand für das Elend der Bauern in der Ukraine interessierte. Ganz im Gegenteil. Anstatt den Bauern zu helfen, erhöhte man die Abgabequoten.
Familie Bergen beklagte den Tod von Heinrich und der zweitältesten Tochter Tina. Und so wie es um Maria stand, würde auch sie die nächsten Tage nicht überleben. Willi begriff, dass er und seine Geschwister in Kürze Waisen sein würden. Er schwor sich, den Abschied von seiner Mutter nicht zu verpassen. Er hielt immer noch ihre kalte Hand, sah ihr zu, wie sie mit geschlossenen Augen auf der nackten Matratze lag. Sie fror, aber außer einer dünnen Decke gab es nichts mehr, um sie zu wärmen. Selbst die Kopfkissen hatten sie ihnen weggenommen. Willi erinnerte sich daran, wie die Machnowzi sich einen Spaß daraus gemacht hatten, die Bettdecken mit ihren Messern aufzuschlitzen. Die Gänsefedern waren über den gesamten Hof geflogen.
„Ich habe die Munition für das Maschinengewehr versteckt.“
Willi wusste nicht, warum es so unvermittelt aus ihm herausplatzte. Vielleicht war es die Ahnung, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, diese Last endlich mit seinen Eltern zu teilen. Er litt schon viel zu lange darunter und als er erst einmal anfing zu erzählen, sprudelte es nur so aus ihm heraus. Nur ihr fester werdender Händedruck verriet ihm, dass Maria aufmerksam zuhörte. Sie lag auf der Seite, beobachtete ihren Sohn durch halb geöffnete Augen, wie er sich seinen Kummer von der Seele redete. Sie spürte die Last der Verantwortung auf seinen Schultern und sie bedauerte, dass er in Zeiten aufwachsen musste, die solche Entscheidungen von einem Vierzehnjährigen forderten. Als er geendet hatte, versuchte sie sich aufzurichten. Sie wusste, dass ihr Sohn Zuspruch benötigte, auch weil sie ahnte, dass ihm noch viel größere Prüfungen bevorstanden.
„Willi, du musst mir jetzt ganz genau zuhören.“ Sie sah ihrem Sohn in die vor Tränen geröteten Augen und sammelte ihre Kräfte. „Nur Gott allein weiß, ob du recht gehandelt hast oder nicht. Ich weiß nur, dass Gewalt nichts Gutes hervorbringt. Selbst wenn sie nur dem Selbstschutz dient. Nun bin ich die Letzte, die darüber eine Predigt halten sollte, weil ich trotz meiner Überzeugung einen Menschen getötet habe. In Kürze werde ich Gott gegenübertreten und mich dafür verantworten müssen. Meine Hoffnung ist, dass er mir gnädig ist, meine verzweifelte Situation nicht ungeachtet lässt. Ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen. Und trotzdem war es nicht richtig.
Würde ich heute wieder so handeln? Wahrscheinlich. Ist es deshalb richtig, einen Menschen zu töten? Nein. Willi, von ganzem Herzen wünsche ich dir die Kraft, an dem gewaltlosen Vorbild unseres Herrn Jesus Christus festzuhalten. Und wenn du dennoch versagst, dann bleibt dir nichts anderes übrig, als sich seinem Trost und seiner Gnade anzuvertrauen.“
In den nächsten Tagen unternahm Willi alles, um etwas Essbares aufzutreiben, doch es reichte einfach nicht aus. Die Nachbarn kämpften selbst ums Überleben, konnten auch beim besten Willen nichts entbehren. Und fing er einmal eine Forelle, so glich dies dem Tropfen auf dem heißen Stein. Trotz aller Mühen schwanden Marias Kräfte zusehends. Sie verließ ihr Bett nicht mehr und nur vier Tage später war sie tot.
Es blieb ihr nicht mehr vergönnt, das Wunder zu erleben, das den Osterwickern das Leben rettete. Hilfslieferungen aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Getreide, das von den dortigen mennonitischen Gemeinden gesammelt und auf die lange Reise geschickt worden war. Wider Erwarten gelangten diese Lieferungen bis zu den Notleidenden und die Siedler nahmen es als Geschenk des Himmels. Sie hatten fast alles verloren, doch diese Hilfslieferungen sollten sie in eine bessere Zukunft tragen. So hofften sie.
Teil 2
Fünfjahresplan (1929–1933)
„Ich sage es Ihnen im Vertrauen. Als mich auf dem Novemberplenum einzelne Genossen gefragt haben, was mit den Kulaken werden soll, da habe ich gesagt: ‚Wenn es ein geeignetes Flüsschen gibt, dann ertränkt sie.‘ Aber nicht überall gibt es ein Flüsschen, das heißt, dass die Antwort unzureichend ist. Von daher wird klar: Man muss sie vernichten. Da sind viele Schädel zu zählen. Da sind wirklich genug Schädel zu zählen, wenn Sie so wollen, so viele, dass selbst das ZKK die Norm dafür nicht festlegen kann. Hier sind selbst Normen zu wenig. Wir werden all das begrüßen, was man sich an den Orten Nützliches dazu ausdenkt. […]
Aber natürlich ist es unmöglich, diese Aufgabe einzig allein nur am Ort zu lösen. Mir scheint, dass es außer jeglichem Zweifel steht, dass wir ohne administrative Maßnahmen nicht auskommen werden und dass wir wohl auch erschießen müssen. Die erste Kategorie: erschießen. Die zweite Kategorie: aussiedeln. Ich muss anmerken, dass es einen Beschluss des heute so schweigsamen Nordkaukasus gibt. Sie haben uns um Erlaubnis gebeten, zwanzigtausend Kulaken auszusiedeln. Dieser Vorschlag verdient Aufmerksamkeit. Für den Anfang ist das schon mal was. Wir können ja wahrscheinlich nicht alles auf einmal machen. Hier muss man noch die Frage entscheiden, wohin wir sie aussiedeln, wie viele und an welche Orte … Aber es ist offensichtlich, dass wir gezwungen sind, ordentliche Repressionsmaßnahmen anzuwenden.
Um die Aussiedlung einer ordentlichen Anzahl von Personen an die unterschiedlichsten Ecken kommen wir nicht herum. Wo sollen wir sie hinschicken? In Konzentrationslager, und wenn sie bei Ejche sind, dann zu Ejche. Wir müssen uns überlegen, zu welchen Arbeiten wir sie verschicken, vielleicht zur Holzbeschaffung, vielleicht kann man sie in unberührte Gebiete schicken, um Neuland urbar zu machen. Vielleicht müssen wir aber auch Sowchosen mit den Kulaken organisieren. Macht ja nichts, stellen wir ein paar Kommunisten an die Spitze der Sowchosen und dann werden sie arbeiten. Das können wir nicht ausschließen. Alle siedelst du nicht aus.
Hier müssen wir auch um das Dorf herum noch etwas bewegen. Hier muss man die Familien zersetzen, politisch zersetzen. Da wird es diesen Frühling einen wütenden Kampf geben. Wer das bis jetzt noch nicht kapiert hat, der wird es dann spätestens an seiner eigenen Haut spüren …“
Auszüge aus einer Rede Molotows vor einer Versammlung von Parteichefs der Republiken und Gebiete der Sowjetunion
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